Ein Sekretär mit Geheimfach

»Du hast Besuch, Grappa«, überraschte mich Stella, als ich wieder in der Redaktion war. »Ich hab ihn in die Kantine geschickt.«

»Wer ist es denn?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte die Schultern.

»Ist es denn zu viel verlangt, dass du dir einmal in der Woche einen Namen merken musst?«, fragte ich verärgert.

»Wieso sollte ich?«

»Weil eine gute Sekretärin das so macht«, erklärte ich. »Jetzt weißt du auch, warum du nie Chefsekretärin wirst. Wonderbra, hohe Hacken und Girlie-Getue reichen eben nicht.«

»Was ist denn los? Warum bist du so geladen?« Stella war fassungslos.

Ich ließ sie stehen und ging in die Kantine. An einem Tisch saß Arnold Weber.

»Herr Weber!«, sagte ich. »Das ist aber eine Überraschung. Geht es Ihnen einigermaßen?«

Er wirkte unsicher und nervös. »Sie müssen mir helfen, Frau Grappa«, stieß er hervor.

»Warum eigentlich immer ich?«, wunderte ich mich.

»Sie haben das Herz am rechten Fleck, Frau Grappa, ich hab einfach ein riesiges Vertrauen zu Ihnen.«

»Wenn ich kann, helfe ich Ihnen gern. Was liegt an?« Ich setzte mich.

Weber sah schlecht aus. Seine Haut war grau, die Lippen aufgesprungen und er hatte sich einige Tage nicht rasiert.

»Ich war in Monikas Wohnung, um ihre Sachen durchzusehen. Die Polizei hat mir den Schlüssel überlassen. Ich hatte einige Kartons dabei. Die Möbel werden nächste Woche abgeholt. Ich räumte also alles in die Kartons. Badezeug, Kosmetika, Kleider, Handtücher, Geschirr, Bücher und so weiter. Dann wollte ich den Sekretär ausräumen. Das ist so ein altes Teil aus Familienbesitz. Weichholz mit Schnörkeln und vielen Fächern. Und einem Geheimfach.«

Weber machte eine Pause.

Ich verstand. »Was war in diesem Fach?«, fragte ich.

»Fotos und Briefe.« Er reichte mir eine Plastiktüte.

»Kennt die Polizei diese Sachen?«

»Ich glaube nicht. Sonst hätten sie Robert Fuchs längst verhaftet.«

»Warum? Der Mörder hat doch gestanden. Der Fall ist abgeschlossen. Morgen wird Monika beerdigt.«

»Ich glaube nicht, dass es dieser Bernd Bussmann war«, präzisierte Weber.

»Und was soll Fuchs getan haben?«

»Lesen Sie die Briefe. Und studieren Sie die Fotos. Dann wissen Sie mehr.«

 

Ich zog mich mit der Tüte in mein Büro zurück. Weber musste ziemlich durch den Wind sein. Warum sollte Bussmann gestehen und eine lebenslange Haftstrafe riskieren, wenn er unschuldig war?

Ich packte den Inhalt aus. Die Fotos zeigten Monika Weber. Oder ihre Schwester Bettina? Immer mit demselben Mann. Robert Fuchs.

Er hatte gelogen, als er mir erzählt hatte, Monika Weber nur flüchtig zu kennen. Wieso war Weber so sicher, dass die Frau auf den Fotos Monika und nicht Bettina war?

Viele Situationen, in denen die beiden fotografiert worden waren, strahlten Intimität aus. Händchenhalten im Café, Umarmungen in einem Park und mehrere Bettszenen, die durch ein Fenster geknipst worden waren: Robert Fuchs und Monika beim Sex.

Ich wandte mich den Briefen zu. Es waren insgesamt fünf. Auf den Umschlägen stand Monika Webers Adresse.

Ich überflog das Geschriebene. Der Unterzeichner war ein R., was auf Fuchs hindeutete. Ich hatte Liebesbriefe erwartet, wurde jedoch enttäuscht. Es ging hauptsächlich um Geld und darum, dass die Beziehung zwischen Fuchs und Monika vor den Mitgliedern der Kirche der Erleuchteten geheim gehalten werden müsse.

 

Wir müssen darüber schweigen, um den Weg zur völligen inneren Freiheit nicht ungangbar zu machen. Das Wichtigste ist: Mach Geld. Mach mehr Geld. Mach, dass andere Leute produzieren, um mehr Geld zu machen.

 

Den Briefen lagen noch lose Zettel bei, auf denen Sprüche Ronny Hovarts zu lesen waren – zum Beispiel dies:

 

Wenn ein Thetan merkt, dass sein Körper stirbt, muss er sich eine neue Hülle suchen. Die Übernahme geschieht in den meisten Fällen wenige Minuten nach der Geburt. Ein Thetan übernimmt einen Babykörper dann, wenn dieser seinen ersten Atemzug macht.

 

Gruselig und verwirrend. Ich dachte an Monika Webers Schwangerschaft. Sollte ihr Baby als Hülle für einen alternden Thetan dienen? Hatte Bernd Bussmann diese Pläne zunichte gemacht?

Ich rief im Polizeipräsidium an.

Kleist war in seinem Büro.

»Habt ihr eigentlich die Wohnung von Monika Weber durchsucht?«, fragte ich.

Lieber hätte ich gefragt, ob er die Nacht trotz Clara ungestört verbracht hatte.

»Ja, aber wir haben nichts Auffälliges gefunden.«

»Arnold Weber war bei mir. In Monikas Sekretär gibt es ein Geheimfach. Briefe und Fotos. Weber glaubt nicht, dass ihr den richtigen Mörder habt.«

»Und wer soll es seiner Meinung nach gewesen sein?«, fragte Kleist.

»Robert Fuchs.«

»Geht das aus den Briefen hervor?«

Ich verneinte. »Die beiden hatten aber eine Beziehung und Fuchs wollte das geheim halten. Das Kind könnte von ihm sein. Habt ihr die DNA des Fötus gesichert?«

»Ja, das ist Standard. Aber verglichen haben wir die Proben nicht. Warum sollten wir auch? Wir haben ein Geständnis«, erinnerte Kleist.

»Vielleicht wollte Monika auspacken und hat sich mit Fuchs angelegt. Und er hat sie erwürgt.«

»Und Bussmann zu einem Geständnis gebracht?« Kleist lachte. »Ich bewundere deine Fantasie, Maria.«

»Und wenn Monika tatsächlich von Fuchs schwanger war?«

»Auch dann«, meinte er. »Ein bisschen wenig Motiv für einen Mord, findest du nicht?«

Da musste ich ihm leider recht geben. Trotzdem scannte ich die Fotos und Briefe und sandte sie ihm.