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Lena hatte vier Stunden gebraucht, um ihren Anteil an
Fallzusammenfassungen durchzuarbeiten. Insgesamt waren es
einhunderteinundvierzig sexuelle Übergriffe auf Frauen im Alter
zwischen sechzehn und vierundachtzig Jahren, die im Umkreis von Los
Angeles wohnten. Es war anstrengend gewesen. Wieder einmal eine
lange Nacht.
Sie holte die
Weinflasche aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein.
Nach einem raschen Schluck warf sie einen Blick auf den
Anrufbeantworter. Beim Nachhausekommen hatte sie eine Nachricht von
Staatsanwalt Roy Wemer vorgefunden, die sie noch immer bestürzte.
Es war eine Hasstirade, wirres Gerede, Worte, die er im Büro
niemals geäußert hätte. Anfangs hatte es noch wie eine Standpauke
geklungen, weil Lena ihn nicht sofort über die DNA-Ergebnisse
informiert hatte. Dann jedoch hatte er sich immer mehr in seine Wut
hineingesteigert. Als er zu schreien angefangen hatte, war Lena
klar geworden, dass er ihr die Schuld am Irrtum im Fall López gab.
Er ging sogar so weit zu behaupten, er könne López ungeachtet der
Laborergebnisse wieder ins Gefängnis bringen. Danach hatte er Lena
als blöde Fotze bezeichnet, worauf sie es sich erspart hatte, den
Rest der Nachricht abzuhören.
Leider ging man bei
der Staatsanwaltschaft von Los Angeles nach einer
Gewinn-Verlust-Rechnung vor, einer Auflistung, die dann gerne im
Wahlkampf zu Felde geführt wurde. Allerdings barg eine derartige
Statistik die Gefahr, dass Leute wie Wemer nur noch die gewonnenen
Prozesse im Blick hatten. Da sie außerdem wenig über die korrekte
Aufklärung einer Straftat aussagte, war man in vielen Städten
wieder von dieser Methode abgerückt. Für Lena war dieses
buchhalterische Denken eine der schlimmsten Schattenseiten ihres
Berufs, und sie hatte mit ihren Freunden bei der Abteilung für
ungelöste Fälle schon mehr als einmal darüber
gesprochen.
Eine nachträgliche
DNA-Analyse in Fällen, die noch vor Einführung dieser neuen Technik
abgeschlossen worden waren, hatte eine Fehlurteilquote von
fünfundzwanzig Prozent ergeben. Ob es an den ermittelnden
Detectives, der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung, einem
Informanten, einem Augenzeugen, der log oder sich einfach nur
geirrt hatte, oder gar an unwilligen Geschworenen oder einem
unfähigen Richter lag – jedenfalls war der Fehler im System
begründet. Zwar hatte noch jeder Angeklagte, dem Lena je begegnet
war, seine Unschuld beteuert, doch es konnte durchaus sein, dass
einer von vier Zelleninsassen tatsächlich die Wahrheit
sagte.
Bei Wemer war
offenbar eine Sicherung durchgebrannt, weshalb es ratsam war, diese
Nachricht aufzubewahren, um später etwas gegen ihn in der Hand zu
haben.
Lena nahm die
Kassette aus dem Gerät, drehte sie um, legte sie wieder ein und
spulte Seite zwei zum Anfang zurück. Als sie den Deckel schloss,
sah sie die Nummer auf dem Block neben dem Telefon. Sie hatte
vergessen, warum sie sie notiert hatte, und es dauerte eine Weile,
bis ihr die Nachricht vom Samstagabend wieder einfiel. Tim Holt,
das ehemalige Bandmitglied ihres Bruders, der sich mit ihr treffen
wollte.
Lena sah auf die Uhr.
Kurz nach Mitternacht. Vermutlich war Holt unterwegs, machte
entweder eine Kneipentour oder trat irgendwo auf. Ein
ausgezeichneter Zeitpunkt also, um ihm eine Nachricht zu
hinterlassen. Dann würden sie nicht miteinander reden müssen, und
Lena würde nicht gezwungen sein, nein zu sagen, wenn Holt sie bat,
das Tonstudio ihres Bruders wieder zu eröffnen. Sie wählte die
Nummer. Nach viermal läuten sprang der Anrufbeantworter an. Holt
klang so frisch wie vor zwei Tagen. Er schien clean zu sein.
Plötzlich hatte Lena ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dem
besten Freund ihres Bruders Telefonspielchen trieb.
»Tim, ich bin es«,
sagte sie nach dem Piepton. »Tut mir leid, dass ich nicht da war,
als du angerufen hast, aber ich arbeite gerade an einem Fall.
Vielleicht können wir uns ja nächste Woche treffen. Ich versuche es
morgen gegen Mittag bei dir. Wenn nicht, telefonieren wir am
Wochenende.«
Der CD-Spieler
schaltete von John Coltranes My Favorite
Things zu Pete Jollys Little
Bird. Nachdem Lena aufgelegt hatte, lauschte sie, wie Jolly
sich am Klavier austobte, und nahm sich fest vor, Holt anzurufen,
wenn er sicher zu Hause sein würde. Dann ging sie mit ihrem
Weinglas um den Küchentresen herum zu dem Tisch am
Wohnzimmerfenster und warf einen Blick auf die Zusammenfassungen,
die sie beiseitegelegt hatte, um sie sich näher anzusehen. Wider
Erwarten war sie auf drei Fälle gestoßen, die sich von den anderen
unterschieden. Jedes Mal war der Vergewaltiger bei seiner Tat
gestört worden, sodass keine DNA-Spuren vorlagen. Alle drei Frauen
waren unter fünfunddreißig und lebten allein. Doch was Lena am
meisten auffiel, war die Vorgehensweise, die sich mit ihrer Theorie
deckten, wie Nikki Brant den Tod gefunden hatte.
Jedes Opfer war
mitten in der Nacht von einem Eindringling im Schlafzimmer geweckt
worden.
Im ersten Fall hatte
der Hund des Opfers den Täter verjagt. Das zweite Opfer hatte Licht
gemacht, als es das Fenster quietschen hörte, worauf der Mann die
Flucht ergriffen hatte. Leider hatte er eine Sturmhaube getragen
und konnte deshalb nicht identifiziert werden. Allerdings
schockierte der dritte Fall Lena am meisten. Der Mann hatte sich
tatsächlich nackt ausgezogen und wollte gerade unter die Bettdecke
schlüpfen, als die Frau aus dem Zimmer und aus dem Haus floh und im
Vorgarten laut um Hilfe rief.
In allen drei Fällen
schien derselbe Täter am Werk gewesen zu sein. Daran gab es für
Lena nichts zu rütteln, insbesondere im Licht von Dr. Bernhardts
Ausführungen an diesem Morgen. Romeo war vom Vergewaltiger zum
Mörder geworden und eskalierte seine Methoden.
Lena stellte das Glas
weg und ordnete die Zusammenfassungen chronologisch. Wie die Morde
waren zwei der drei Vergewaltigungsversuche im Abstand von einem
Monat verübt worden. Außerdem hatten sich alle drei Übergriffe in
dem halben Jahr vor dem ersten Mord ereignet. Sie schlug ihren
Wochenplaner auf und blätterte sich zum Kalender vor. Der erste
sexuelle Übergriff hatte im Oktober letzten Jahres stattgefunden.
Während im November nichts geschehen war, waren der zweite und der
dritte Vergewaltigungsversuch im Dezember und im Januar erfolgt.
Der Februar war ebenfalls ereignislos geblieben, doch Teresa López
war im März, Nikki Brant einen Monat und drei Tage später ermordet
worden. Wenn die an den Tatorten sichergestellten CDs eine Rolle
spielten, fehlten ihr nun nur noch die entsprechenden Taten für die
Symphonien Nummer zwei und fünf. Vermutlich befanden sie sich in
den Unterlagen, die Sánchez an die übrigen Mitglieder des Teams
verteilt hatte.
Lena holte den
Thomas Guide, ein Buch mit den
Straßenkarten des gesamten Landkreises, aus ihrem Aktenkoffer. An
der Innenseite des vorderen Buchdeckels befand sich ein Faltplan,
den sie noch nie zuvor benutzt hatte. Sie schob das Weinglas weg,
breitete die Karte auf dem Tisch aus und nahm einen Markierstift
zur Hand. Vielleicht war es ja doch mehr als eine bloße Theorie. Es
konnte durchaus sein, dass sie mit ihren Ermittlungen nicht etwa zu
spät dran waren, sondern zu früh, um ein Muster zu
erkennen.
Ein
Serienvergewaltiger in der Übergangsphase, sagte sie sich. Romeos
Verwandlung in einen Mörder.
Nachdem sie den
ungefähren Schauplatz des ersten Vergewaltigungsversuchs auf der
Karte gefunden hatte, schrieb sie das Datum und den Namen des
Opfers auf. Dann suchte sie die anderen beiden Tatorte, markierte
zu guter Letzt auch die Adressen von Teresa López und Nikki Brant
und stand schließlich auf, um die Karte aus der Vogelperspektive zu
betrachten.
Der Mordfall López
wich von den anderen ab, da er als einziger auf der anderen Seite
der Stadt stattgefunden hatte. Obwohl er mit Sicherheit Teil der
Serie war, durfte sie die Karte nicht außer Acht lassen. Der Mord
an Nikki Brant und alle versuchten Vergewaltigungen waren in einem
Radius von drei Kilometern in der Westside geschehen. Wenn man die
Punkte miteinander verband, trafen sich die Linien in Venice
Beach.
Obwohl Lena nicht
viel Erfahrung mit Sexualverbrechen besaß, hatte sie in genügend
Fällen von Raub ermittelt, um zu wissen, dass die Anordnung der
Tatorte dem Gebiet entsprach, in dem der Täter sich sicher fühlte.
Außerdem war sie überzeugt, dass diese Theorie weder eine Vermutung
noch ein vages Gefühl und auch nicht auf das Glas Wein
zurückzuführen war.
Der Täter hatte am
Strand begonnen, weil er dort wohnte. Hier hatte er für den Notfall
Fluchtwege parat und wusste, wie man so schnell wie möglich nach
Hause kam, wenn man verfolgt wurde. Sicher hatte er aus diesem
Grund in einem der Fälle eine Sturmhaube getragen: Der Mann hatte
sein Gesicht verborgen, da er befürchtete, in seinem näheren
Wohnumfeld wiedererkannt zu werden. Schließlich ging er hier auf
den Straßen spazieren, stieg aus dem Auto, tankte oder schob einen
Einkaufswagen durch den Supermarkt.
Der Täter, womöglich
sogar Romeo selbst, wohnte also in Strandnähe. Und wenn er wirklich
Romeo war, war vor zwei Monaten etwas passiert, das ihn entfesselt
hatte.
Lena betrachtete die
Karte. Etwas machte ihr zu schaffen, obwohl sie es nicht in Worte
fassen konnte. Doch als ihr Blick zum Jachthafen glitt, fiel es ihr
wie Schuppen von den Augen.
Avis Payton lebte im
näheren Wohnumfeld des Täters.
Obwohl Novak
derselben Ansicht gewesen war, zweifelte Lena inzwischen an ihrer
Entscheidung. Nachdem sie sich die Aussage der Frau von der Bank
hatte bestätigen lassen und sich außerdem vergewissert hatte, dass
ihr Vater tatsächlich Polizist in Salt Lake City war, hatte Lena
die Kollegen von der Pacific Division verständigt, anstatt ein
Überwachungsteam bei der Spezialeinheit SIS anzufordern. Eigentlich
wurde das SIS hinzugezogen, wenn es galt, einen Verdächtigen zu
beschatten, weshalb Lena das Gefühl gehabt hatte, mit Kanonen auf
Spatzen zu schießen, wenn sie wegen eines einen Monat alten
Handtaschendiebstahls ein Haus beobachten ließ. Dennoch wurde ihr
mulmig, als sie nun die Straße, in der Payton wohnte, auf der Karte
heraussuchte und feststellte, wie nah es von dort aus nach Venice
Beach war.
Das Telefon läutete.
Da es ein Uhr war, fragte sie sich, ob es Novak oder gar Rhodes
sein könnten. Als ihr Blick beim Greifen nach dem Telefon auf ihre
Hand fiel, erinnerte sie sich an ihr Erlebnis mit Rhodes im Aufzug.
Daran, wie seine Augen ihre Finger fixiert hatten. An ihre
Gedanken, als er prüfend ihre Beine und Hüften musterte. Ein wenig
hoffte sie sogar, es möge Rhodes sein.
»Entschuldigen Sie
die späte Stunde«, sagte eine Männerstimme. »Hoffentlich habe ich
Sie nicht geweckt. Ich bin Teddy Mack vom FBI und hatte vorher
keine Zeit.«
Lena setzte sich auf
einen Barhocker an den Küchentresen. Die Schiebetür stand offen.
Ein Windhauch spielte mit der Karte auf dem Tisch.
»Ich kann Sie kaum
verstehen«, erwiderte sie. »Wo sind Sie?«
»An einem Ort, wo Sie
sicher niemals hinmöchten. Obwohl es mitten in der Nacht ist, haben
wir noch über dreißig Grad. Ich stehe vor meinem Motel. Die einzige
Stelle, wo ich Empfang habe, ist ein ein Meter breiter Bereich vor
der Rezeption. Falls die Verbindung abbrechen sollte, rufe ich
zurück.«
Er klang angespannt
und schlecht gelaunt. Im Hintergrund hörte Lena Papiere rascheln
und dachte an den Wind. Wer in der Wüste lebte, brauchte eine
Schutzschicht.
»Hatten Sie
Gelegenheit, den Bericht zu lesen?«
»Ich habe mir einige
Dinge herausgeschrieben«, erwiderte er. »Soweit ich informiert bin,
haben Sie ein Problem und wollen darüber reden.«
Ein Problem. So nannte das FBI das also. Lena
betrachtete die drei Zusammenfassungen vor sich auf dem
Tisch.
»Ein Problem«,
wiederholte sie. »So könnte man es bezeichnen.«
»Halten wir uns nicht
mit Wortklaubereien auf. Lassen Sie uns lieber damit anfangen,
warum er sich von Nikki Brants Haus in eine Porno-Webseite
eingeklickt hat.«
»Und dazu noch mit
einer gestohlenen Kreditkarte«, ergänzte sie. »Aus welchem Grund er
sich nach dem Mord noch am Tatort herumgedrückt hat, will uns
einfach nicht in den Kopf.«
»Dazu kommen wir
noch«, entgegnete Mack. »Finden Sie es nicht auch seltsam, dass er
sich hinter einer gestohlenen Kreditkarte versteckt, obwohl er
mühelos hätte Mitglied werden und sich die Webseite ohne Risiko
oder Rücksicht auf die Folgen zu Hause hätte ansehen
können?«
Dasselbe hatte Rhodes
bei der Besprechung mit Dr. Bernhardt auch gefragt.
»Meinen Sie, er hat
einen Fehler gemacht?«, erkundigte sie sich.
»Nicht unbedingt.
Meiner Ansicht nach handelt es sich um den Beweis dafür, dass es
auf unsere Frage zwei mögliche Antworten gibt. Entweder steht der
Typ auf Pornos oder er ist auf einer verrückten Mission und lehnt
sie strikt ab. Dass er die Leichen nach dem Vorbild religiöser
Motive arrangiert, deutet für mich eher auf den Wunsch nach Abstand
hin. Er will das Zeug nicht bei sich zu Hause haben. Damit möchte
ich sagen, dass Romeo sich aus Gründen für diese beiden Webseiten
interessiert, die für uns nicht so leicht nachvollziehbar sind.
Kennen wir den Karteninhaber?«
Lena schilderte Mack
rasch die Ereignisse des Tages und auch, wie sie die letzten fünf
Stunden verbracht hatte. Sie fügte hinzu, Teresa López und Nikki
Brant könnten Romeos erste Mordopfer sein.
»Das bringt uns
wieder dazu, wie er die Opfer arrangiert hat«, sagte Mack. »Ich
halte es für möglich, dass Sie auf der richtigen Spur sind. In
Ihrem Bericht steht, Sie hätten alte Mordakten durchgearbeitet,
ohne dass etwas gepasst hätte. Eine weitere ähnlich gelagerte Tat
wäre Ihnen sicher sofort ins Auge gesprungen. Westbrook durchsucht
gerade unsere Datenbanken. Warten Sie einen Moment.«
Sie hörte, wie Mack
die Hand über die Sprechmuschel hielt und jemandem etwas
zuflüsterte. Kurz darauf meldete er sich wieder.
»Verzeihung«, sagte
er. »Jetzt komme ich zum eigentlichen Grund meines Anrufs.
Bernhardt hat grundsätzlich Recht. Aber etwas fehlt.«
Lena griff nach dem
Block und dem Stift, die neben dem Telefon lagen. »Schießen Sie
los.«
»Romeos besondere
Eigenschaft ist, dass er gerne beobachtet, auch wenn wir den Grund
dafür nicht kennen.«
»Wie kommen Sie
darauf?«
»Das erkläre ich
Ihnen gleich.«
»Gut«, erwiderte sie.
»Also ist der Kerl ein Voyeur.«
»Genau. Er braucht
Distanz. Nehmen wir einmal an, Sie lägen richtig. Die
Vorgehensweise stimmt überein, und Romeo hat versucht, die drei
Frauen, die Sie gerade erwähnt haben, zu vergewaltigen. Für eine
Vergewaltigung gibt es eine Menge Motive, doch das wichtigste davon
ist Kontrolle. Als ihm die Situation entglitten ist, ist er
geflohen. Er hat weder die Frau angegriffen, die Licht gemacht hat,
noch hat er das nächste Opfer verfolgt, das aus dem Haus gelaufen
ist. Die Morde jedoch weisen auf eine pathologische Veränderung
hin. Einen Neuanfang. Auf eine Entwicklung und sein Bedürfnis, bis
zum Äußersten zu gehen. Er braucht die absolute Kontrolle, koste
es, was es wolle. Können Sie mir folgen?«
»Ich schreibe mit,
Teddy. Aber es klingt ganz ähnlich wie das, was Bernhardt gesagt
hat.«
»Meiner Meinung nach
müssen Sie sich Folgendes vor Augen halten: Sie suchen einen
Menschen, der sich optimal an seine Umgebung anpasst. Jemanden, der
wirkt, als gehöre er dorthin, bis man ihn enttarnt und erkennt, wie
seltsam er in Wirklichkeit ist.«
»Wir reden hier von
Venice Beach.«
»Schon gut, Lena, ich
weiß, dass es dort von Ausgeflippten nur so wimmelt. Aber da wäre
noch etwas. Der Mann, hinter dem Sie her sind, hat ein schweres
Trauma erlitten und sehnt sich nun nach jemandem, der seine Gefühle
teilt. Den größten Kick bekommt er, wenn jemand zusieht, wie er den
Mord begeht.«
»Und das entnehmen
Sie alles dem Material, das ich Ihnen geschickt habe?«
»Zum Teil«, erwiderte
Mack. »Doch eigentlich bin ich darauf gekommen, als mir klar wurde,
warum er nach dem Mord noch so viel Zeit am Tatort
verbringt.«
Lena zog die
Augenbraue hoch. »Und aus welchem Grund tut er das?«
»Das Besondere an
diesem Typen ist, dass er gerne beobachtet, richtig?«
»Das habe ich
kapiert. Aber warum bleibt er dann am Tatort?«
Mack senkte die
Stimme. »Weil er die Reaktion des Ehemannes auf den Mord sehen
will.«
Es dauerte eine
Weile, bis Lena verstand. Als sie endlich begriff, verschlug es ihr
vor Entsetzen den Atem.
Romeo hatte die
Tagebücher seiner Opfer gelesen und ihre Kontoauszüge und
persönlichen Aufzeichnungen durchwühlt. Er hatte die Zeit
totgeschlagen, indem er Pornowebseiten besuchte. Er hörte Musik und
hatte ein Faible für Beethoven. Wenn die Zeitung geliefert wurde,
löste er das Kreuzworträtsel.
Romeo wartete darauf,
dass der Ehemann nach Hause kam. Er arrangierte seine Opfer, um den
ersten Menschen zu schockieren, der sie fand – nicht die
Polizei.
Mack räusperte sich.
»Die Reaktion des Ehemannes, wenn er seine geliebte Frau findet,
ist das Schlüsselelement. Für den Täter ist es so wichtig wie die
Vergewaltigung oder sogar der Mord selbst. Womöglich tötet er sogar
nur aus diesem einen Grund. Und deshalb haben Sie meiner Ansicht
nach ein Problem. Der Typ kommt von einem anderen Planeten und
sprengt sämtliche Kriterien.«
Lena hatte es die
Sprache verschlagen, und sie musste an José López und James Brant
denken. Den Anblick, den man ihnen aufgezwungen hatte und der sie
nun nie wieder loslassen würde. Vielleicht wollte José López
deshalb lieber im Gefängnis sterben, als frei zu sein. Vielleicht
hatte Brant aus diesem Grund den Lügendetektor-Test nicht
bestanden. Ganz gleich, wie man ihm die Fragen auch stellte, er
hatte nicht vergessen können.
Als Lena wieder einen
Ton herausbrachte, war ihre Stimme nicht viel lauter als ein
Flüstern. »Romeo will, dass der Ehemann genauso leidet wie er.
Darum muss er es sehen.«
»Und so wartet er,
bis der Ehemann nach Hause kommt. Ich wette, er hatte sich im Haus
versteckt und beobachtet, wie Brant die Leiche seiner Frau entdeckt
hat.«
Wieder hielt Mack die
Hand über die Sprechmuschel und wechselte einige Worte mit
jemandem. Lena hörte ein digitales Piepsen, Schritte und einen
Wagen. Offenbar würde Mack heute Nacht nicht schlafen, sondern in
der Wüste herumfahren.
»Ich muss Schluss
machen, Lena.«
»Danke für die
Infos«, erwiderte sie. »Vielleicht können wir …«
Doch es war nur noch
ein statisches Knistern zu vernehmen. Lena starrte auf das Telefon
und schaltete es ab. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass im
Hintergrund ein Saxophon spielte. Der CD-Spieler war mit allen fünf
CDs fertig und inzwischen bei Art Peppers Winter Moon angelangt. Aber auch die Musik konnte
das Bild nicht aus ihrem Kopf vertreiben: Romeo, der zusah, wie
Brant die Leiche seiner Frau fand. Es war
unvorstellbar.
Lena legte sich einen
Pullover über die Schultern, nahm ihr Glas und trat nach draußen,
um frische Luft zu schnappen. Der Wind hatte die Richtung
gewechselt, kam nun von Osten und trieb den Nebel aufs Meer hinaus,
sodass ein sternenloser Himmel zu sehen war. Als Lena sich an den
Pool setzte und an ihrem Wein nippte, hörte sie in der Dunkelheit
ein Geräusch und spähte in den Garten am Fuße des Hügels. Ein
Kojote betrachtete das Wasser, leckte sich die Lefzen und warf ihr
einen langen Blick zu, bevor er sich mit gesenktem Schwanz ins
Gebüsch trollte. Er würde mit dem Trinken warten müssen, bis die
Luft rein war.
Lena drehte sich in
Richtung Stadt und blickte über das Lichtermeer zum gut sieben
Kilometer entfernten Venice Beach. Romeos näheres Wohnumfeld. Die
Gegend, wo er jeden Fluchtweg kannte und sich schnell nach Hause
verdrücken konnte.
Sie zog den Pulli
fester um sich und leerte ihr Glas.
Heute Nacht konnte
die Aussicht ihr keine Geborgenheit vermitteln. Nur Stille. Eine
kühle Brise. Und die Aussicht auf ein zweites Glas Wein, damit sie
vielleicht endlich die Augen schließen und in einen traumlosen
Schlaf fallen konnte.