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Lena trat über die Schwelle des Mordhauses. Trotz
ihres bangen Gefühls wollte sie sich vor Beginn der Ermittlungen
ein Bild davon machen, wie Nikki und James Brant gelebt hatten. So
ging sie immer vor, seit sie keine Uniform mehr trug, insbesondere
dann, wenn sie in ein Haus kam, in dem ein Toter lag. Sie brauchte
freie Sicht, einen vorurteilsfreien ersten Eindruck, so vage er
auch sein mochte, bevor der Anblick der Leiche und das Wissen um
die Todesursache ihr Denken unwiederbringlich
beeinflussten.
Das Haus war kleiner,
als sie zunächst angenommen hatte. Etwa dreihundert Quadratmeter
Wohnfläche. Außerdem war der Grundriss offener als bei anderen
Häusern aus dieser Zeit. Von der Vorhalle aus konnte sie links von
sich einen Teil der Küche und des Wohnzimmers sehen, das sich
hinter einem Türbogen befand. Rechts befanden sich ein kleines
Arbeitszimmer und ein Flur, der in den hinteren Teil des Hauses
führte.
Alles schien an
seinem Platz zu stehen. Nichts wies auf einen Kampf hin. Das
Absperrband, das Rhodes über die Zimmertüren und entlang der Wände
gespannt hatte, steckte eine Sicherheitszone ab, die den Flur
hinunter bis zum Schlafzimmer reichte.
Das
Mordzimmer.
Lena wandte sich ab.
Sie spürte einen kühlen Luftzug. Drinnen im Haus schien es fast
genauso kalt zu sein wie draußen. Sie betrachtete den Tisch und den
Spiegel gegenüber der Eingangstür, entdeckte einen Thermostat an
der Wand und fragte sich, warum die Heizung nicht eingeschaltet
war. Nachdem sie das Notizbuch aus der Tasche gekramt und sich die
Temperatur notiert hatte, warf sie einen Blick auf den Tisch. Die
Lampe brannte noch, und sie bemerkte das Fehlen einer Staubschicht
und einen leichten Geruch nach Möbelpolitur. Hier war vor kurzem
saubergemacht worden. Nicht gestern oder gar in der vergangenen
Nacht, um Spuren zu verwischen, sondern irgendwann im Laufe der
letzten Woche. Staub und die Geschichten, die er erzählte, waren
die besten Freunde eines Kriminaltechnikers. Die Kollegen von der
Spurensicherung würden nicht erfreut sein.
Lena schlug eine
leere Seite in ihrem Notizbuch auf und fertigte eine grobe Skizze
des Grundrisses an. Als sie einen Blick in die Küche warf, sah sie
einen Stapel Zeitungen neben dem Tisch und das Geschirr vom
Abendessen in der Spüle. Es waren nicht viele Teile. Offenbar hatte
es Dinner for One gegeben.
Als sie sich dem
Türbogen näherte, fiel ihr auf, dass im Wohnzimmer keine Möbel
standen. Sie beugte sich über das Absperrband, um besser sehen zu
können. Der Raum hatte eine Gewölbedecke. Die rückwärtige Wand
bestand aus einer Glasfront. Die Terrassentür bot Blick auf eine
gepflasterte Terrasse und einen ziemlich großen, von einem Zaun
umgebenen Garten. Auf der Suche nach persönlichen Gegenständen ließ
sie die Augen durch den leeren Raum schweifen. Nichts. Nur ein
Fernseher, ein tragbarer CD-Spieler und ein Stapel CDs auf dem
Boden.
Lena drehte sich zur
Eingangstür um und beobachtete, wie Lamar Newton draußen in der
Einfahrt Novak eine Frage stellte. Rasch durchquerte sie die
Vorhalle, um ins Arbeitszimmer zu schauen. Die fest eingebauten
Bücherregale an den Wänden waren gut gefüllt. Die einzigen losen
Möbelstücke im Raum waren ein altes Ledersofa, ein kleiner
Schreibtisch aus Holz und ein Stuhl, der eher Kindergröße hatte.
Auf dem Boden stand eine Tischlampe. Anstelle eines Couchtischs
waren fünfzehn dicke Bücher auf dem weißen Teppich gestapelt, so
als hätte jemand, auf dem Boden sitzend, gelesen. Zwischen Lenas
Standort im Flur und dem Computer auf dem Schreibtisch war ein Weg
abgesteckt worden.
Lena überlegte und
ließ die Eindrücke auf sich wirken. Trotz der teuren Adresse war
Geld für Nikki und James Brant offenbar ein Thema gewesen. Ihr Haus
war nahezu leer. Ihre Habe hätte mühelos in einen Transporter oder
einen kleinen Anhänger gepasst. Und dennoch war da etwas. Ein
Gefühl, das Lena nicht zu fassen bekam.
Ihr Blick wanderte zu
den Büchern auf dem Teppich. Es handelte sich um Kunstbände.
Malerei. Bildhauerei. Aber auch Architektur von der Renaissance bis
zum neunzehnten Jahrhundert. Einen der Architekturbände kannte
Lena, weil sie ihn als Studentin an der University of California in
Los Angeles gelesen hatte. Damals, als sie noch nicht im Traum
daran gedacht hatte, zur Polizei zu gehen.
Sie betrachtete die
Bücherregale und stellte überrascht fest, dass Romane und
Kurzgeschichten gänzlich fehlten. Auf Augenhöhe standen
ausschließlich wirtschaftliche Sachbücher. Die Bücher ab Kniehöhe
behandelten Kunstthemen.
»Wir sind so weit,
Lena«, sagte Novak leise.
Sie drehte sich zur
Tür um, wo er gerade mit Rhodes hereinkam. Lamar folgte ihnen mit
Ed Gainer, einem Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers, dem
Lena schon einige Male begegnet war. Die erste Begehung würde kein
großer Bahnhof werden.
»Also los«, sagte
Rhodes.
Langsam und wortlos
schritten sie den Flur entlang. Das Knarzen des Dielenbodens unter
ihren Füßen war das einzige Geräusch. Links befanden sich einige
Wandschränke und die Tür zum Wäscheraum. Auf halbem Wege rechts lag
das Badezimmer. Ohne stehen zu bleiben, setzten sie ihren Weg zu
der Tür am Ende des Flurs fort. Hier wartete der Grund, warum der
Fall an sie verwiesen worden war.
Rhodes sah Lena an.
Sie stellte fest, dass Ed Gainer zusammenzuckte. »Oh, Scheiße«,
glaubte sie Lamar flüstern zu hören. Lena biss die Zähne zusammen
und spähte in den Raum.
Die Vorhänge waren
zugezogen, die Fenstergriffe klapperten im Wind. Es dauerte eine
Weile, bis Lena begriff, dass die Wände einmal weiß gestrichen
gewesen waren. Dass sie nicht in einem Schlachthaus am Rande der
Zivilisation stand, sondern in einem Eigenheim in einer
gutbürgerlichen Straße. So viel Blut hatte sie noch nie gesehen.
Die Fontäne hatte mitten im Raum begonnen und sich über die Wände,
die Gewölbedecke und den Boden verteilt. Und dennoch herrschte an
dieser Stelle, so wie im Auge eines Sturms, eine gewisse Ruhe. Ein
zierlicher Körper, scheinbar schlafend, war sorgfältig unter einer
sauberen weißen Überdecke drapiert.
Das ist kein
Mordzimmer, dachte sie, sondern eine
Hinrichtungszelle.
In der Dunkelheit
versuchte Lena, das Gesicht des Opfers zu erkennen. Als sie es
nicht entdecken konnte, wurde ihr klar, dass man der jungen Frau
eine Einkaufstüte aus Plastik über den Kopf gestülpt
hatte.
»Vorsicht Stufe«,
flüsterte Rhodes.
Lena blickte nach
unten. Wie das Wohnzimmer lag auch das Schlafzimmer drei Stufen
tiefer als das restliche Haus. Während sie dem Absperrband folgte,
fragte sie sich, wie Rhodes es bloß geschafft hatte, einen nicht
blutverschmierten Weg zur Leiche zu finden. Eine schier unlösbare
Aufgabe, aber es war ihm gelungen.
Sie brauchte einen
Moment, um sich zu sammeln. Als eine Reihe weißer Blitze durch den
im blauen Dämmerlicht liegenden Raum zuckte, machte sie Lamar Platz
und stellte sich zu Novak und Rhodes ans Fußende des Bettes. Neben
dem Radiowecker auf der Kommode bemerkte sie ein Foto, das sie
betrachtete, ohne den silbernen Rahmen zu berühren. Nikki und James
Brant saßen eng umschlungen auf einer Wiese. Sie sahen so
unschuldig und glücklich aus. Versunken in ihre Träume und bereit
für eine gemeinsame Zukunft, in der ein Ereignis wie dieses keinen
Platz hatte.
Lena versuchte,
diesen Gedanken zu vertreiben, trat ans offene Fenster, zog die
Vorhänge zurück und untersuchte Fußboden und Fensterbrett auf
Blutspuren. Abgesehen von der Leiche war die Umgebung des Fensters,
wie sie wusste, die Stelle, wo mit der größten Wahrscheinlichkeit
mit Hinweisen zu rechnen war. Da nichts zu sehen war, fragte sie
sich, ob das offene Fenster vielleicht eine Rolle in dem Drama
spielte, beugte sich hinaus, atmete in tiefen Zügen die frische
Luft ein und ließ den Blick über den Garten schweifen. Der Nebel
war dichter geworden, hielt sich unterhalb der Dachkante und
waberte über den Boden. Dennoch konnte sie jenseits des Zauns die
undeutlichen Umrisse eines Tennisplatzes erkennen und wusste, dass
sie den Rustic Canyon Park vor sich hatte.
Sie drehte sich
wieder zu Lamar um und beobachtete, wie er die Leiche aus
unterschiedlichen Perspektiven fotografierte. Nachdem er die erste
Filmrolle vollgeknipst hatte, nahm er die Kamera vom Auge und sah
Lena an. Obwohl die Dienststelle sich vor einigen Jahren
Digitalkameras geleistet hatte, wurden Tatortfotos noch immer mit
Rollfilm geschossen.
»Wir wollen die Decke
wegnehmen«, sagte Novak leise.
Lena trat aus der
Sicherheitszone und tastete sich um die Blutspritzer herum zum Bett
vor.
»Zuerst entferne ich
die Überdecke«, verkündete sie. »Es könnte etwas darunter versteckt
sein.«
Novak war
einverstanden. »Aber ganz langsam«, meinte er.
Lena packte die
Überdecke mit beiden Händen und zog sie weg. Darunter kam eine
weiße Decke zum Vorschein. Zwei Blutflecke stiegen von der Leiche
auf und sickerten durch den Stoff wie Lampenöl, das sich über den
Docht zur Flamme vorarbeitet. Während Lamar einen neuen Film
einlegte und die Blutflecke fotografierte, zeigte Lena auf Nikki
Brants Hals, den man nun besser sehen konnte. Die Plastiktüte war
der Frau nicht über den Kopf gelegt, sondern ihr übergestülpt und
am Hals zu einer ordentlichen Schleife geschnürt
worden.
Lamar knipste den
Knoten von der anderen Seite des Bettes aus. Lena musterte die Tüte
und versuchte, in der Hoffnung, den Namen des Supermarkts zu
ermitteln, trotz der Blutspritzer den Aufdruck zu entziffern. Als
sie sich deswegen vorbeugte, zuckte sie zusammen, denn durch das
milchige Plastik war das Gesicht der jungen Frau zu erkennen. Im
Schein von Lamars zuckendem Blitzlicht wurde der Anblick deutlicher
und dadurch noch unheimlicher. Nikki Brants Augen waren geöffnet,
und Lena hatte das Gefühl, als starre die Frau sie durch die
Plastiktüte an. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre
Blicke.
Ein eiskalter
Schauder lief Lena den Rücken hinunter. Sie holte tief
Luft.
Lamar ließ die Kamera
sinken. »Ich bin fertig, Lena.«
Sie nickte. Mühsam
versuchte sie, das Grauen zurückzudrängen. Bloß nicht daran denken.
Sie griff nach der Decke, zog sie weg und faltete sie vorsichtig,
ohne damit die Überdecke zu berühren. Inzwischen war der zierliche
Körper unter den Laken besser zu erkennen. Die beiden Blutflecke
waren klarer zu sehen. Als Lena eine weitere Decke zusammengeknüllt
am Fußende des Bettes bemerkte, wies sie Lamar darauf hin. Nachdem
die Fotos gemacht waren, packte sie mit beiden Händen das Laken und
zog die letzte Schicht weg, die Nikki Brants Leiche
bedeckte.
Schlagartig wurde es
still im Raum. Eine Weile rührte sich niemand, und keiner sprach
ein Wort, als alle Anwesenden sich des Ausmaßes des Grauens bewusst
wurden.
Das Bett war so
riesig, dass Nikki Brant darin wie ein Kind wirkte.
Sie lag mit
gespreizten Beinen auf dem Rücken. Ihre Hände befanden sich
seitlich der Hüften und waren wie der Kopf in an den Handgelenken
zusammengeschnürtes Plastik gewickelt. Ihr Körper war weich und
kurvig. Ihre kleinen, runden Brüste waren mit Blutergüssen bedeckt.
Spermaspuren, feucht, aber verschmiert, bedeckten das Laken
zwischen ihren Beinen. Aber es waren die beiden Stichwunden, die
Lena am meisten zu schaffen machten. Die erste befand sich dicht
unterhalb des Schlüsselbeins. Ein Durchstich, der glatt, aber
ungewöhnlich breit wirkte, fast als hätte man das Opfer
aufgespießt. Die zweite Wunde wies schartige Ränder auf. Offenbar
war das Messer von unten nach oben durch Nikki Brants Bauch gezogen
worden. Nach dem schweren Blutverlust und dem Zustand des Zimmers
zu urteilen, zweifelte Lena nicht daran, dass die junge Frau den
Großteil des Martyriums bei vollem Bewusstsein miterlebt
hatte.
»Was sagt uns das,
was wir hier vor uns haben?«, begann Rhodes mit kaum hörbarer
Stimme. »Sehen wir die Dinge, wie sie wirklich sind, oder nur das,
was jemand uns weismachen möchte?«
»Darüber sprechen wir
später«, erwiderte Novak.
Lena trat einen
Schritt näher heran, um die Wunden unter die Lupe zu nehmen.
Ähnliche Verletzungen waren ihr zwar schon untergekommen,
allerdings nicht in diesem Zusammenhang.
»Aufgeschlitzt«,
stellte sie fest. »So etwas habe ich mal in einem Drogenfall in
South L. A. gesehen.«
»Gangs tun so etwas,
um ihre Gegner zu schockieren«, ergänzte Novak. »Und um mit ihrer
Brutalität ihre Freunde zu beeindrucken.«
Lena wich vom Bett
zurück, als Lamar die Kamera zückte. Dabei ging sie im Geiste die
möglichen Motive durch. Bis jetzt wies nichts auf einen Einbruch
hin. Im Haus gab es nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Bis
auf Nikki Brant.
Wieder teilte sie die
Vorhänge, spähte in den Park jenseits des Zauns hinüber und fragte
sich, wie die Aussicht wohl an einem sonnigen Tag sein mochte. Oder
nachts von einem Auto auf dem Parkplatz aus. Hier war Wut im Spiel,
dachte sie. Eine Mordswut. Und eine gewaltige Überdosis
Hass.
Als Lena sich wieder
zum Zimmer umwandte, hatte Gainer sich dem Bett genähert, um die
Leiche zu untersuchen. Das Laken bedeckte noch einen Teil des
linken Fußes der jungen Frau. Gainer zog es weg und fuhr zurück.
Wortlos starrten alle auf den Fuß und zählten. Nikki Brants zweiter
Zeh fehlte. Also war doch etwas aus dem Haus entfernt
worden.
Gainer gab sich Mühe,
sein Entsetzen zu verbergen. Er war kreideweiß im Gesicht, als er
den Blick über die Leiche bis zur Plastiktüte über dem Kopf des
Opfers gleiten ließ.
»Ich glaube, die
sollten wir nicht abnehmen«, meinte er. »Zumindest nicht hier. Es
könnte etwas darunter sein, das sichergestellt werden muss. Was
denken Sie?«
»Wir brauchen ein
Foto von ihrem Gesicht«, widersprach Rhodes. »Ein Polaroid, um es
ihrem Mann zu zeigen. Außerdem muss sie auf Vergewaltigung
untersucht werden.«
»Ich verstehe«,
entgegnete Gainer. »Aber wenn wir die Tüte erst bei der Autopsie
entfernen, können wir mehr entdecken.«
Novak sah Gainer
nachdenklich an. »Wie lange wird das dauern?«
»Wir sind drei Tage
im Rückstand, Hank. Allerdings wette ich, dass wir sie unter den
gegebenen Umständen ganz oben auf die Liste setzen können. Wenn Sie
möchten, sorge ich dafür, dass sie noch heute am späten Nachmittag
obduziert wird.«
Rhodes trat in die
Sicherheitszone auf der anderen Seite des Bettes. »Was halten Sie
davon, die Tüte für das Foto ein Stück
aufzuschneiden?«
Gainer nickte.
»Klingt nach einem guten Vorschlag.«
»Dann machen wir es
so«, verkündete Novak.
Gainer förderte ein
rasiermesserscharfes Skalpell zutage und ließ die Klinge über die
Tüte gleiten. Als er die Plastikfolie zurückschlug und Nikki Brants
Gesicht freilegte, beugten sich alle vor.
»Feuchtigkeit«,
flüsterte er. »Als ihr die Tüte über den Kopf gestülpt wurde, hat
sie noch geatmet. Wir müssen das fotografieren, bevor es
trocknet.«
Gainer machte Lamar
Platz. Nach dem Polaroid griff Lamar wieder zur Nikon und
verknipste einen weiteren Film. Als das Blitzlicht erneut zu zucken
begann, betrachtete Lena Nikki Brants Gesicht und ihr zerzaustes
schwarzes Haar. Selbst mit offenen Augen, leerem Blick und in die
Ferne starrend war noch zu erkennen, dass das Opfer eine schöne
Frau gewesen war. Zumindest bis letzte Nacht. Sie hatte etwas
Unschuldiges an sich, das Lena nicht in Worte fassen
konnte.
»Hat jemand mit dem
Ehemann abgesprochen, wer die Angehörigen benachrichtigt?«, fragte
sie.
Novak konnte ihr
nicht in die Augen sehen. Kurz herrschte beklommenes
Schweigen.
»Sie ist Waise«,
erwiderte er schließlich. »Außer uns hat sie nur ihn.«
Es wurde still im
Raum. Bis auf das metallische Surren des Kameramotors war nichts zu
hören. Wie Lena wusste, hatte Novak mit der Antwort gezögert, weil
sie selbst auch Waise war. Und etwa im gleichen Alter wie Nikki
Brant. Als sie sich wieder zu der Leiche umwandte, stieg ein Gefühl
der Einsamkeit in ihr hoch, begleitet von einer tief empfundenen
Anteilnahme.
Im nächsten Moment
schien das Zimmer zu wackeln.
Für einen
Sekundenbruchteil dachte Lena an ein Erdbeben. Sie spürte, wie ihr
die Brust eng wurde, und sah Rhodes zusammenzucken. Novak hielt
sich an der Wand fest. Gainer ließ sein Skalpell
fallen.
Allerdings war es
kein Erdbeben – sondern Musik, die aus dem Radiowecker dröhnte.
Alle drehten sich zur Kommode um und sahen das dämliche Ding
finster an.
Lena griff danach und
fummelte an den Schaltern herum, bis sie den richtigen gefunden
hatte. Während die Musik von den blutigen Wänden widerhallte und
schließlich im trüben Dämmerlicht verstummte, drehten sich die
Anwesenden erneut zu der Leiche mit dem abgetrennten Zeh um und
sahen auf die Uhr. Der Schreck saß ihnen noch in den
Gliedern.
Der Wecker war auf
halb acht gestellt. Zeit zum Aufstehen für Nikki
Brant.