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Es waren drei Dinge, die Lena die ganze Nacht wach
gehalten hatten. Drei Gedanken, die sie beschäftigten und sie
einfach nicht in Ruhe ließen.
Erstens war morgen
Montag. Das kriminaltechnische Labor öffnete wieder seine Türen,
sodass sie endlich ungehindert ermitteln konnten. Zweitens hatten
sie den gestrigen Nachmittag damit verbracht, die Datenbank des
Dezernats für Raub und Tötungsdelikte nach den ersten fünf Morden
zu durchforsten. Leider ohne Ergebnis. Also blieb zu befürchten,
dass sie dem Täter aus Mangel an Beweisen niemals auf die Schliche
kommen würden. Allerdings hatte Lena sich vermutlich vor allem aus
einem Grund fast die ganze Nacht herumgewälzt oder aus dem Fenster
gestarrt: Irving Samples Entdeckung bedeutete einen schwachen
Hoffnungsschimmer.
Lena wusste, dass die
Abteilung für Urkundenfälschung maßgeblich an der Aufklärung des
Mordes an Ennis Cosby beteiligt gewesen war. Nur so hatte Mikhail
Markhasev, ein neunzehnjähriger Zuwanderer aus der Ukraine, zu
einer Haftstrafe verurteilt werden können. Ein direkter Vergleich
belastender Briefe mit Schriftproben des Verdächtigen hatte nämlich
gezeigt, dass Markhasev sich beim Schreiben des Buchstaben
S einer ungewöhnlichen Methode
bediente, ein Beweis, der die ermittelnden Detectives und
schließlich auch die Geschworenen überzeugt hatte.
Jedoch war ein
Verdächtiger genau das, was ihnen fehlte. Lena war sicher, dass
Irving Sample über genug Material verfügte, um dem Mann zwei Morde
anzulasten. Dann würde er zumindest lange genug in
Untersuchungshaft wandern, damit sie mit einem Durchsuchungsbefehl
seine Wohnung auf den Kopf stellen konnten.
Es war halb sieben
Uhr morgens. Im Großraumbüro war es still. Die Besprechung mit Dr.
Bernhardt würde erst in anderthalb Stunden stattfinden. Lena war
früher gekommen, denn sie hatte im Laufe der letzten beiden Monate
bemerkt, dass man in der Abteilung Computerkriminalität merkwürdige
Arbeitszeiten pflegte, die vom Morgengrauen bis spät in die Nacht
dauern konnten. Der Auflistung der Telefonverbindungen hatte sie
entnommen, dass Brants Computer in der Mordnacht um drei Uhr online
gewesen war. Der Täter hatte zwei Stunden lang im Internet gesurft,
bis der Zeitungsbote erschien, und dann erst das Gerät
abgeschaltet. Also war es der nächste logische Schritt,
herauszufinden, was er am Computer getrieben hatte. Vielleicht war
es ja ihre einzige Chance.
Die Abteilung
Computerkriminalität, eine Unterabteilung des Dezernats für
Wirtschaftsverbrechen, residierte auf derselben Etage. Lena ging
den Flur entlang zur anderen Seite des Gebäudes. Die Tür stand
offen, die Deckenbeleuchtung war abgeschaltet. Als sie in den
dunklen Raum trat, blickte ein Informatiker von seinem
Neunzehn-Zoll-Flachbildschirm auf und verzog das Gesicht, als fühle
er sich gestört. Er war etwa in Lenas Alter oder ein wenig jünger
und machte einen mürrischen Eindruck. Sein Haar war so kurz, dass
man die Farbe nicht bestimmen konnte. Auf seiner Nase saß eine
billige Lesebrille, wie man sie im Drogeriemarkt oder im Kaufhaus
bekam. Am rechten Brillenglas befand sich noch ein Rest des
Aufklebers. Seine Jeans schienen eine Wäsche nötig zu haben, sein
Jeanshemd schrie nach einem Bügeleisen. Ein Skateboard hätte gut zu
ihm gepasst, doch Lena konnte keines entdecken.
»Offenbar haben Sie
sich verlaufen«, sagte er in patzigem Ton. »Ich bin sehr
beschäftigt. Falls Sie eine Wegbeschreibung brauchen, fragen Sie
jemand anderen.«
Mit diesen Worten
drehte er sich wieder zu seinem Monitor um und straffte abwehrend
den Rücken. Anscheinend wollte der Kerl sie abwimmeln.
Aber Lena ließ sich
davon nicht beirren. Auf einem Regal entdeckte sie, in Plastikfolie
gewickelt und mit einem Etikett versehen, Brants Computer. Lena war
dem jungen Mann zwar nie begegnet, kannte jedoch seinen Namen und
hatte einige Gerüchte gehört. Keith Upshaw war im Alter von
fünfzehn Jahren verhaftet worden, weil er sich in den Computer der
Telefongesellschaft AT&T eingehackt hatte. Im Jahr darauf drang
er in das Netzwerk von American Express ein, wurde allerdings von
einem Freund verraten, bevor er Schaden anrichten konnte. Niemand
wusste, ob es an seiner Jugend, an der Angst vor Strafe, an einem
vertraulichen Gespräch mit einem Jugendrichter oder daran lag, dass
AT&T und American Express sich erboten, ihm ein College-Studium
zu finanzieren, jedenfalls wechselte Upshaw die Seiten und machte
einen ausgezeichneten Abschluss in Informatik. Und nun saß er hier,
klopfte hektisch mit dem Turnschuh auf den Boden und schien sein
schlechtes Benehmen regelrecht zu kultivieren. Offenbar brauchte er
auch einen starken Kaffee, um sich auf seine Arbeit zu
konzentrieren, denn neben ihm stand ein Becher aus dem Blackbird
Café.
Lena erkannte das
Logo und betrachtete es als gutes Zeichen. Sie zog sich einen Stuhl
von einem anderen Schreibtisch heran und setzte sich dicht neben
Upshaw, um einen Blick auf seinen Bildschirm zu
werfen.
»Ich bin auch sehr
beschäftigt«, sagte sie. »Und ich habe mich nicht verlaufen. Das,
woran Sie da gerade arbeiten, ist mein Fall.«
Er nahm die Hände von
der Tastatur und musterte sie eingehend. Nach einer Weile wurde
seine finstere Miene von einem spöttischen Grinsen abgelöst, und er
lachte auf.
»Jetzt weiß ich, dass
Sie sich wirklich verlaufen haben«, meinte er.
Er lächelte immer
noch, als sie sich miteinander bekannt machten. Dann wandte Lena
sich dem Bildschirm zu.
»Wie weit sind
Sie?«
»Was Sie da sehen,
ist eine exakte Kopie von Brants Festplatte. Eine Aufnahme des
Computers in dem Moment, als der letzte Benutzer ihn abgeschaltet
hat.«
»Genau für diesen
letzten Benutzer interessiere ich mich«, erwiderte
sie.
»Momentan kann ich
Ihnen nur sagen, dass er sich mit Computern auskennt. Das merkt man
an dem Browser, mit dem er im Internet gesurft ist. Er wusste
genug, um den Verlauf sogar aus dem Papierkorb zu löschen. Ich
werde eine Weile brauchen, um rauszukriegen, was er getrieben
hat.«
»Und haben Sie schon
eine Vermutung?«
Upshaw sah sie an,
als wäre sie geistig zurückgeblieben. »Er hat Pornos geguckt. Ich
habe Reste von Fotos in der Systemdatei gefunden.«
Er klickte sich durch
einige Fenster, bis Teile eines Frauengesichts zu sehen waren. Ein
Auge, eine Nase und Lippen, so aufgequollen von Collagenspritzen,
dass sie kurz vor dem Platzen zu sein schienen.
»Die Stücke gehören
zu einer Grafik«, erklärte er. »Man kann sie zu einem Ganzen
zusammensetzen.«
»Woher wissen Sie,
dass wir es mit Pornografie zu tun haben?«
Sein Grinsen wurde
breiter, als er wortlos das nächste Fenster anklickte. Lena
betrachtete die aufgepumpten Brüste der Frau, die ebenfalls
aussahen, als stünden sie unter Druck. Sie hatte verstanden. Upshaw
schloss das Fenster.
»Der Web-Anbieter der
Brants sitzt an der Ostküste. Als ich heute Morgen ins Büro kam,
habe ich dort angerufen. Sie haben versprochen, mir innerhalb der
nächsten Stunde einen Bericht zu schicken.«
»Was sonst
noch?«
Upshaw zog die
Tastatur näher heran und griff nach der Maus. »Der Typ hat
mindestens eine halbe Stunde lang Dateien von der Festplatte
abgerufen, bevor er ins Netz gegangen ist.«
»Was für
Dateien?«
»Die Brants führen
mit einem Computerprogramm Buch über ihre Finanzen und ihre
Kreditkarten. Um es zu starten, braucht man ein Passwort. Der
letzte Benutzer kannte dieses Passwort.«
»Woran merken Sie
das?«
»Schauen Sie sich die
Uhrzeiten und die Daten an.« Upshaw wies auf den Bildschirm. »Das
ist die Datumsdatei. Das Programm sichert automatisch alle
Arbeitsschritte, wenn man es abschaltet.«
»Haben Sie das
Passwort schon rausgekriegt?«
»Beim ersten Versuch.
Es war so leicht, dass wohl jeder dahintergekommen wäre. Sie haben
einfach ihre Adresse genommen. Neun-achtunddreißig. Übrigens sind
sie pleite. Dreißigtausend Dollar
Kreditkartenschulden.«
Lena überlegte. Vor
vierundzwanzig Stunden hätte die Information, dass jemand das
richtige Passwort eingegeben hatte, einen weiteren Minuspunkt gegen
Brant bedeutet. Nun jedoch hieß es nur, dass der Gesuchte gebildet
war, Technikverstand besaß und sich für die Lebensverhältnisse
seiner Opfer interessierte.
»Wie ich annehme, war
das noch nicht alles«, sagte sie.
Upshaw nickte. »Er
hat sich auch das Textverarbeitungsprogramm
angeschaut.«
»Und persönliche
Dateien geöffnet«, ergänzte sie, »Briefe an Freunde und so
weiter.«
Er lachte auf. »Sind
Sie Hellseherin?«
Lena würdigte das
keiner Antwort. Stattdessen fragte sie sich, ob sie nicht gerade
herausgefunden hatte, warum der Täter nach den Morden den Tatort
nicht sofort verließ. Im Fall Brant hatte er sich Zugang zu
Computerdateien verschafft. Auf Teresa López’ Nachtkästchen hatte
man ein Tagebuch gefunden, ihm aber damals keine Wichtigkeit
beigemessen. Vielleicht musste der Mörder sich ein intimes
Verhältnis zu seinen Opfern vorgaukeln. Womöglich brachte es ihn
den Frauen näher und steigerte die Erregung, ihre privaten Gedanken
zu lesen.