Ein Zuhause für Träume und Tränen

Vor der Westfalenhalle drängte sich ein Ü-Wagen an den anderen. Jeder wollte dabei sein, wenn der wiederauferstandene Pitt Brett Möchtegernsänger in die Wüste schickte. Der Sender hatte unter Hinweis auf die Entführung den aufgezeichneten ersten Teil des Castings bereits am Nachmittag ausgestrahlt und angekündigt, dass der zweite Teil abends live übertragen werden sollte.

Für die Show war ein Pressezentrum eingerichtet worden. Dort hatten sich zahlreiche Kollegen versammelt. Das Live-Casting würde über einen riesigen Monitor hierher übertragen werden.

Ich war sauer, denn mit der Freizügigkeit war es vorbei. Vor einer Woche noch hatte ich mich ungehindert im VIP-Bereich bewegen können, doch heute musste ich wie alle Journalisten in diesem Raum bleiben.

»Was soll ich hier fotografieren?«, maulte Wayne. »Die Kollegen von der Konkurrenz?«

»Warte es ab. War doch klar, dass heute Großkampftag für die Sicherheitsleute ist.«

»Ich will hier raus.«

»Dann viel Erfolg«, meinte ich. »Warst du schon mal vor der Tür und hast dir die netten Jungs angeschaut, die uns bewachen?«

Draußen befanden sich bullige Kerle von einer Securityfirma, gegen die Inkasso Moskau ein Tanzstundenunternehmen war.

»Ich bleib doch lieber hier«, winkte Wayne frustriert ab.

Die Sendung begann. Der Jingle lief und schon richteten sich die Kameras auf die Jury. Eine Stimme aus dem Off nannte die Namen: »… und auch wieder bei uns: Pitt Brett, der Pop-Titan! Drei Tage lang in der Hand von Verbrechern und nun wieder auf der Showbühne: Brett, Brett, Brett …«

Das Publikum stimmte ein: »Brett, Brett, Brett …«

Applaus brandete auf. Brett erhob sich, winkte wie ein amerikanischer Präsident und grinste über alle Backen.

Mit einer Geste dämpfte er den Applaus. »Ihr habt mich wieder!«, rief er. »Ihr, mein treues Publikum, und auch ihr, meine Kandidaten. Ich will weiterhin euren Träumen und Tränen ein Zuhause geben!«

Tosender Beifall. Und schon folgte die erste Werbestrecke. Asiatischer Magentee, Bier aus dem Sauerland, deutsche Würstchen, Steinofenpizza und Speed-Dating.

Der erste Kandidat. Glasbausteine vor den Augen, eine Jeans mit Löchern und ein Hüftschwung wie der selige Michael Jackson.

»Hallo, ich bin der Dennis aus Karlsruhe. Ich singe von Xaver Nadann Dieser Tag.«

»Wie lange singst du schon?«, lächelte Brett.

»Seit sechs Wochen.«

»Und was machst du sonst so?«

»Ich habe einen Job in einem Garten-Center.«

Brett lächelte verschmitzt – vermutlich befand er sich im Landeanflug auf den ersten Hammerspruch.

»Wie wundervoll«, sagte der Juror dann freundlich. »Blumen sind so etwas Zartes und Sanftes.«

Wayne und ich schauten uns an. Irgendetwas lief schief.

Auch Dennis aus Karlsruhe war verunsichert. »Soll ich jetzt singen?«, fragte er.

»Ja, mach mal.«

 

Dieser Tag wird kein heller sein, / dieser Tag wird kurz und leer. / Du wirst meine Liebe sein / denn nur Freundschaft ist mir zu schwer …

 

»So ein schwachsinniger Text«, meinte ich. »Und der singt wie eine rostige Nähmaschine! Brett macht den gleich alle.«

»Aber er lächelt so selig«, wunderte sich Pöppelbaum. »Guck mal!«

Tatsächlich. Der Pop-Titan schien vom Gesang des Kandidaten angetan.

»Du singst das besser als Xaver Nadann.« Brett hielt den Recall-Zettel hoch. »Du hast ein Ja. Auch von den anderen, oder?«

Er schaute seine beiden Mitjuroren an. Elizabetha Lazeira und Danny Forehead wirkten wie vom Donner gerührt, widersprachen aber nicht.

Dennis aus Karlsruhe grapschte nach dem Zettel, der ihn eine Runde weiterbrachte, und verschwand jubelnd aus dem Raum.

Im Pressezentrum wurde es unruhig.

»Ich brech zusammen. Brett hat Kreide gefressen.«

»Oder er erlaubt sich einen Superspaß«, warf Wayne ein. »Das Publikum jedenfalls weiß noch nicht, was es davon halten soll.«

Pfiffe und Applaus hielten sich die Waage.

Brett sprang von seinem Jurysessel auf. »Jeder Mensch hat eine unsterbliche Seele, die sich nach Befreiung sehnt«, rief er. »Befreit eure Seelen und ihr werdet glücklich sein!«

Das Bild auf dem Monitor wackelte und fiel ins Schwarze. Neue Werbeeinblendung. Versicherung mit Herz, Supersanfte Tampons, Kalktabletten für die Waschmaschine und Saugwunder, die Küchenrolle, die alles schluckt.

Die Show ging weiter. Die nächste Sängerin war dunkelhäutig und ging bauchfrei.

»Ich heiße Samira und sing einen Song von Whitney Houston. One moment in time.«

»Das ist ein sehr schwieriges Lied«, stellte Pitt Brett fest. »Aber du kannst das bestimmt gut. Dann fang mal an, Kleine.«

 

Itsch dei Ei lif / Ei wonnt tu bi, / e day tu giff / se best off mi, / Eim only wan / bat not älon, / mei feinest dey / iss jet announ, / Ei brok mei hart / for evry gain, / tu täst se swiet / Ei faist se peyn, / Ei reis änt foll / jet sru it oll, / sis matsch rimäins, / Ei wont wan moment in teim …

 

Wayne griff sich an den Kopf. »Ich glaub, die Maus hat größere Probleme als das Singen. Und bewegen kann sie sich auch nicht. Was machen wir eigentlich hier, Grappa-Baby?«

»Das frag ich mich auch«, seufzte ich.

Die Jury hatte das Wort. Diesmal hatte Elizabetha Lazeira die erste Beurteilung abzugeben.

»Das war nicht gut. Du kannst nicht singen und nicht performen. Dein Englisch ist grauenhaft. Von mir hast du ein klares Nein.«

Danny Forehead schloss sich an. »Das war nichts. Such dir lieber einen anderen Beruf. Eine Sängerin wirst du nie. Von mir auch ein Nein.«

Die Kameras schwenkten zu Brett. Der hatte den Kopf in die Hände gestützt.

»Ich liebe diesen Song«, säuselte der Pop-Titan. »Und ich habe ihn niemals besser gehört. Whitney Houston ist eine alte, drogensüchtige Krähe gegen dich. Für mich bist du weiter.«

Er reichte der Kandidatin den Recall-Zettel.

Rumms. Schwarzbild. Lauftext: Bild- und Tonstörung – Unsere Techniker arbeiten fieberhaft an der Behebung des Problems.

»Na, also«, meinte ich zufrieden. »Da haben wir ja unseren Skandal. Der Pop-Titan ist weich gespült. Möchte wirklich wissen, wer hinter diesem Coup steckt.«

Im Pressezentrum steppte der Bär. Die Kollegen stürzten nach draußen, um ihre Berichte abzusetzen.

Jessica von Neuenfels kam angelaufen. »Die Sendung wird abgebrochen. Herr Brett ist auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Freiwillig?«, fragte ich.

»Natürlich. Er hat eingesehen, dass er nicht ganz bei sich ist. Und Hilfe braucht.«

»Ich fand es sehr erfrischend«, grinste ich. »Herr Brett hat seine weiblich-sanfte Seite gezeigt. Sehr mutig von ihm.«

»Das werden unsere Werbepartner anders sehen«, schnappte Jessica von Neuenfels. »Die E-Mails gehen im Sekundentakt ein.«