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Der Holzzaun war eins achtzig hoch. Lena hielt sich
oben fest, schwang die Beine über die Latten und sprang auf der
anderen Seite hinunter. Ein Kiespfad führte durch die Bäume zu den
Tennisplätzen und dem Bürgerzentrum auf dem Hügel. Bevor sie
losging, betrachtete sie den Boden. Nachdem sie sich vergewissert
hatte, dass sie keine Verbrechensspuren verwischte, marschierte sie
den Pfad hinauf zum Rustic Canyon Park.
Ihr war noch immer
flau. Sie brauchte Abstand. Frische Luft und eine Gelegenheit, ihre
Gedanken zu ordnen, und wenn es nur für fünf Minuten waren.
Außerdem wollte sie sich das Haus der Brants vom Parkplatz auf dem
Hügel aus ansehen.
Der Pfad umrundete
eine Baumgruppe und passierte auf dem Weg zum einen
Dreiviertelkilometer westlich gelegenen Ozean eine Betontreppe.
Lena ging nach links und stieg die Treppe zum Bürgerzentrum hinauf.
Die Badeanstalt war zu dieser Jahreszeit geschlossen. Niemand
spielte Tennis im Nieselregen. Oben angekommen, fand sie den
Parkplatz leer vor. Die Aussicht jedoch entsprach im Großen und
Ganzen ihren Erwartungen. Durch die Bäume hatte man freien Blick
auf sämtliche Gärten der Siedlung.
Lena trat von der
Treppe zurück und hielt Ausschau nach Müll und anderen Hinweisen
dafür, dass der Täter, der dieses grausige Verbrechen begangen
hatte, sich hier aufgehalten hatte. Als sie einen Papierkorb sah,
hob sie den Deckel und spähte hinein. Die Plastiktüte schien neu zu
sein. Der Papierkorb selbst war leer.
Während sie den
Deckel wieder schloss, flitzte ein Eichhörnchen aus dem Gebüsch und
rannte über den Parkplatz zu einem Baum. Auf etwa drei Metern Höhe
hielt das Tier inne und drehte sich um. Lena folgte seinem Blick
zum Gebäude und bemerkte einen Kojoten, der sich hinter einer Ecke
versteckte. Lena kehrte zur obersten Stufe zurück und setzte sich.
Unterdessen trottete der Kojote den Hügel hinunter und lief lautlos
am Garten der Brants vorbei.
Lenas Blick schweifte
über den Zaun.
Immer wieder verirrte
sich ein Sonnenstrahl in den dichten Nebel und ließ die
Wassertropfen aufleuchten. Doch Lena achtete nicht auf das
Naturschauspiel, sondern musterte das Haus aus der
Vogelperspektive. Dabei fragte sie sich, ob der Mörder wohl auch
auf dieser Stufe gesessen hatte. Ein vages Gefühl, das sich nicht
mehr legte, während sie die Aussicht weiter auf sich wirken ließ.
Sie bemerkte einen Kriminaltechniker, der durch das
Schlafzimmerfenster suchend in den Garten hinausschaute. Das tat er
nun schon seit einer Viertelstunde. Als Lena ging, hatte er ihr
mitgeteilt, er habe bis jetzt nichts feststellen können. Der Lärm
von Elektrowerkzeugen hallte zu ihr hinauf, weil zwei weitere
Kriminaltechniker die Wasserrohre im Badezimmer herausbrachen. Da
nur im Schlafzimmer und nirgendwo sonst Blutspuren gefunden worden
waren, war davon auszugehen, dass der Täter sich vor seinem
Verschwinden gereinigt hatte.
Allerdings steigerte
sich Lenas Unbehagen bei dieser Vorstellung noch. Dass der Mörder
sich die Zeit genommen hatte zu duschen, anstatt nach seiner Tat
sofort Reißaus zu nehmen, wies auf ein ausgesprägtes
Selbstbewusstsein, ja, sogar auf Arroganz hin. Und dass er der Frau
die zweite Zehe abgeschnitten und sie mitgenommen hatte, legte
nahe, dass es ein Wahnsinniger gewesen sein musste.
In einem Haus direkt
unter ihr machte jemand Licht. Sie erkannte den Mann mit dem weißen
Hund, der sich in seiner Küche eine Schale Frühstücksflocken
zurechtmischte. Nebenan las ein alter Mann im Wintergarten Zeitung.
Rechts von den Brants tat eine Frau so, als gieße sie trotz des
Regens den Garten, um den Kriminaltechniker auf der anderen Seite
des Zauns beobachten zu können.
Es war ein
gutbürgerliches abgelegenes Stadtviertel. Ein Viertel, dessen
Bewohner älter wurden.
Lena ließ ihre
Gedanken schweifen und versuchte sich vorzustellen, wie es vor dem
Mord hier gewesen war. Sie kannte Fotos des Opfers. Von ihrem
Gesicht und ihrem Körper. Das Schlafzimmer verfügte zwar über
Vorhänge, die Glasfront im Wohnzimmer hingegen nicht. Wenn der
Täter hier oben gesessen und sein Verbrechen geplant hatte und wenn
das Mordmotiv eine Vergewaltigung war, kam Nikki Brant als Opfer am
ehesten in Frage.
Der Wind frischte
auf. Die Bäume rauschten. Lena sah Stan Rhodes in den Garten treten
und kramte ihr Döschen mit Pfefferminzbonbons aus der Tasche.
Während sie eines davon in den Mund steckte, beobachtete sie, wie
Rhodes das Grundstück untersuchte. Er hatte die Jacke ausgezogen
und die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Rhodes hatte
nicht die aufgepumpten Muskeln eines Menschen, der ins
Fitnessstudio ging, um dort an einem Gerät die immer wieder
gleichen stupiden Übungen auszuführen. Sein Körper besaß die
stromlinienförmige Eleganz eines Langstreckenläufers – schlank,
schmal und durchtrainiert. Er hatte dichtes dunkelbraunes Haar, ein
markantes Kinn und ein intelligentes Gesicht. Lena erinnerte sich
noch gut, was sie sich bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gedacht
hatte.
Der falsche
Zeitpunkt.
Rhodes ging damals
schon seit über zwei Jahren mit derselben Frau. Lena hatte vor drei
Monaten einen Mann kennengelernt. Die Beziehung hatte zwar ihre
Höhen und Tiefen und scheiterte schließlich, doch zum fraglichen
Zeitpunkt war noch alles in Ordnung gewesen.
Sie lächelte
wehmütig. Der falsche Zeitpunkt.
Sie hatten sich
sofort zueinander hingezogen gefühlt. Als sie über die Möglichkeit
eines Seitensprungs sprachen, meinte Rhodes, in seiner Beziehung
krisele es ohnehin, sodass er zu allem bereit sei. Doch Lena hatte
noch einmal darüber nachgedacht und es nicht über sich gebracht.
Sie wollte nicht Anlass für eine Trennung sein, und außerdem
erschien es ihr zu kompliziert, Privates mit Beruflichem zu
vermischen. Schließlich hatte sie gerade erst bei der Polizei
angefangen und noch nicht einmal das erste Jahr hinter sich.
Seitdem hatten sie und Rhodes sich weder getroffen noch ein Wort
miteinander gewechselt. Und nun, da sich ausreichend Gelegenheit
dazu ergeben hätte, ignorierte er sie offenbar absichtlich. Ihre
Schreibtische standen im selben Großraumbüro, nur wenige Meter
voneinander entfernt. Allerdings hatte Lena ihn in den letzten
beiden Monaten kein einziges Mal dabei ertappt, dass er in ihre
Richtung schaute. Sie fand sein Verhalten gezwungen und
unnatürlich. Außerdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart befangen
und fragte sich oft, ob sie ihn wohl missverstanden und einen
Fehler gemacht hatte. Bis zum heutigen
Tag, dachte sie nun. Heute war er aus dem Mordhaus gekommen
und hatte sie angesehen, als ob zwischen ihnen alles wieder im Lot
wäre.
Lena stand auf,
streckte sich und eilte die Stufen hinunter. Sie musste rasch
zurück zum Tatort. Als sie über den Zaun kletterte und auf der
anderen Seite heruntersprang, war Rhodes noch immer im Garten. Er
warf ihr einen Blick aus dunklen Augen zu und kam
näher.
»Was gefunden?«,
erkundigte er sich.
»Er hätte in seinem
Auto warten und sie sich als Opfer aussuchen können«, erwiderte
Lena. »Man sitzt hier wie auf dem Präsentierteller.«
Rhodes drehte sich um
und betrachtete die Rückseiten der Häuser. Als er einen alten Mann
in seinem Wintergarten bemerkte, verstand er endlich und lächelte.
Auf dem Weg über den Rasen zum Haus streifte seine Hand Lenas
Schulter.
»Zwischen uns ist
doch alles in Ordnung, oder?«, fragte er.
Sie sah ihn an und
nickte. Trotz des grausigen Verbrechens und ihres Mitgefühls mit
dem Opfer und dessen Angehörigen hoffte sie, dass sie in Zukunft
weiter so zusammenarbeiten würden.