16
 
Buddy Paladino beäugte die Grafik auf Cesar Rodríguez’ Computer. Obwohl er sich sichtlich um eine unbewegte Miene bemühte, erinnerte er eher an einen Mann, der gerade vom Blitz getroffen worden war. Schweigend scharte er sich mit den anderen um Rodríguez’ Stuhl und versuchte, sich den Schock nicht anmerken zu lassen.
Lena brauchte sich den Monitor nicht anzusehen, um zu wissen, dass Brant den Lügendetektortest nicht bestanden hatte. Sie hatte es geahnt, sobald Rodríguez die Tür des Untersuchungszimmers geöffnet hatte. Man merkte es seiner Körpersprache an. Daran, wie seine Augen eindringlich durch die Brillengläser spähten und zu Boden blickten.
»Mr. Brant hat nicht nur in der ein oder anderen Frage versagt«, erklärte Rodríguez gerade. »Er ist an jeder einzelnen gescheitert.«
Paladinos Blick war auf den Bildschirm geheftet. Er verzog das Gesicht. Während Rodríguez fortfuhr, betrachtete Lena durch die offene Tür Brant, der auf der anderen Seite des Flurs an einem leeren Schreibtisch saß und unruhig hin und her rutschte. Offenbar fühlte er sich unbeobachtet, denn er rubbelte an dem Kaffeefleck an seinem Hemd herum, und Lena hatte den Eindruck, dass er mit sich selbst sprach. Nach einer Weile ließ er von dem Fleck ab und öffnete eine Mineralwasserflasche.
Während er einen großen Schluck trank, versuchte Lena den Mann, den sie jetzt vor sich hatte, mit dem James Brant von gestern Vormittag in Einklang zu bringen. Auf den Anblick des Fotos seiner Frau hatte er wie jeder andere erschütterte und trauernde Ehemann reagiert. Obwohl bei einem Mord an einem verheirateten Opfer meistens alles auf den überlebenden Partner als Täter hinwies, war dieser Fall so grausig und die Vorgehensweise so ungewöhnlich, dass Lena eigentlich mit einem anderen Ergebnis gerechnet hatte. Sie erinnerte sich, wie sie im Rustic Canyon Park auf den Stufen gesessen hatte. An ihren ersten Gedanken beim Betreten des Schlafzimmers und beim Anblick der Leiche – nur ein Wahnsinniger konnte diesen Mord begangen haben.
Dann jedoch hatte sie die Spermaspuren im Arbeitszimmer gefunden. Rhodes hatte die Mordwaffe in der Spülmaschine entdeckt. Brants Alibi war nichts wert. Und die Kollegin seiner Frau hatte angedeutet, er könnte sie wegen der von ihm ungewollten Schwangerschaft geschlagen haben. Dann, zu guter Letzt, hatte Lena Brant während der Vernehmung auch noch bei einer Lüge ertappt. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihr die Vorstellung von Brant als Täter gar nicht gefiel. Immer wenn ein neues Puzzleteilchen die passende Lücke fand, hatte sie sich insgeheim gewünscht, er möge es nicht gewesen sein. Das hier war eines der vielen Verbrechen, die hätten verhindert werden können. Auch wenn Brant seine Frau geschlagen hatte, war er – ebenso wie José López – kein wahnsinniger Triebtäter und besaß die Denkfähigkeit, innezuhalten und sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Er hätte die Möglichkeit gehabt, sich anders zu entscheiden.
Eine tiefe Enttäuschung ergriff sie, als sie den Mann nun betrachtete. Er leerte die Wasserflasche und warf sie in einen Papierkorb. Währenddessen musterte Lena sein Gesicht und verglich es mit dem des Mannes, der seine schwangere Frau in die San Francisco Bay geworfen hatte. Man durfte nie nach dem äußeren Schein urteilen, dachte sie. Diese Männer hätten ihre – Lenas – Nachbarn, Freunde, ja, sogar Verwandte sein können, ohne dass sie je geahnt hätte, was in ihren Köpfen vorging. Sie fragte sich, an welchem Punkt ihres Lebens solche Täter die Grenze überschritten. Welches Erlebnis hatte dafür gesorgt, dass ihnen die Sicherung durchbrannte? Wie sah der gedankliche Ablauf aus, wenn ein Verbrechen in der Phantasie immer mehr Gestalt annahm, bis es schließlich zur Tat kam? Wie viel Zeit verbrachten Mörder damit zu überlegen, ob man ihnen ihre Gedanken anmerkte?
So unerklärlich es auch sein mochte, gab es nichts daran zu rütteln. James Brant hatte geglaubt, den Lügendetektor austricksen zu können, und war damit gescheitert.
»Was ist mit den Kontrollfragen?«, stieß Paladino hervor.
Lena wandte sich von der Tür ab und gesellte sich zu Novak. Rodríguez blätterte zum Anfang der Befragung zurück.
»Hier haben wir die erste Kontrollfrage«, verkündete er und wies auf den Bildschirm. »›Haben Sie je gestohlen?‹ Ihr Mandant hat mit ja geantwortet, und hier sehen Sie die mangelnde Reaktion. Blutdruck, Herzschlag und alle anderen Werte bleiben stabil. Er hat als Kind in einer Drogerie Süßigkeiten stibitzt und die Wahrheit gesagt.«
»Eine Jugendsünde«, erwiderte Paladino wegwerfernd. »Was kam als Nächstes?«
»›Wurden Sie je wegen eines anderen Delikts außer Alkohol am Steuer festgenommen?‹«, erwiderte Rodríguez. »Er antwortete mit nein, und wieder weist nichts auf eine Lüge hin. Es besteht keine erkennbare physiologische Reaktion.«
»Ich hätte die Möglichkeit erhalten müssen, die Fragen durchzusehen, bevor sie gestellt wurden.«
»Ich bedaure, Herr Anwalt, und ich habe vollstes Verständnis dafür, warum Sie mit den Ergebnissen unzufrieden sind. Jedes Mal, wenn ich eine Frage stellte, die sich auf die Tat bezog, erhielt ich dieselbe Reaktion. Schauen Sie, wie die Schweißabsonderung anstieg, als ich mich erkundigte, ob er je seine Frau geschlagen hat.«
»Wie haben Sie die Frage formuliert?«
»›Haben Sie Ihre Frau außer im vergangenen Januar schon einmal geschlagen?‹ Ihr Mandant sagte nein. Es ist eine faire Frage und eindeutig genug, um den in seiner Aussage erwähnten Vorfall auszuschließen. Ich denke, wir werden auf weitere häusliche Gewalt stoßen, wenn wir länger in seiner Vergangenheit graben. Sicher hat er seine Frau noch öfter misshandelt. Betrachten Sie seinen Herzschlag und seinen Blutdruck. Als ich fragte, ob er sie umgebracht hat, schießen die Werte über die Skala hinaus.«
Paladino konnte seinen Zorn nicht mehr zügeln. »Jetzt aber Moment mal. Dieser Test wurde mit einem Computer durchgeführt, nicht mit einem richtigen Lügendetektor.«
»Er funktioniert digital«, erklärte Rodríguez, »und ist somit genauer als ein analoges Gerät.«
»Und wenn es Probleme mit der Software gibt?«
Als Lena Novak ansah, bemerkte sie, dass ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielte. Paladino verhielt sich wieder einmal typisch und warf Nebelkerzen, als stünde er im Gerichtssaal.
»Dieses Gerät funktioniert ausgezeichnet«, erwiderte Rodríguez.
»Mag sein«, entgegnete der Anwalt. »Mag aber auch nicht sein. Ich kann das nicht beurteilen, denn ich bin schließlich kein Informatiker. Ich sehe lediglich Hinweise darauf, dass mein Mandant Herzschlag hat und atmet. Aber kann dieses Gerät erkennen, ob jemand lügt?«
Alle schwiegen.
Rodríguez’ Miene verfinsterte sich. »Die Antwort auf diese Frage kennen Sie selbst, Herr Anwalt.«
Paladino schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass die amerikanische Bürgerrechtsvereinigung dieses Ding als Voodoo-Zauber bezeichnet.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Herr Anwalt. Doch Ihr Mandant hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an die Wahrheit gehalten, als er die Fragen beantwortete. Wenn Sie eine Kopie dieser Ergebnisse möchten, drucke ich Ihnen gerne eine aus.«
Paladino fletschte die Zähne zu einem Lächeln und trat dann beiseite, um auf die Uhr zu sehen. »Ich verzichte, Mr. Rodríguez. Falls niemand etwas dagegen hat, zeige ich meinem Mandanten jetzt den Ausgang.«
Den anderen den Rücken zugekehrt, wartete er einen Moment ab. Als keine Einwände kamen, trat er in den Flur hinaus. Lenas Blick glitt zu Brant, der immer noch im Raum gegenüber am Schreibtisch saß. Sie versuchte zu verstehen, was in ihm vorging. Ihre Blicke trafen sich, und ihr wurde klar, dass Brant sie angestarrt hatte.
»Lass uns verschwinden«, sagte Paladino.
Brant wandte sich von Lena ab und sprang mit erleichterter Miene auf. Lena und die anderen beobachteten, wie Brant mit seinem Anwalt die Abteilung verließ und um die Ecke verschwand. Als Lena die Aufzugtür hörte, schaute sie erst Sánchez und Rhodes und dann ihren Partner an, der noch immer auf die Tür starrte.
»Jetzt ist er auf freiem Fuß«, meinte Novak.
Todesqual: Thriller
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