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Bebend vor Erregung sah Fellows zu, wie zwei
Scheinwerferpaare an seinem Auto vorbeiglitten. Nach einer Weile
ließ er den Motor an und folgte dem zweiten Wagen den Hügel
hinauf.
Er wusste ihren
Namen. Lena Gamble. Denn er hatte über sie in der Zeitung gelesen
und sogar im Fernsehen einen Blick auf sie erhaschen können. Doch
sie im Mordhaus in der Vista Road leibhaftig vor sich zu sehen war
wie eine Erleuchtung gewesen.
Als sie in die Küche
kam, versteckte er sich im Esszimmer. Verärgert über die Störung,
verharrte er in der Dunkelheit, bis er sie schließlich erkannte. Er
folgte ihr durchs ganze Haus. Beobachtete sie. Sog ihren Geruch
ein. Gebannt von der Wucht der Eindrücke. Sie war wie eine
Vision.
Vermutlich war sie
als Kind blond gewesen. Ihm gefiel es, wie ihr nun als Erwachsene
das hellbraune zerzauste Haar über die Schultern fiel. Ihre müden
Augen waren so blau wie ein Wasserfall vor einem frühmorgendlichen
Himmel. Aber es war der Anblick ihres Körpers, der ihn bis ins Mark
erschütterte. Wie sie auf sich achtete. Ihre unter der Kleidung
verborgenen Kurven, die er nur mit geschlossenen Augen sehen
konnte.
Sie fuhr einen
zerbeulten Honda Prelude. Als sie am Mullholland Drive rechts
abbog, ging er vom Gas, denn der Crown Vic war nach links gefahren,
sodass sie nun die einzigen beiden Autos auf der Straße waren.
Einige Minuten später sah er sie wieder rechts abbiegen und den
Hügel hinunter zur Franklin Avenue fahren.
Er stellte sich vor,
wie es sein mochte, sie zu berühren. Seine gesamte Willenskraft
hatte er aufbieten müssen, um es nicht zu tun. Noch immer sah er
sie vor sich, wie sie vor der Schlafzimmertür stand, während er
sich in dem leeren Wäscheschrank direkt hinter ihr versteckte. Er
hörte ihren Atem, während er die verschiedenen Düfte ihres Körpers
in sich aufsog. Am liebsten hätte er sie sofort genommen. Auf dem
Boden eines Mordhauses. In der Dunkelheit und Grabesstille, in der
er nachdenken und er selbst sein konnte. Er hörte ihr Stöhnen und
ihre Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte.
Romeo.
Romeo.
Das Beste daran war,
dass sie seine Gegenwart gespürt hatte. Da war er ganz sicher.
Ständig hatte sie mit ihrer Taschenlampe den Flur abgeleuchtet und
mit einem wissenden Blick in die Dunkelheit gestarrt. Er hatte ihr
angemerkt, dass sie fieberhaft nachdachte. Sie wusste, dass er da
war, konnte ihn aber in der Finsternis nicht finden. Sie konnte
nicht sehen, wie er von Zimmer zu Zimmer glitt. Nur fühlen konnte
sie ihn, während sie zum ersten Mal allein miteinander waren, so
nah.
Im nächsten Moment
bemerkte Fellows, wie sich seine Erektion gegen den Sicherheitsgurt
presste. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und kurz darauf
begann sein ganzer Körper zu glühen. Das warme Gefühl brachte ihn
zum Lächeln. Er ließ das Auto nicht aus den Augen.
Der Prelude nahm die
Unterführung unter dem Freeway 101, bog an der Gower Road links ab
und fuhr weiter in die Hügel hinein.
»Nach Hause«,
flüsterte er. »Die Nacht ist noch nicht vorbei.«
Sie passierten ein
Stoppschild. Die Straße wurde steiler. Als ihr Auto hinter der
ersten Kurve verschwand, schaltete Fellows die Scheinwerfer ab und
rollte hundert Meter weiter, bevor er sie wieder einschaltete.
Diesen Trick benutzte er öfter, wenn er jemanden in den Hügeln
verfolgte. Er hatte ihn von Mick Finn gelernt, der ihm eines Nachts
erklärt hatte, alles sei nur eine Frage der Wahrnehmung, und zwar
nicht der eigenen, sondern der der beschatteten Person. Wer die
Scheinwerfer abschaltete, verschwand und wurde als Auto
wahrgenommen, das von der Straße abgebogen war. Schaltete man sie
später wieder ein, hielt der Verfolgte einen für ein anderes Auto,
das gerade um die Kurve kam. Ein Auto, das vorhin noch nicht da
gewesen war. Jemanden, der zufällig denselben Weg
hatte.
Es hatte wieder
geklappt. Fellows wusste das, als Lena Gamble in ihre Auffahrt
einbog, während er am Haus vorbeifuhr. Sie stieg aus ihrem Prelude
und ging zur Haustür.
Er spürte, wie das
Adrenalin durch seine Adern pulste, und umfasste das Lenkrad
fester. Ein Stück die Straße hinauf fand er einen Parkplatz vor dem
nächsten Haus und kehrte zu Fuß zurück. Heute Nacht lag etwas in
der Luft, ein elektrisches Knistern, das er nicht richtig
beschreiben konnte. Er wusste nur, dass der Wind, der gegen seine
Brust wehte, ihn nicht abkühlen konnte.
Er musste wenigstens
noch einmal hinschauen. Sie noch eine Weile betrachten, sie
studieren und sich ausmalen, wie es sein würde, wenn sie zusammen
waren. Sich eine Welt vorstellen, in der Harriet Wilson ihm keinen
Korb gab, sondern in der er sie wegen
einer anderen Frau verließ. Wegen dieser Frau. Der Frau mit dem zerzausten
Haar.
Er umrundete die
Hügelkuppe und schlich die Auffahrt entlang. Dann suchte er sich
ein Fenster aus. Er fühlte sich wie im siebten Himmel, denn es war
ein Schlafzimmerfenster. Ein Schlafzimmer im Erdgeschoss. Dahinter
lag das Wohnzimmer. Er beobachtete, wie sie sich ein Glas Wein
einschenkte und zum CD-Spieler ging. Dann setzte sie sich aufs Sofa
und zog die Stiefel aus. Trotz des Windes hörte er die Musik, die
durchs Haus hallte. Es war ein Saxophon.
Er lauschte eine
Weile und genoss den Anblick, während das Saxophon klagte und sang.
Und plötzlich wurde ihm klar, dass die Frau, die er beobachtete –
die Vision, der er nach Hause gefolgt war -, offenbar Schmerzen
litt. Das erkannte er an ihren verschleierten Augen. Daran, wie
ihre Lippen sich öffneten, und daran, wie oft sie an ihrem Weinglas
nippte. Sie hörte Musik, und anscheinend ging es ihr nicht gut. Als
das Lied endete, schien der Schmerz nicht etwa aufzuhören, sondern
schlimmer zu werden.
Er wich vom Fenster
zurück und musterte, auf der Suche nach einer Schwachstelle, das
Haus. Er musste hinein. Er sehnte sich nach ihrer Nähe. Die Nacht
war noch nicht vorbei.