Nur keine Pressestelle

»Sag mal, neigst du zum Schlafwandeln?«, fragte Friedemann Kleist beim Frühstück.

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete ich und schnitt den Pavé d’Affinois an.

»Du wolltest aufstehen und deinen Namen tanzen«, grinste er.

»Bitte?« Ich ließ die Kaffeetasse sinken. »Ich habe noch nie meinen Namen getanzt! Ich weiß gar nicht, wie das geht. Hab ich denn Maria oder Grappa getanzt?«

»Weder noch. Ich konnte es grad noch verhindern. Ich hab dich nicht aus dem Bett gelassen.« Seelenruhig mümmelte Bierstadts Chefermittler sein Brötchen.

»Du hast mich festgehalten? Ich kann mich an nichts erinnern«, meinte ich verwirrt. »Und warum wollte ich meinen Namen tanzen?«

»Das hab ich dich auch gefragt.«

»So ein Blödsinn.«

»Mir klang es halb reflektiert.«

»Und? Nun lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Dein neuer Chef habe dir befohlen, deinen Namen zu tanzen. Das bekam ich zur Antwort. Dieser Mann scheint dir auf der Seele zu liegen.«

»Ich hab gleich ein Gespräch mit ihm«, erklärte ich. »Er hat Änderungen angekündigt. Das hatte ich wohl alles im Kopf heute Nacht. Er will das Tageblatt zu einer bräsigen Familienzeitung machen.«

»Das heißt?«

»Weniger Polizeireportagen«, antwortete ich. »Mehr regionale Kultur, Brauchtum, Heimatgefühl.«

»Und das gefällt dir nicht«, nickte Kleist.

»So ist es. Es kann sein, dass er mein Ressort wegrationalisiert.«

Mein Lebensabschnittspartner fixierte mich. »Das wäre schlimm«, sagte er dann.

»Wird schon nicht so arg werden«, versuchte ich selbst, mir Mut zuzureden. »Gemordet wird immer, betrogen, gelogen und bestochen auch. Das kann keine Zeitung den Lesern vorenthalten. Dass ich das dann schreibe, dafür sorge ich schon.«

»Genau.« Kleist erhob sich und räumte das Geschirr in die Maschine. »Und wenn es ganz schlimm kommt, dann komm zu uns in die Polizeipressestelle. Ein Kollege geht bald in Pension.«

»Herzlichen Dank!«, schnaubte ich. »Warum will mich plötzlich jeder in eine langweilige Pressestelle abschieben? Wenn du so weitermachst, tanze ich gleich deinen Namen. Ich glaube nicht, dass du das sehen willst. Immerhin hat Friedemann zehn Buchstaben.«

 

Schnack hatte Jansens Möbel entsorgt und sich neu eingerichtet. Alles sah sehr edel aus. Mahagonischränke bis unter die Decke, ein futuristischer Schreibtisch, die Promotionsurkunde im Goldrahmen an der Wand, daneben Pokale. Ich tippte auf Golf. Vervollständigt wurde das Ambiente durch eine kleine Galerie von Daumier-Repliken.

»Setzen Sie sich bitte, Frau Grappa.« Schnack deutete auf den Freischwinger vor dem Schreibtisch. Ich schätzte die Distanz zwischen uns auf einen Meter fünfzig.

»Kaffee?«

Ich nickte. Das Gebräu aus der metallicschwarzen Thermoskanne schmeckte abgestanden.

»Ich möchte einiges ändern«, begann er. »Ich habe es ja gestern bereits angedeutet. Das Tageblatt ist thematisch in die Jahre gekommen – und mit ihm die Mitarbeiter, die die Inhalte geprägt haben.«

»Dazu gehöre auch ich«, stimmte ich zu. »Was wollen Sie dagegen tun? Alle über fünfzig erschießen?«

»Aber, aber, Frau Grappa!« Schnack hüstelte. »Man hat mir ja schon einiges über Ihren … so ganz eigenen, rustikalen Humor erzählt. Lassen Sie uns reden – wie vernünftige Menschen es zu tun pflegen.«

»Einverstanden!« Ich schenkte ihm mein süßestes Lächeln. »Wie alt sind Sie eigentlich? Mitte fünfzig? Oder älter?«

Schnack schluckte. »Sie missverstehen mich völlig. Stellen Sie sich unsere Zeitung als kulturelles Unternehmen vor. Ähnlich wie ein Schauspielhaus. Wenn an einem Theater ein neuer Direktor anfängt, ändert er das Programm und bringt eigene Schauspieler mit. So weit gehen wir natürlich nicht. Aber gewisse Reformen müssen sein.«

»Die Zeitung als moralische Anstalt? Kommt das nicht ein bisschen zu spät? Schiller hat eine solche Wandlung in Bezug auf das Theater versucht, aber gelungen scheint das nicht zu sein. Sonst hätte ich in den letzten Jahrzehnten keine Themen gehabt.«

Er runzelte die Stirn. »Wenn wir die bedauerlichen Ereignisse, die oft unsere Gerichte beschäftigen, unnötig breittreten, geben wir ihnen zu viel Raum, Frau Grappa.«

»Was wollen Sie mir sagen?« Ich hatte keine Lust mehr auf Geschwätz.

»Sie sind eine gute Reporterin. Beherrschen Ihr Handwerk. Sind schnell und mutig. Auf all diese Eigenschaften möchte ich nicht gern verzichten.«

Er machte eine Pause, strich sich über sein Menjoubärtchen und sah mich mit wässrigblauen Augen an. Er wollte mir wohl Gelegenheit geben, mich für diese Lobhudelei zu bedanken.

»Versuchen Sie doch einfach mal, Ihren Themenkreis zu erweitern. Es geschieht auch abseits von Blut und Sperma viel Spannendes in Bierstadt.«

»Das Spannendste hab ich mir doch schon ausgesucht: die Verbrechen. Und dabei bleibe ich auch.«

Schnack lachte. »Man hat wirklich nicht untertrieben, als man mir Ihre Hartnäckigkeit beschrieben hat.«

 

Eine halbe Stunde später saßen wir alle in der Redaktionskonferenz. Die Regularien wurden besprochen, Themen gesucht und die Termine verteilt.

Ich schlug vor, eine Reportage über die Kirche der Erleuchteten zu machen, die ihre Opfer seit Tagen gegenüber dem Verlagshaus suchte. Auch die Fast-Entführung erwähnte ich. »Vielleicht komme ich ja an den Vater der Frau heran. Der hat bestimmt einiges zu erzählen über diese Sekte.«

»Über diese Kirche ist in überregionalen Zeitungen sehr viel geschrieben worden«, meinte Schnack. »Das ist wohl kaum zu toppen. Insiderberichte, Aussteigerschicksale – das volle Programm. Dem wollen wir doch nicht hinterherlaufen, liebe Kollegin.«

»Ist das ein Nein?«, fragte ich.

»Was denn sonst?«, schnippte Margarete Wurbel-Simonis.

»Danke, dass Sie meine Worte erklären.« Schnack lächelte sie an, aber sein Blick war eisig. »Ich habe eine andere Idee, Frau Grappa. Einer der Privatsender wird in Bierstadt ein großes Casting mit sage und schreibe dreitausend Kandidaten ausrichten. Für die Show Wir suchen dich, Superstar!, abgekürzt WSDS. Ich stelle mir eine Begleitreportage vor. Die Logistik dieser Schau von Anfang bis Ende, Vorbereitungen, Kandidateninterviews, Homestorys über die Jurymitglieder und so weiter. Das ganz große Wohlfühlprogramm für unsere Leserinnen und Leser.«

»WSDS?«, stieß ich verdattert hervor. »Ich hab diese Show nie gesehen.«

»Das macht nichts, Frau Grappa. Es gehört doch zur Journalistentugend, sich ganz schnell in neue Themen einzuarbeiten. Die bisherigen Sendungen kann man im Web finden. Man nennt das Vidcast. Sehen Sie sich das mal an! Außerdem ist die Sendung relativ simpel strukturiert: Junge Menschen, die glauben, dass sie singen können, stellen sich einer Jury.«

»Vollprolls«, urteilte Harras. »Vorbestrafte langzeitarbeitslose junge Menschen, die keinen Bock auf eine Ausbildung haben.«

»Das Prekariat hat dieser Sendung und dem Sender erhebliche Marktanteile verschafft, Kollege Harras.« Schnack räusperte sich. »Und es wird unserem Blatt eine Auflagensteigerung bescheren. Die Kollegen von der Anzeigenabteilung sind schon voller Engagement bei der Akquise.« Zu mir gewandt setzte er hinzu: »Also, Frau Grappa, ich zähle auf Sie. Das erste Casting ist in ein paar Tagen. Bis dahin sind Sie im Stoff!«

 

Schnacks verlogene Art war mir auf den Magen geschlagen. Ich verkniff mir den Becher Kaffee, den ich mir nach der Konferenz zu holen pflegte, und verzog mich in meine Einzelzelle, um meine Wunden zu lecken.

Vielleicht war die Pressestelle der Stadt doch eine Alternative. Irgendwann. Aber jetzt noch nicht. Ich würde mich erst mal durchboxen.

Schnack war schlau, denn gegen das Casting-Thema war nicht wirklich etwas zu sagen. Ein aufsehenerregendes Verbrechen war nicht geschehen. Ich konnte ja schlecht eine Anzeige schalten, in der ich die Mörder, Betrüger und Räuber der Umgebung zu erhöhten Aktivitäten aufforderte, um mir meinen Job als Polizeireporterin zu retten.