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Lenas Blick wanderte über den weißen Teppich zwischen
den auf dem Boden ausgebreiteten Büchern und folgte den Flecken,
die zum Schreibtisch führten. Es waren zwei, so klein und farblos,
dass sie ihr vorhin bei ihrer ersten oberflächlichen Musterung des
Raums gar nicht aufgefallen waren.
Als ein
Kriminaltechniker mit einer Ultraviolettlampe in die Vorhalle kam
und den Flur entlang zum Schlafzimmer ging, machte Lena ihm Platz.
Dann legte sie ihr Notizbuch auf den Boden und schlüpfte unter dem
Absperrband durch, das über die Tür gespannt war. Auf dem Bauch
robbte sie über den Teppich, bis sie den ersten Fleck erreicht
hatte.
Da ihr Herz wie wild
klopfte, versuchte sie sich zu beruhigen.
Es war Sperma, wegen
der feuchtkalten Luft noch nicht angetrocknet.
Lena kroch weiter.
Unter dem Schreibtisch entdeckte sie, verborgen im Schatten des
Stuhls, einen dritten Fleck. Nachdenklich schaute sie darauf. Als
sie jemanden in die Vorhalle kommen hörte, drehte sie sich um und
sah, dass Novak auf die Tür zusteuerte.
»Weißt du, wo der
Thermostat ist?«, fragte er. »Gainer versucht, den Todeszeitpunkt
abzuschätzen. Sie wollen die Leiche jetzt bewegen.«
»An der Wand hinter
dir«, erwiderte sie. »Aber ich habe mir die Temperaturen schon
notiert. Was meint er?«
Novak bückte sich und
hob Lenas Notizbuch auf. »Zwischen eins und drei. Die Leichenstarre
beginnt gerade.«
Lena holte tief Luft,
starrte auf den Teppich und dachte an das Grauen, das sich aus
ihrer Entdeckung schließen ließ. Dann wandte sie sich zu Novak um,
der gerade ihre Notizen durchblätterte. Er studierte ihre
Grundrisszeichnungen vom Schlafzimmer, als könnten die Linien und
Maße einer Welt, die gerade aus der Umlaufbahn gerissen und ins All
geschleudert worden war, wieder Gestalt geben.
»Was du suchst, steht
auf der ersten Seite«, sagte Lena.
Nickend blätterte er
weiter, bis er sie gefunden hatte.
»Wir haben ein
Problem, Hank.«
»So könnte man es
ausdrücken.«
Er war
geistesabwesend und hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Nachdem er die
Temperaturen auf ein weißes Blatt Papier geschrieben hatte, legte
er das Notizbuch wieder weg.
»Der Mörder ist nicht
sofort nach der Tat geflohen«, begann Lena.
Novak richtete sich
auf. »Vielleicht.«
»Da gibt es kein
Vielleicht. Nachdem er Nikki Brant umgebracht hatte, saß er hier an
diesem Schreibtisch und hat den Computer benutzt. Hast du je von
einem Mörder gehört, der anschließend noch ein bisschen bleibt, um
im Internet zu surfen?«
Er sah sie fragend
an. Nun hatte sie seine Aufmerksamkeit.
»Was machst du denn
da auf dem Boden?«, erkundigte er sich endlich.
Wortlos wies sie auf
den Teppich. Novaks Augen folgten ihrem Finger und blieben an dem
ersten Spermatropfen hängen. Eine Pause entstand, als keiner von
beiden wagte, seine Vermutung auszusprechen, aus Angst vor den
Kreisen, die sie ziehen könnte.
»Gainer glaubt nicht,
dass sie vergewaltigt wurde«, meinte Novak. »Die Vagina weist keine
Blutergüsse auf. Seiner Ansicht nach hat sie mit jemandem
geschlafen, den sie kannte.«
Der Satz hallte Lena
in den Ohren wider. Jemand, den sie
kannte.
Sie dachte an das
Sperma, das sie auf dem Laken zwischen Nikki Brants Beinen gefunden
hatten. Das Aussehen ihrer Vagina und das Fehlen sichtbarer
Körperflüssigkeiten. Jemand hatte versucht, sie
sauberzuwischen.
»Was ist mit der
Autopsie?«, wollte sie wissen.
»Wir haben einen
Termin«, antwortete Novak. »Heute am späten Nachmittag. Ich habe
Lamar gebeten, sich dort mit uns zu treffen.«
»Wir brauchen
UV-Lampen«, meinte Lena. »Um dieses Zimmer zu untersuchen. Und der
Computer muss ins Labor.«
Novak stimmte zu und
betrachtete noch einmal die Spermaspuren auf dem Teppich. Als Lena
gerade aufstehen wollte, kam Rhodes aus der Küche in die
Vorhalle.
»Jetzt wird es
langsam absurd«, verkündete er. »Schaut euch das an.«
Lena duckte sich
unter dem Absperrband durch und folgte Novak in die Küche. Die
Spülmaschine war offen. Rhodes deutete auf das dreißig Zentimeter
lange Küchenmesser in der oberen Schublade. Die scharfe Klinge war
aus einem einzigen Stück Karbonstahl geschmiedet und kam als
Mordwaffe in Frage. Auf der Arbeitsplatte bemerkte Lena einen
Holzblock mit sechs weiteren dazu passenden Messern. Der siebte
Schlitz war leer und wartete darauf, dass die Spülmaschine den
Insassen wieder freigab.
»Jemand hat gespült«,
stellte Rhodes fest, »war aber offenbar so in Eile, dass er die
Teller vom Abendessen vergessen hat.«
Lena warf einen Blick
auf das Geschirr in der Spüle – Dinner for
One – und drehte sich dann wieder zur Spülmaschine um. Die
Schubladen waren nur halb voll, der Inhalt war sauber. Sie streifte
die Gummihandschuhe ab und kramte ein frisches Paar aus der Tasche
ihres Blazers. Dann griff sie nach einer Untertasse in der oberen
Schublade, um die Temperatur zu fühlen, die noch immer deutlich
über der des Raumes lag. Offenbar hatte man die Spülmaschine einzig
und allein deshalb laufen lassen, um das Messer zu sterilisieren.
Sie reichte Rhodes die Untertasse. Er schmunzelte, als er die
Restwärme durch den Handschuh spürte. Aller Wahrscheinlichkeit nach
handelte es sich bei dem Messer in der oberen Schublade um die
Mordwaffe.
»Ein Waschgang dauert
neunzig Minuten«, verkündete er. Lena rechnete nach. »Dann wurde
die Spülmaschine gegen drei eingeschaltet.«
Sie sah ihren Partner
an. Dieser starrte gerade erschüttert in eine offene Schublade
neben dem Herd. Sie war bis zum Rand mit Einkaufstüten gefüllt,
eine grausige Entdeckung, gegen deren Wucht sie machtlos waren, so
sehr sie sich auch dagegen wehrten.
»Es sind die gleichen
wie die, die seine Frau über dem Kopf hat«, verkündete Rhodes.
»Alle aus demselben Laden. Hollywood Veggie
Mart. Allerdings ist der gar nicht in Hollywood, sondern
unten am Pacific Coast Highway. Gehört nicht zu einer Kette. Es
gibt in der ganzen Stadt keine andere Filiale.«
Lena schaute aus dem
Fenster und beobachtete, wie Tito Sánchez aus dem Wagen stieg und
auf das Haus zukam. James Brant saß noch auf dem Beifahrersitz.
Aber er weinte nicht mehr, und sein verquollenes Gesicht hatte
einen harten Ausdruck angenommen. Als Sánchez hereinkam, schob
Novak ihn in die Küche.
»Was sagt
Brant?«
»Dasselbe, was ich
euch schon erzählt habe. Er wiederholt sich. Außerdem muss er aufs
Klo.«
»Dafür hat man
Nachbarn«, entgegnete Rhodes.
Novak wandte sich
wieder an Sánchez. »Ihr habt doch den Vormittag miteinander
verbracht. Was hältst du von dem Burschen?«
»Ich blicke da nicht
ganz durch. Er ist wütend. Nervös. Unruhig. Aber wahrscheinlich
wäre es bei mir ganz ähnlich, wenn es meine Frau erwischt
hätte.«
»Und
beruflich?«
»Keine Feinde. Eine
große, glückliche Familie.«
»Dann traust du ihm
also?«, hakte Novak nach.
Sánchez bemerkte das
Messer in der Spülmaschine und verstand, woher der Wind wehte. Die
Wende.
»Das habe ich nicht
behauptet. Ich weiß es einfach nicht, Hank. Alles ist
möglich.«
»Was ist mit
Fingerabdrücken?«, fragte Lena.
»Die hat die
Kriminaltechnik ihm schon abgenommen«, antwortete Sánchez. »Um
seine Abdrücke ausschließen zu können. Das wurde erledigt, während
sie darauf gewartet haben, ins Haus zu können.«
Das verräterische
Geräusch von Rädern im Flur kam wie auf Stichwort und schien die
bedrohliche Atmosphäre noch zu unterstreichen.
Wie alle anderen
drehte auch Lena sich um und blickte der Bahre nach, die durch die
Vorhalle und zur Tür hinausgeschoben wurde. Nikki Brant war so
zierlich, dass sie den blauen Leichensack kaum zur Hälfte
ausfüllte. Als Gainer den Kopf zur Tür hereinsteckte, zog Novak ein
Blatt Papier aus der Tasche und reichte es ihm.
»Die Temperaturen«,
verkündete er.
Mit einem Nicken gab
Gainer ihm die Empfangsbestätigung für die Leiche und ging
davon.
Novak trat zu Lena an
die Spülmaschine, um noch einen Blick auf das Messer zu werfen. Ein
Sonnenstrahl fiel durch das Fenster herein und ließ die Klinge
aufblitzen.
»Ich denke, es ist an
der Zeit auszunutzen, dass wir zu viert sind«, meinte er zu
ihr.
»Sollen wir uns
aufteilen?«
»Wir überprüfen am
besten sein Alibi, während die anderen hier weitermachen«,
erwiderte Novak. »Außerdem sollte das Messer bei der Autopsie
berücksichtigt werden. Also stellen wir es jetzt am besten
sicher.«