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Buddy Paladino beäugte die Grafik auf Cesar
Rodríguez’ Computer. Obwohl er sich sichtlich um eine unbewegte
Miene bemühte, erinnerte er eher an einen Mann, der gerade vom
Blitz getroffen worden war. Schweigend scharte er sich mit den
anderen um Rodríguez’ Stuhl und versuchte, sich den Schock nicht
anmerken zu lassen.
Lena brauchte sich
den Monitor nicht anzusehen, um zu wissen, dass Brant den
Lügendetektortest nicht bestanden hatte. Sie hatte es geahnt,
sobald Rodríguez die Tür des Untersuchungszimmers geöffnet hatte.
Man merkte es seiner Körpersprache an. Daran, wie seine Augen
eindringlich durch die Brillengläser spähten und zu Boden
blickten.
»Mr. Brant hat nicht
nur in der ein oder anderen Frage versagt«, erklärte Rodríguez
gerade. »Er ist an jeder einzelnen gescheitert.«
Paladinos Blick war
auf den Bildschirm geheftet. Er verzog das Gesicht. Während
Rodríguez fortfuhr, betrachtete Lena durch die offene Tür Brant,
der auf der anderen Seite des Flurs an einem leeren Schreibtisch
saß und unruhig hin und her rutschte. Offenbar fühlte er sich
unbeobachtet, denn er rubbelte an dem Kaffeefleck an seinem Hemd
herum, und Lena hatte den Eindruck, dass er mit sich selbst sprach.
Nach einer Weile ließ er von dem Fleck ab und öffnete eine
Mineralwasserflasche.
Während er einen
großen Schluck trank, versuchte Lena den Mann, den sie jetzt vor
sich hatte, mit dem James Brant von gestern Vormittag in Einklang
zu bringen. Auf den Anblick des Fotos seiner Frau hatte er wie
jeder andere erschütterte und trauernde Ehemann reagiert. Obwohl
bei einem Mord an einem verheirateten Opfer meistens alles auf den
überlebenden Partner als Täter hinwies, war dieser Fall so grausig
und die Vorgehensweise so ungewöhnlich, dass Lena eigentlich mit
einem anderen Ergebnis gerechnet hatte. Sie erinnerte sich, wie sie
im Rustic Canyon Park auf den Stufen gesessen hatte. An ihren
ersten Gedanken beim Betreten des Schlafzimmers und beim Anblick
der Leiche – nur ein Wahnsinniger konnte diesen Mord begangen
haben.
Dann jedoch hatte sie
die Spermaspuren im Arbeitszimmer gefunden. Rhodes hatte die
Mordwaffe in der Spülmaschine entdeckt. Brants Alibi war nichts
wert. Und die Kollegin seiner Frau hatte angedeutet, er könnte sie
wegen der von ihm ungewollten Schwangerschaft geschlagen haben.
Dann, zu guter Letzt, hatte Lena Brant während der Vernehmung auch
noch bei einer Lüge ertappt. Allerdings musste sie sich
eingestehen, dass ihr die Vorstellung von Brant als Täter gar nicht
gefiel. Immer wenn ein neues Puzzleteilchen die passende Lücke
fand, hatte sie sich insgeheim gewünscht, er möge es nicht gewesen
sein. Das hier war eines der vielen Verbrechen, die hätten
verhindert werden können. Auch wenn Brant seine Frau geschlagen
hatte, war er – ebenso wie José López – kein wahnsinniger
Triebtäter und besaß die Denkfähigkeit, innezuhalten und sich an
eine Beratungsstelle zu wenden. Er hätte die Möglichkeit gehabt,
sich anders zu entscheiden.
Eine tiefe
Enttäuschung ergriff sie, als sie den Mann nun betrachtete. Er
leerte die Wasserflasche und warf sie in einen Papierkorb.
Währenddessen musterte Lena sein Gesicht und verglich es mit dem
des Mannes, der seine schwangere Frau in die San Francisco Bay
geworfen hatte. Man durfte nie nach dem äußeren Schein urteilen,
dachte sie. Diese Männer hätten ihre – Lenas – Nachbarn, Freunde,
ja, sogar Verwandte sein können, ohne dass sie je geahnt hätte, was
in ihren Köpfen vorging. Sie fragte sich, an welchem Punkt ihres
Lebens solche Täter die Grenze überschritten. Welches Erlebnis
hatte dafür gesorgt, dass ihnen die Sicherung durchbrannte? Wie sah
der gedankliche Ablauf aus, wenn ein Verbrechen in der Phantasie
immer mehr Gestalt annahm, bis es schließlich zur Tat kam? Wie viel
Zeit verbrachten Mörder damit zu überlegen, ob man ihnen ihre
Gedanken anmerkte?
So unerklärlich es
auch sein mochte, gab es nichts daran zu rütteln. James Brant hatte
geglaubt, den Lügendetektor austricksen zu können, und war damit
gescheitert.
»Was ist mit den
Kontrollfragen?«, stieß Paladino hervor.
Lena wandte sich von
der Tür ab und gesellte sich zu Novak. Rodríguez blätterte zum
Anfang der Befragung zurück.
»Hier haben wir die
erste Kontrollfrage«, verkündete er und wies auf den Bildschirm.
»›Haben Sie je gestohlen?‹ Ihr Mandant hat mit ja geantwortet, und hier sehen Sie die mangelnde
Reaktion. Blutdruck, Herzschlag und alle anderen Werte bleiben
stabil. Er hat als Kind in einer Drogerie Süßigkeiten stibitzt und
die Wahrheit gesagt.«
»Eine Jugendsünde«,
erwiderte Paladino wegwerfernd. »Was kam als
Nächstes?«
»›Wurden Sie je wegen
eines anderen Delikts außer Alkohol am Steuer festgenommen?‹«,
erwiderte Rodríguez. »Er antwortete mit nein, und wieder weist nichts auf eine Lüge hin. Es
besteht keine erkennbare physiologische Reaktion.«
»Ich hätte die
Möglichkeit erhalten müssen, die Fragen durchzusehen, bevor sie
gestellt wurden.«
»Ich bedaure, Herr
Anwalt, und ich habe vollstes Verständnis dafür, warum Sie mit den
Ergebnissen unzufrieden sind. Jedes Mal, wenn ich eine Frage
stellte, die sich auf die Tat bezog, erhielt ich dieselbe Reaktion.
Schauen Sie, wie die Schweißabsonderung anstieg, als ich mich
erkundigte, ob er je seine Frau geschlagen hat.«
»Wie haben Sie die
Frage formuliert?«
»›Haben Sie Ihre Frau
außer im vergangenen Januar schon einmal geschlagen?‹ Ihr Mandant
sagte nein. Es ist eine faire Frage und
eindeutig genug, um den in seiner Aussage erwähnten Vorfall
auszuschließen. Ich denke, wir werden auf weitere häusliche Gewalt
stoßen, wenn wir länger in seiner Vergangenheit graben. Sicher hat
er seine Frau noch öfter misshandelt. Betrachten Sie seinen
Herzschlag und seinen Blutdruck. Als ich fragte, ob er sie
umgebracht hat, schießen die Werte über die Skala
hinaus.«
Paladino konnte
seinen Zorn nicht mehr zügeln. »Jetzt aber Moment mal. Dieser Test
wurde mit einem Computer durchgeführt, nicht mit einem richtigen
Lügendetektor.«
»Er funktioniert
digital«, erklärte Rodríguez, »und ist somit genauer als ein
analoges Gerät.«
»Und wenn es Probleme
mit der Software gibt?«
Als Lena Novak ansah,
bemerkte sie, dass ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielte.
Paladino verhielt sich wieder einmal typisch und warf Nebelkerzen,
als stünde er im Gerichtssaal.
»Dieses Gerät
funktioniert ausgezeichnet«, erwiderte Rodríguez.
»Mag sein«,
entgegnete der Anwalt. »Mag aber auch nicht sein. Ich kann das
nicht beurteilen, denn ich bin schließlich kein Informatiker. Ich
sehe lediglich Hinweise darauf, dass mein Mandant Herzschlag hat
und atmet. Aber kann dieses Gerät erkennen, ob jemand
lügt?«
Alle
schwiegen.
Rodríguez’ Miene
verfinsterte sich. »Die Antwort auf diese Frage kennen Sie selbst,
Herr Anwalt.«
Paladino schüttelte
den Kopf. »Ich weiß nur, dass die amerikanische
Bürgerrechtsvereinigung dieses Ding als Voodoo-Zauber
bezeichnet.«
»Nennen Sie es, wie
Sie wollen, Herr Anwalt. Doch Ihr Mandant hat sich aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht an die Wahrheit gehalten, als er die
Fragen beantwortete. Wenn Sie eine Kopie dieser Ergebnisse möchten,
drucke ich Ihnen gerne eine aus.«
Paladino fletschte
die Zähne zu einem Lächeln und trat dann beiseite, um auf die Uhr
zu sehen. »Ich verzichte, Mr. Rodríguez. Falls niemand etwas
dagegen hat, zeige ich meinem Mandanten jetzt den
Ausgang.«
Den anderen den
Rücken zugekehrt, wartete er einen Moment ab. Als keine Einwände
kamen, trat er in den Flur hinaus. Lenas Blick glitt zu Brant, der
immer noch im Raum gegenüber am Schreibtisch saß. Sie versuchte zu
verstehen, was in ihm vorging. Ihre Blicke trafen sich, und ihr
wurde klar, dass Brant sie angestarrt hatte.
»Lass uns
verschwinden«, sagte Paladino.
Brant wandte sich von
Lena ab und sprang mit erleichterter Miene auf. Lena und die
anderen beobachteten, wie Brant mit seinem Anwalt die Abteilung
verließ und um die Ecke verschwand. Als Lena die Aufzugtür hörte,
schaute sie erst Sánchez und Rhodes und dann ihren Partner an, der
noch immer auf die Tür starrte.
»Jetzt ist er auf
freiem Fuß«, meinte Novak.