17
 
Der Nebel vom Meer war so dicht und die Nacht so dunkel, dass Lena den Ozean nicht sehen konnte, als sie am West Channel rechts abbogen und auf die Hügel zusteuerten. Sánchez wohnte in Playa Del Rey am Strand und hatte sich erboten, Lena zurück zum Tatort zu fahren, wo noch immer ihr Auto stand. Laut Uhr auf dem Armaturenbrett war es Viertel nach zehn. Doch als sie durch die Windschutzscheibe in die schimmernde Nebelwand starrte, fühlte es sich viel später an.
Lena hatte einen Punkt erreicht, an dem Koffein nichts mehr ausrichten konnte. Da es dem restlichen Team ganz ähnlich ging, fragte sie sich, wie Sánchez nur mit der schmalen Straße zurechtkam. Er wirkte erschöpft und hatte seit zwanzig Minuten kein Wort mehr gesprochen. Genau genommen verhielt er sich schon den ganzen Tag recht still. Während sie auf Paladino gewartet hatten, war er einige Male mit seinem Mobiltelefon hinausgegangen.
Sánchez bog an der Oak Tree Road links ab und rollte über die Holzbrücke. Langsam und ohne hinzuschauen fuhr er am Mordhaus vorbei und stoppte dann hinter Lenas Wagen.
»Wird dir die Heimfahrt auch wirklich nicht zu viel, Tito?«
»Alles bestens, Lena. Und dir?«
»Ich bin fit«, erwiderte sie. »Aber du bist heute so still.«
»Probleme zu Hause«, meinte er nach kurzem Zögern.
»Schlimm?«
»Schlimm genug.«
Lena wusste, dass Sánchez seit drei Jahren zum zweiten Mal verheiratet war. Sie kannte seine Frau zwar nicht, hatte aber gehört, dass die beiden sich sehr nahestanden.
»Ich liebe meinen Beruf«, sagte er. »Und ich liebe meine Frau. Und der Gedanke, dass ich vielleicht nicht beides zugleich haben kann, macht mich manchmal sauer.«
»Sie mag es wohl nicht, wenn du Überstunden schiebst.«
Er lachte auf. »Vermutlich wäre sie mit einem Schreibtischtäter glücklicher. Aber sie wird sich schon wieder beruhigen. Das hat sie bis jetzt immer. Eine Nacht mit einem Banker, und sie würde Schreikrämpfe kriegen.« Sein Blick wanderte zur Uhr. »Am besten schleppe ich meinen Hintern jetzt nach Hause.«
Lena griff nach ihrem Aktenkoffer und stieg aus. Sie sah zu, wie er den Wagen wendete. Während seine Rücklichter in der Nacht verschwanden, entdeckte sie die Strafzettel hinter ihrem Scheibenwischer. Es waren drei Stück, ordentlich aufeinandergestapelt. Sie unterdrückte das Bedürfnis, sie zu zerreißen, stopfte sie in ihren Aktenkoffer und warf einen Blick auf das Mordhaus. Sie konnte es kaum erkennen und wollte sich schon abwenden, als sie das Licht zwischen den Bäumen erkannte.
Es war ein Lichtstrahl, der durch die Wipfel strich und dann im Garten verschwand. Die Augen auf das Blätterdach gerichtet, fragte sie sich, ob der Lichtstrahl vielleicht von Sánchez’ Wagen kam, der gerade um die Kurve bog und auf der anderen Seite des Rustic Canyon den Hügel hinunterfuhr. Doch als der Strahl wieder erschien, war er zu kurz und wackelig, um von einem Auto zu stammen.
Jemand war auf dem Grundstück.
Lena öffnete den Kofferraum, legte den Aktenkoffer hinein und holte eine Taschenlampe heraus. Ohne sie einzuschalten, hastete sie die Straße hinunter, blieb vor dem Haus stehen und lauschte. Sie hörte das Pochen ihres Herzens und das Rauschen des Baches hinter ihr – aber sonst nichts. Von dem Haus schlug ihr nur Stille entgegen. Dazu der Anblick des schwankenden Lichts über ihrem Kopf.
Lena duckte sich unter dem Absperrband durch und ging die Auffahrt entlang in den Garten.
Schritt für Schritt pirschte sie sich weiter. Im Nebel betrug die Sichtweite schätzungsweise knapp zwanzig Meter. Im Garten angekommen, hörte sie unverständliches Gemurmel und spähte um die Ecke.
Jemand stand an der Terrassentür und machte sich am Schloss zu schaffen. Das Licht, das sie gesehen hatte, rührte von einer Taschenlampe her, die in der Armbeuge der Gestalt klemmte.
Lena zog die Pistole aus dem Halfter und trat um die Hausecke. Während sie sich weiter die Mauer entlangtastete, ließ sie die Gestalt nicht aus den Augen. Inzwischen konnte sie sie deutlicher erkennen. Es war ein Mann. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Ein großer Mann mit braunem Haar, der ein zerknittertes weißes Hemd trug.
Der Mann war Brant, und er mühte sich mit seinem Schlüssel ab. Offenbar benutzte er die Tür nicht oft, denn er konnte den richtigen nicht finden.
Kurz vor der Terrasse blieb Lena stehen. Ihre Taschenlampe war sehr stark und verbreitete ein beinahe taghelles Licht. Lena richtete sie auf den Mann und schaltete sie ein, worauf Brant vor Schreck einen Satz machte. Er fuhr herum, hielt sich schützend die Hände vors Gesicht und begann zu zittern.
»Wer ist da?«, rief er mit sich überschlagender Stimme. »Wer ist da?«
»Was wollen Sie hier, Mr. Brant?«
Er erkannte ihre Stimme. »Sie sind das?«, schrie er. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«
»Sie haben meine Frage ganz genau verstanden«, entgegnete Lena. »Und jetzt verlange ich eine Antwort.«
Sie stellte fest, dass er bemüht durch den Lichtstrahl spähte. Nach einer Weile bemerkte er die Waffe in ihrer rechten Hand. Eine schwarze Halbautomatik Kaliber.45, die nur knapp siebenhundertfünfzig Gramm wog, aber vollständig geladen zehn Patronen fasste.
»Warum zielen Sie mit dem Ding auf mich?«
»Das hier ist ein Tatort«, erwiderte sie. »Oder könnte es Ihnen entgangen sein, dass das Haus noch immer versiegelt ist? Haben Sie vielleicht den Grund vergessen? Aber eigentlich ist mir das scheißegal.«
Als er einen Schritt auf sie zumachte, hielt Lena die Mündung ihrer Waffe ins Licht, damit er sie besser sehen konnte. Sie wünschte, sie hätte nicht solches Herzklopfen gehabt.
»Ganz ruhig, Mr. Brant. Ich bin sicher, dass Sie keinen Ärger wollen.«
Er wich zurück und ließ die Hände sinken. »Das ist nicht notwendig. Völlig verrückt ist das. Stecken Sie endlich das Ding weg.«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, beharrte Lena. »Ich kann nicht Gedanken lesen, und deshalb weiß ich nicht, warum Sie hier sind und was Sie vorhaben. Nur in einem bin ich mir absolut sicher.«
»Und das wäre?«
»Wenn heute Abend hier etwas passiert, zum Beispiel, dass Sie sich auf mich stürzen oder rein zufällig stolpern, sind Sie es, der dabei draufgeht, nicht ich.«
Ihr Griff um die Waffe wurde fester. Sein Blick wanderte zur Mündung und zurück, als wisse er, dass er eine.45er vor sich hatte.
»Hier wird rein gar nichts passieren«, rief er.
»Dann holen Sie tief Luft und erklären mir, warum Sie ins Haus einbrechen wollten.«
»Es ist immerhin mein Haus. Alles, was sich darin befindet, gehört mir.«
»Sie machen sich strafbar, Mr. Brant.«
»Ich wollte nur Kleider holen. Das ist die volle Wahrheit. Deshalb bin ich hier. Ich muss mich wegen einer sauberen Unterhose in mein eigenes Haus schleichen, verdammt.«
Lena hielt einen Moment inne und musterte den Mann abschätzend. Er hatte einen wilden Blick. Seine aufgekrempelten Ärmel ließen muskulöse Unterarme sehen. Für sie stand es außer Frage, dass er ihr körperlich überlegen war.
»Dafür hat man doch Freunde«, sagte sie ruhig. »Warum fahren Sie nicht zu einem Freund, leihen sich ein paar Anziehsachen und ruhen sich aus.«
»Freunde? Das soll wohl ein Witz sein. Alle meine Freunde denken genau dasselbe wie Sie.«
»Und was denke ich?«
Er hielt inne und spuckte auf die Terrassenplatten. »Dass ich Nikki umgebracht habe. Scheiß auf diese Arschlöcher! Ich habe keine Freunde.«
»Dann nehmen Sie sich eben ein Hotelzimmer.«
Brant senkte den Blick. Lena trat einen Schritt auf die Terrasse und blieb stehen. Der Abstand zwischen ihnen betrug schätzungsweise drei Meter.
»Wo ist Ihr Auto?«, fragte sie.
»Auf dem Parkplatz im Park. Seit mein Anwalt mich abgesetzt hat, fahre ich einfach nur herum.«
»Ich möchte, dass Sie Ihren Autoschlüssel vom Schlüsselring entfernen und die restlichen Schlüssel auf den Boden fallen lassen.«
»Was ist mit dem Büroschlüssel?«
»Wie ich gerade sagte, kann ich nicht Gedanken lesen. Also weiß ich nicht, welcher Schlüssel zu welcher Tür passt. Sie werden im Büro um einen anderen Schlüssel bitten müssen.«
Er betrachtete sie mit einem entnervten Kopfschütteln, nahm mit der rechten Hand den Schlüssel vom Ring und schleuderte ihr den Schlüsselring vor die Füße. Lena trat noch einen Schritt nach links, um dem zornigen Mann einen Fluchtweg in den Garten freizulassen.
»Sie können jetzt gehen, Mr. Brant. Man wird Ihnen oder Ihrem Anwalt mitteilen, wann Sie ins Haus können. Dann dürfen Sie wieder die Vordertür nehmen.«
Wortlos setzte er sich in Bewegung und blieb noch einmal stehen. Dann marschierte er, mit Schlüssel und Taschenlampe bewaffnet, auf den Zaun zu. Lena schaltete ihre Taschenlampe ab und blickte Brants geisterhafter Gestalt nach, bis sie in den Dunstschwaden verschwunden war. Sie hörte, wie er über den Zaun kletterte, auf der anderen Seite hinuntersprang und einen Fluch ausstieß. Als der Strahl der Taschenlampe den Hügel hinauf und auf den Park zuglitt, steckte sie die Pistole weg und holte tief Luft.
Dann hielt sie inne und ließ die Situation noch einmal Revue passieren. Es roch nach Meer, aber auch nach Erde.
Lena bemerkte, dass sie zitterte. Außerdem war sie sich dessen bewusst, dass sie noch nie im Dienst einen Schuss abgegeben hatte. Noch nie hatte sie einen Menschen getötet.
Sie hob den Schlüssel auf und überprüfte das Schloss. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine Tür offen stand, kehrte sie in den Vorgarten zurück. Sie musste an die Heimfahrt denken, als ihr Wagen aus dem Nebel auftauchte. Auch wenn Koffein nicht mehr genügte, um sie wach zu halten, war der Adrenalinstoß von gerade eben offenbar sehr wirkungsvoll gewesen.
Todesqual: Thriller
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