Der neue Chef will’s gemütlich

Seit einer Woche belagerten diese Leute jetzt schon das Verlagshaus. Aufgetaucht waren sie ganz plötzlich. Meist bildeten sie eine Dreiergruppe. Sie sprachen Passanten an, reichten ihnen Flugblätter und versuchten, sie in eine Diskussion zu verwickeln. Es war kaum möglich, ihnen auszuweichen. Vor zwei Tagen hatte ich mir ein Flugblatt zustecken lassen, um meine Ruhe zu haben.

»Die kommen von irgendeiner Sekte«, klärte mich Simon Harras auf. Er war hinter mich getreten und blickte jetzt ebenfalls durch das Redaktionsfenster nach unten auf die Straße.

»Ich weiß«, entgegnete ich. »Sie nennen sich Die Erleuchteten oder so ähnlich.«

»Ein bisschen Erleuchtung hat noch niemandem geschadet«, stellte er fest. »Besonders heute!«

»Ich wünschte, der Tag wäre schon vorüber. Ich kann mir diesen Job ohne Peter nicht vorstellen.«

»Sei nicht so depri, Grappa. Wird schon nicht so schlimm werden«, tröstete der Sportreporter. »Der Neue kocht auch nur mit Wasser.«

Ich blickte Simon zweifelnd an. »Dir kann ja nicht viel passieren, Sportfuzzi. Auf Fußball und Autorennen stehen die Leute immer. Bei mir sieht das anders aus!«

»Genau! Unsere Leser bestimmen den Inhalt der Zeitung. Und die stehen nun mal auf Blut, Sperma und Verbrechen. Und das sind doch deine Spezialitäten.«

»Das ist ja ganz was Neues, dass die Leser die Inhalte in privatwirtschaftlich organisierten Presseorganen bestimmen«, hielt ich dagegen. »Ich hätte da eher auf die Anzeigenkunden, die Industrie- und Handelskammer oder die SPD-Spitze getippt.«

»Grappa, mach dich locker!« Harras haute mir eine Hand auf die Schulter. »Du bist hier nicht auf einem Gewerkschaftskongress und bisher hast du dich noch immer gut gewehrt.«

Inzwischen hatte sich das Großraumbüro gefüllt. Die Sekretärinnen Susi, Stella und Sarah waren erheblich aufgerüscht. Kostümchen, frische Locken, lackierte Nägel und höhere Schuhabsätze als üblich.

»Wow!«, entfuhr es Harras. »Alles für den neuen Chef, Mädels?«

»Eine von uns könnte seine Chefsekretärin werden«, erklärte Susi. »Die interne Stellenausschreibung hängt schon aus.«

»Genau«, nickte Stella. »Bewerbungsschluss war letzten Freitag. Und wir drei sind die einzigen Bewerberinnen. Das hat mir eine Freundin aus der Personalabteilung gesteckt.«

Simon wanderte um die drei Grazien herum und musterte sie unverhohlen. »Also, ich wüsste jedenfalls nicht, welche von euch Süßen mir den Kaffee bringen sollte«, schleimte er dann. »Ich hätte da wirklich ein Entscheidungsproblem.«

»Deshalb wirst du auch nie Chef«, warf ich ein.

»Ich erfülle jedenfalls alle verlangten Kriterien«, erklärte Sarah.

»Wir etwa nicht?«, kam es einstimmig von Susi und Stella.

»Na ja«, lächelte Sarah süffisant. »Ich kann zum Beispiel Englisch … Könnt ihr das auch?«

Susi und Stella verzogen ihre Münder. »Ja, ja. Du und dein Englisch. So super ist das gar nicht nach nur einem kleinen VHS-Kurs«, meinte Susi verächtlich. »Letzte Woche stand doch auf der Mittagskarte Brathering … ein ganz einfacher deutscher gebratener Hering mit Kartoffelsalat. Und was machst du?«

»Du hast Brässering bestellt«, übernahm Stella die Antwort. »Die Kantinenfrau hat nur Bahnhof verstanden. So viel zum Thema: Sarah kann Englisch.«

»Möge die Beste von euch gewinnen«, wünschte ich. »Und jetzt wollen wir das Objekt eurer Begierde kennenlernen. Kommt ihr?«

 

Volles Haus. Sogar auf den Fensterbänken des Konferenzraumes hatten sich die Mitarbeiter des Verlages platziert, um die Inthronisierung des neuen Chefredakteurs mitzuerleben.

Das war er also. Mein neuer Chef. Er saß neben Peter Jansen und war für mich das einzige unbekannte Gesicht im Raum. Ein perfekt gekleideter schlanker Mann mit dunklem Menjoubärtchen und weißem, dichtem Haar. Vermutlich etwas älter als ich. Peter Jansen trug zur Feier des Tages seiner Verabschiedung ein Hemd statt des üblichen T-Shirts.

Ich spürte einen Stich. Über zwanzig Jahre lang hatten er und ich zusammengearbeitet und mehr als einmal hatte er mich aus Situationen gerettet, die mich meinen Job hätten kosten können. Ein solches Vertrauen würde ich nie wieder zu einem Kollegen aufbauen können.

»Das ist Dr. Berthold Schnack, mein Nachfolger«, erklärte Jansen. »Ich hoffe, Sie alle werden ihm das Wohlwollen entgegenbringen, das Sie mir geschenkt haben.«

Der Neue hüstelte und lächelte in die Runde. Dann sprach er, aber ich ließ die Worte an mir vorbeirauschen, ohne auf den Inhalt zu achten. Schnack hatte eine einschläfernde Stimme.

»Ach, du Schreck«, flüsterte Harras.

»Was?«

Jetzt hörte ich hin. Schnack erwähnte seine beruflichen Stationen. Pressestelle eines Krankenhausträgers, Chefredaktion einer christlich orientierten Wochenzeitung, Fraktionssprecher im Landtag.

»Ich freue mich auf die neue Aufgabe«, behauptete er. »Und darauf, das Bierstädter Tageblatt wieder zu einer familienfreundlichen und bürgerlichen Zeitung zu machen, die man auch auf dem Tisch liegen lassen kann, wenn Kinder im Haus sind.«

Jansen bekam einen leeren Blick. Das war herbe Kritik an ihm. Schließlich hatte er in den letzten zwanzig Jahren die Tendenz der Zeitung geprägt.

»Also lieber eine Blaulichtgeschichte weniger und einen Bericht über eine Eltern-Kind-Freizeit mehr«, erläuterte Schnack. »Der Geschmack hat sich in den letzten Jahren geändert. Weg von Krawall und Stress, hin zu einer neuen Innerlichkeit und Gemütlichkeit. Die Menschen sollen sich beim Lesen unserer Zeitung aufgehoben fühlen. Sehnsucht Familie – als neues Stichwort. Das Tageblatt muss seinen Weg zur Heimatzeitung neu definieren. Auch die örtliche Kultur könnte etwas mehr Aufmerksamkeit vertragen. Wir haben schließlich einen Bildungsauftrag.«

Margarete Wurbel-Simonis nickte unmerklich und warf mir einen triumphierenden Blick zu.

Freu dich nicht zu früh, dachte ich grimmig.

Schnack philosophierte über die Leser-Blatt-Bindung, neue Serien, die seiner Meinung nach noch nie geschrieben worden waren, die Straffung der Redaktionslogistik und Nachwuchsförderung. Die Sätze rauschten erneut an mir vorbei. Ich dachte nur eins: Die Ära Jansen ist zu Ende.