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Beim Betreten des Großraumbüros bemerkte Lena das
kleine Päckchen auf ihrem Schreibtisch. Vor fünf Tagen hatte sie
ihren Partner verloren. Und fünf Tage waren eine zu kurze Zeit, um
zu vergessen. Immer wenn sie Novaks freien Platz ansah, geriet sie
ins Grübeln und musste sich mühsam zusammennehmen. Dass alle
bedrückt schwiegen und sich ihr übliches Gefrotzel verkniffen,
führte ihr den Verlust umso mehr vor Augen und machte alles nur
noch schlimmer.
Lena setzte sich und
öffnete das Päckchen. Eine Schachtel kam zum Vorschein. Als sie
erkannte, was es war, schob sie sie weg. Die Druckerei hatte
endlich die Visitenkarten geliefert. Nie mehr würde sie ihren Namen
und ihre Telefonnummer auf eine Blankokarte schreiben
müssen.
Wieder den falschen
Zeitpunkt erwischt. Ein Fehler, der nicht nur weh tat, sondern
außerdem 25,31 Dollar kostete.
Wortlos ging Lena
hinaus, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und spazierte zum
Blackbird Café. Ohne darauf zu achten, dass die Kellnerin sie
offenbar wiedererkannte, bezahlte sie ihren Kaffee und suchte sich
einen freien Tisch am anderen Ende des Raums.
Lena Gamble hatte
Romeo gestellt und den Wahnsinnigen erschossen.
So etwas hatte man in
der Chefetage gern. Es war eine Geschichte, die der neue
Polizeipräsident den Reportern zum Fraß vorwerfen und zusehen
konnte, wie sie sie gierig verschlangen. Als Lena sich am
Wochenende selbst im Fernsehen gesehen hatte – mit
blutverschmiertem Gesicht vor Fellows Haus, die Winchester noch
immer in der Hand -, hatte sie sich einen ordentlichen Drink gemixt
und den restlichen Nachmittag am Pool verbracht.
Die Erinnerung
verblasste. Lena nahm den Deckel vom Kaffeebecher und ließ sich vom
Dampf das Gesicht wärmen. Nach dem ersten Schluck schaute sie aus
dem Fenster. Das Panorama hätte besser auf die Venus gepasst als in
die Innenstadt von L. A. Die Waldbrände tobten immer noch und
bliesen Tonnen von Rauch in die Luft, der die Stadt in ständige
Dämmerung hüllte. Die Sonne war zwar zu sehen, leuchtete aber
dunkelrot und so schwächlich, dass man direkt hineinsehen konnte,
ohne die Augen zusammenzukneifen.
Immer noch erschöpft
von dem schrecklichen Erlebnis, trank Lena einen weiteren Schluck
Kaffee. Immer noch nicht in der Lage, die innere Unruhe
abzuschütteln. Immer noch gequält von Albträumen und
Schlaflosigkeit.
Am Wochenende hatte
sie ihre Berichte fertig geschrieben. Martin Fellows’ sterbliche
Überreste waren von Art Madina untersucht und er offiziell für tot
erklärt worden. Auch Burells fehlender Körperteil war gefunden und
– mit derselben Diagnose – untersucht worden. Harriet Wilsons
Zustand war zwar noch kritisch, doch ihre Ärzte waren wegen ihres
starken Überlebenswillens sehr zuversichtlich. Auch Rhodes hatte
großes Glück gehabt. Die Kugel hatte seine Lunge verfehlt.
Inzwischen war er aus dem Krankenhaus entlassen worden und erholte
sich zu Hause. Als Novaks Autopsiebericht aus der Gerichtsmedizin
kam, wurden die Papiere zusammen mit den schrecklichen Fotos, die
die Spurensicherung in Martin Fellows’ Kamera sichergestellt hatte,
in aller Stille abgeheftet.
Die letzten
Augenblicke ihres Partners waren für die Nachwelt festgehalten
worden. Aber bis auf Barrera hatte niemand den Mut gehabt, sie sich
anzusehen.
Lena schaute auf die
Uhr. Novak sollte am kommenden Vormittag beerdigt werden. In der
Chefetage hatte man eine weitere Rede für sie verfasst und ihr
befohlen, sie auswendig zu lernen. Der neue Polizeichef würde Lena
vorstellen und anschließend selbst ein paar Worte sprechen.
Allerdings wollte Novaks Exfrau heute Nachmittag eine inoffizielle
Trauerfeier abhalten. Einen Tribut an den Vater ihrer Kinder, der
in einer Stunde in einem Beerdigungsinstitut in Westside beginnen
sollte. Die ganze Abteilung würde kommen. Lena fragte sich, ob
Rhodes wohl auch da sein würde. Als sie am Wochenende seine
Zigarettenkippe aus dem Blumenkübel hatte holen wollen, hatte sie
unter den Blättern zwanzig weitere gefunden. Sie wusste nicht, was
sie davon halten sollte, und wollte mit ihm sprechen. Ihn in
Gegenwart vieler anderer Menschen zur Rede stellen. Hoffentlich
fühlte er sich wohl genug, um zu erscheinen.
Sie warf den
halbvollen Kaffeebecher in den Müll – Kaffee wirkte offenbar nicht
mehr – und ging zum Parkhaus. Auf der Fahrt nach Santa Monica
dachte sie an die vielen offenen Fragen und an die Beweise, die sie
gesammelt hatte. Die Kugel im Fensterladen vor dem
Schlafzimmerfenster und das Video mit den Blutspuren, das zeigte,
dass ihr Bruder zu Hause ermordet worden war. Sie kam zu dem
Schluss, dass alles auf den richtigen Zeitpunkt ankam. Sie musste
den geeigneten Augenblick finden, um sich Rhodes vorzuknöpfen und
ihre Beweise jemandem zu präsentieren, dem sie vertraute. Aber
wem?
Als sie im
Bestattungsinstitut ankam, hatte die Trauerfeier bereits begonnen.
Lena eilte den Flur entlang, öffnete die Tür, konnte aber zu ihrem
Erstaunen niemanden entdecken.
Es war kein Raum mit
Sitzreihen, sondern erinnerte eher an eine Filmkulisse, die ein
Basketballfeld darstellen sollte. Lena schloss die Tür und ging
weiter. Hinter der nächsten Tür verbarg sich wieder eine
Filmkulisse, diesmal in Gestalt eines Golfplatzes. Ein Mann, der
einen schwarzen Anzug trug, schob gerade einen Bronzesarg über den
Rasen neben eine Tasche mit Golfschlägern.
»Offenbar haben Sie
sich verlaufen«, stellte der Mann fest. »Und ich wette, Sie waren
noch nie hier.«
»Ich suche die
Familie Novak.«
»Eine Tür weiter«,
sagte der Mann lächelnd. »Er ist im Kapitänszimmer.«
Im
Kapitänszimmer.
Peinlich berührt
zuckte Lena zusammen, zwang sich aber zu einem Lächeln und ging zum
Ende des Flurs. Vor der Tür stand eine Staffelei mit Novaks Namen
auf einer Karte. Sie trat ein und fand in dem vollbesetzten Raum
einen Platz in der letzten Reihe.
Es war wieder eine
bizarre Filmkulisse, diesmal eine mit einem Ruderboot und einem
falschen Teich. Novak lag im offenen Sarg. Er trug seine
Angelkleidung und eine alte Baseballkappe mit dem Emblem der
Dodgers. Neben ihm im Sarg befanden sich sein Anglerkoffer und die
Angelrute. Anstelle von Musik erklangen Naturgeräusche, und Lena
konnte Enten quaken und Fliegen summen hören. Ein Pastor stand am
Rednerpult und sprach über den letzten Angelausflug. Er führe
irgendwohin in den Himmel, sagte er, und die Fische
bissen.
Lena betrachtete
Novaks Exfrau in der ersten Reihe und fragte sich, ob sie wohl
übergeschnappt war. Dann fiel ihr Blick auf die starre Gestalt
ihres Partners, die wie eine Puppe im Sarg zur Schau gestellt
wurde. Sie wünschte, sie hätte ihn nicht so gesehen. Noch ein Stück
Hölle, an das sie sich nicht erinnern wollte, das sie aber
vermutlich nie wieder vergessen würde.
Als sie sich
umdrehte, bemerkte sie einen Tisch mit Getränken und einen zweiten
mit Tacochips, Salsa, Burritos und Bohnenmus. Sie suchte mit
Blicken den Raum ab und erkannte Lieutenant Barrera in der zweiten
Reihe. Zwei Plätze weiter saß Rhodes.
Lena holte tief Luft.
Rhodes trug den linken Arm in der Schlinge, aber er war gekommen.
Lena starrte ihn an, bis der offizielle Teil zu Ende war und alle
zur Bar strömten. Ehe Lena aufstehen konnte, sah sie, dass Novaks
Tochter sie aus der ersten Reihe anblickte. Sie trug ein schwarzes
Kleid und ein dünnes Goldkettchen um den Hals. Selbst aus dieser
Entfernung merkte Lena ihr an, dass sie unter Drogen
stand.
Da sie keine Lust
hatte, mit dem Mädchen zu reden, wandte sie sich ab und hielt in
der Menschenmenge Ausschau nach Rhodes. Doch als sie durch den Raum
ging, steuerte Kristin wie magnetisch angezogen auf sie zu und
packte sie am Arm.
Lena betrachtete sie
schweigend. Novaks Leiche lag genau hinter ihnen. Sie stellte fest,
dass Kristin nervös lächelte. Ihre rechte Hand spielte an dem
Goldkettchen herum.
»Ich wollte mit dir
sprechen«, begann das Mädchen.
Vergeblich versuchte
Lena, ihre Ungeduld zu zügeln. Sie musste unbedingt Rhodes
abpassen, bevor er sich verdrückte, und hatte nicht die geringste
Lust, mit Kristin Novak eine Reise in die Vergangenheit zu
unternehmen.
»Herzliches Beileid«,
sagte Lena.
»Danke,
ebenfalls.«
»Du bist ja total
breit.«
Das Mädchen verzog
das Gesicht. »Warum bist du so gemein zu mir?«
Lena wandte sich ab
und entdeckte Rhodes am anderen Ende des Raums. Er stand ein Stück
von Barrera entfernt und beobachtete sie. Als er angesprochen
wurde, wimmelte er den Betreffenden ab.
»Ich bin nicht
gemein«, wandte sie sich an das Mädchen. »Du bist
stoned.«
»Vielleicht habe ich
was gebraucht, um das hier durchzustehen.«
Kristin war nervös
und fingerte immer noch an dem Goldkettchen herum. Es hing etwas
daran. Eine herzförmige Scheibe. Als sie dem Mädchen aus dem
Ausschnitt rutschte, starrte Lena ungläubig darauf.
Es war gar kein Herz.
Das Mädchen hatte das Plektron ihres Bruders. Lena erkannte die
Gravur auf der Scheibe aus vierzehnkarätigem Gold genau: Der Mond
erhob sich aus einem Bett traubenförmiger Wolken und rauchte dabei
einen Zeppelin.
Ihr Atem stockte. Das
konnte nur eines zu bedeuten haben.
Sie betrachtete das
Gesicht des Mädchens, ihre erweiterten Pupillen und ihr dümmliches
Grinsen.
»Wo hast du das
her?«
Das Grinsen wurde
breiter. »Von einem Freund.«
»Welchem
Freund?«
»Jemandem, mit dem
ich vor langer Zeit mal gevögelt habe. Er hat mich am liebsten in
den Arsch gefickt. Ich habe es als Andenken behalten.«
Der Raum fing an sich
zu drehen. Wieder lief die Zeit rückwärts ab und entführte Lena
trotz ihrer Erschöpfung auf eine letzte Reise in die Dunkelheit.
Damals war Novaks Tochter etwa sechzehn gewesen. Sie hatte ein
Drogenproblem, und Novak machte sich große Sorgen um sie. Sie war
ein Fan ihres Bruders.
In einem
Sekundenbruchteil war die Verbindung zwischen den einzelnen Punkten
da. Allen Punkten. Die Tasche mit den offenen Fragen war plötzlich
leer. So leer, dass sie es selbst nicht glauben
konnte.
Lena dachte an die
Blutspuren in ihrem Schlafzimmer. Das Blut ihres Bruders,
verspritzt auf Kopfbrett und Wänden. David hatte in jener Nacht den
Club in Begleitung einer Frau verlassen, die sich nie gemeldet
hatte. Er war nicht beim Drogenkauf in Hollywood erschossen worden,
sondern in seinem eigenen Bett.
Gespräche mit ihrem
Partner strömten vorbei. Eines nach dem anderen. Andeutungen, dass
etwas nicht stimmte. Winke, auf die sie nie eingegangen war, weil
sie so unfassbar erschienen. Ihr fiel ein, wie Novak sie anfangs zu
überzeugen versucht hatte, dass Romeo das Mädchen in Tim Holts Haus
ermordet hatte. Er war erst zurückgerudert, als sogar ihm klar
geworden war, dass diese Theorie keinen Sinn ergab. Sein entsetzter
Gesichtsausdruck, als sie ihm mitgeteilt hatte, Molly McKenna sei
nur ein harmloses Schulmädchen gewesen, das vor dem Mörder in Holts
Haus eingebrochen sei und Holt gar nicht persönlich gekannt habe.
Novaks Worte, er wolle friedlich in Rente gehen und seine Waffe
gegen ein Leben eintauschen, in dem er sich nicht mehr ständig
umschauen müsse und beim Schlafen beide Augen zumachen könne. Nun
war ihr alles sonnenklar. Novak hatte den Fall David Gamble
abschließen wollen, damit er nach Seattle ziehen konnte, ohne mit
Ermittlungen gegen die eigene Person rechnen zu
müssen.
Es war wie ein Schlag
ins Gesicht. Ein solcher Schock, dass sie es kaum glauben konnte
und befürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden.
»Ist dir nicht gut?«,
fragte das Mädchen.
»Was weißt du noch
von dieser Nacht? Ich meine die Nacht, als mein Bruder dich in den
Arsch gefickt hat.«
Kristin errötete und
setzte wieder ein dämliches Grinsen auf. Lena hatte kein Mitleid
mehr mit ihr. Sie hasste sie.
»Nichts«, erwiderte
Kristin. »Ich war total high. Wahrscheinlich bin ich
eingeschlafen.«
Bei ihr klang das,
als wäre sie stolz darauf. So als hätte sie in ihrem Leben etwas
Großartiges geleistet und sei in ein Geheimnis eingeweiht. Lena
hätte ihr erklären können, dass sie vermutlich an retrograder
Amnesie litt. Aber es war ihr egal.
Lenas Augen waren
weiter auf die Kette gerichtet. Sie streckte die Hand aus und riss
sie dem Mädchen vom Hals. Ohne auf Kristins verdatterte Miene, die
plötzliche Stille im Raum oder die neugierigen Blicke der anderen
Gäste zu achten, betrachtete Lena den in das Gold eingravierten
Mann im Mond. Er lachte sie an. Zwinkerte ihr zu. Rauchte seinen
Zeppelin wie eine Zigarre. Als sich die Mutter des Mädchens
näherte, schrie Lena sie an, sie solle sich verpissen. Laut. So
laut, dass selbst Novak auf seinem Angelausflug es vielleicht noch
hörte. Dann schloss sie die Finger um das Gesicht des Mondes und
stürzte hinaus.