Mein Allerweltsgesicht wird erkannt

Beauty Academy und Mystic Food. Im Büro googelte ich die beiden Firmen. Sie gehörten zu den besten ihrer jeweiligen Branche.

Die Liste mit den Namen der Leute, die am Samstag Dienst gehabt hatten, kam am frühen Nachmittag per E-Mail. Die Make-up-Firma hatte drei Visagisten geschickt, für jedes Jurymitglied einen, zwei Friseure und einen Schichtleiter. Den rief ich an und erfuhr, dass die Beauty Academy bei WSDS ausschließlich Männer im Einsatz hatte.

Schwieriger gestaltete sich die Recherche bei Mystic Food. Legionen von Kellnerinnen und mehrere Köche waren zur Castingshow abgeordnet worden, viele noch nicht mal fest angestellt, sondern Aushilfskräfte. Ich zählte durch. Insgesamt dreißig Menschen hatten sich um das leibliche Wohl der Jury, des Teams, der Medienvertreter und der Kandidaten gekümmert. Fleißarbeit – ich komme!

Zunächst sortierte ich die Männer aus: Zwei Köche und einen Kellner. Blieben genügend übrig. Ich fand auch hier den Namen der Schichtleitung und wählte die Nummer der Firma.

Undeutlich stellte ich mich vor und fragte: »Kann ich Frau Stickel sprechen, bitte?«

Ich erfuhr, dass sie freihatte.

»Können Sie mir ihre Adresse geben? Oder eine Telefonnummer?«

»Adressen und Telefonnummern geben wir nicht heraus«, widersetzte sich die Telefontante. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Paketdienst, Frischelieferung. Es gibt ein paar Unklarheiten bei einer Bestellung und das Zeug muss schnellstens raus, sonst kommen diese kleinen weißen Würmer, genannt Maden, und …«

»Igitt, hören Sie auf!« Sie gab mir Adresse und Telefonnummer. »Aber von mir haben Sie das nicht. Die reißt mir sonst wieder den Kopf ab!«

 

Annabell Stickel. Eine Frau, die ihren Kolleginnen gern mal den Kopf abreißt. Der kann ich mit der Nummer von der lieben Pressedame nicht kommen, dachte ich, die pariert bestimmt nur, wenn die Staatsmacht persönlich anrollt. Sollte ich? Nein, lieber nicht.

Bevor ich Kleist näher kennengelernt hatte, hatte ich gern mal die Rolle einer Kriminalbeamtin gemimt: Mit strenger Miene meinen Presseausweis so gezückt, dass er nicht richtig zu erkennen war, und dabei knappe, harte Fragen rausgefeuert. Oft hatte es geklappt und ich hatte die Informationen bekommen, die ich haben wollte. Jetzt machte ich das nicht mehr – zu anstrengend und ich hatte keine Lust, ein Verfahren wegen Amtsanmaßung an den Hals zu bekommen und dem leitenden Hauptkommissar der Kripo Rede und Antwort stehen zu müssen. Du wirst alt und seriös, Grappa, dachte ich.

Ich setzte mich ins Auto, um Frau Stickel wenigstens zu Gesicht zu bekommen. Ob eine Ansprache möglich war, würde ich spontan entscheiden. Doch ganz ohne Begleiter wollte ich nicht gehen. Pöppelbaum war nicht erreichbar, was mich sehr wunderte. Ich sprach auf die Mailbox. Also doch erst mal allein. Meine Digitalkamera lag schussbereit in der Handtasche.

Ich quälte mich durch die Innenstadt. Die Hitze stand zwischen den Häusern. Die Luft flimmerte.

Frau Stickels Wohnung befand sich in einer Seitenstraße der Fußgängerzone. Ich parkte halbwegs legal. Das Haus beherbergte vier Familien. Ich überprüfte die Namensschilder neben den Klingelknöpfen. A. Stickel und R. Fuchs. Robert Fuchs? Nein, so ein Blödsinn. Fuchs war kein seltener Name.

Ich hörte Schritte hinter der Tür, wich zurück und drehte mich zur Seite. Eine Frau trat aus dem Haus. Ich erkannte sie sofort.

Sie war die dünne Frau, die auf Monika Webers’ Beerdigung neben Robert Fuchs gesessen und so bitterlich geweint hatte.

Ich rannte hinter ihr her. »Frau Stickel!«, rief ich. »Bitte warten Sie!«

Sie drehte sich um, überlegte wohl, wo sie mein Gesicht einordnen konnte.

»Wir haben uns beim Casting gesehen«, half ich ihr. »WSDS am Samstag. Sie haben das Catering organisiert.«

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Gute Frage. Ich entschied mich für die halbe Wahrheit. »Grappa vom Tageblatt. Ich arbeite an einer Hintergrundreportage über die Entführung von Pitt Brett. Wie haben Sie die Aktion erlebt?«

»Was ich zu sagen hatte, habe ich der Polizei gesagt. Ist sonst noch was?«

»Bitte keine Aufregung. Es geht um die sogenannten weichen Fakten«, sülzte ich. »Was hat die Jury zu Mittag gegessen? Hatte Herr Brett besondere Wünsche? Hat er die Dekoration mitgegessen oder liegen lassen?«

Annabell Stickel sah mich immer noch misstrauisch an. »So ein Quatsch. Ich verstehe nicht, was diese Fragerei soll. Ich bin von der Polizei vernommen worden und gut ist. Es ist bedauerlich, dass Herr Brett entführt wurde, aber was hab ich mit der Sache zu tun?«

»Vielleicht sind Sie eine wichtige Zeugin. Waren Sie während der Entführung im Saal?«

»Nein. Ich war in der Küche. Ich habe von dem Vorfall nichts mitbekommen.«

Sollte ich den karierten Rock an der Tür erwähnen? Lieber nicht, dachte ich. Er war eine Spur, die sonst niemandem aufgefallen war.

»Danke, dass Sie Zeit für mich hatten«, trat ich den Rückzug an. »Einen schönen Abend noch, Frau Stickel.«

»Ich habe Sie schon mal gesehen.«

»Ich weiß, vorgestern beim Casting.«

»Nein. Das war woanders.«

Sie grübelte wieder.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich an mich und meine Artikel über die Sekte und den Fall Monika Weber und an mein Auftauchen bei der Beerdigung erinnerte.

»Ich habe ein Allerweltsgesicht«, behauptete ich. »Viele glauben, mich schon einmal gesehen zu haben. Das begegnet mir immer wieder.«

 

Kleist hatte sein Büro schon verlassen, teilte mir seine Sekretärin mit. Ich befand mich in der Nähe seiner Wohnung. Ich hatte Lust auf einen Überraschungsbesuch. Ganz wohl war mir allerdings nicht dabei, bisher hatte ich mich immer bei ihm angekündigt.

Es war nach zwanzig Uhr. Ich dachte nicht weiter nach, was ich tun sollte, sondern tat es. Auto parken, aussteigen, zum Haus gehen, klingeln und warten. Eine Sprechanlage gab es nicht. Kleist musste die Tür also aufdrücken oder es lassen. Ich stellte mich so, dass ich vom Fenster aus nicht gesehen werden konnte. Die Tür wurde entsperrt, ich schob sie auf und nahm die Treppe nach oben.

Clara stand im Flur – das Blondhaar zerzaust und den Körper nur in ein Badetuch gewickelt. Aus der Wohnung tönte leise Schmusemusik.

»Guten Abend«, sagte ich. »Ist Dr. Kleist zu sprechen?«

»Moment, Frau Grappa«, zirpte sie. »Ich frag mal eben.«

Sie drehte mir den Rücken zu, tänzelte zum Bad und öffnete die Tür einen Spalt. »Friedel! Du hast Besuch. Die liebe Frau Grappa. Zieh dir doch kurz was an.«

Das war zu viel. Ich stürzte die Treppe hinunter, wäre fast gefallen und lief auf die Straße. Schnell ins Auto, mich außer Sichtweite begeben und erst einmal durchatmen. Tränen der Wut und Enttäuschung liefen mir übers Gesicht. Hatte er sich doch mit der blonden Schlampe eingelassen!

Das war es dann wohl, dachte ich. Wir hatten uns zum Glück nie nah genug gestanden, als dass mich diese Nummer umwerfen könnte. Der Herzschmerz, der mich die nächsten Stunden fast umzubringen drohte, würde nur von kurzer Dauer sein – hoffte ich. Ich durfte nur nicht dagegen ankämpfen.

 

Männer waren so scheiße und Alkohol schon wieder eine Lösung. Ich grub ein Zitatbüchlein heraus, das von einer Urgestein-Feministin herausgegeben worden war, setzte mich gemütlich aufs Sofa, trank eine Flasche Wein und ergötzte mich an Sätzen wie: In jedem Mann steckt etwas Gutes – und wenn es nur ein Küchenmesser ist.