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Lena bemerkte den Transporter in der Auffahrt und
stoppte vor dem Haus. Die Eingangstür stand offen, und sie stellte
fest, dass drinnen Maler an der Arbeit waren.
»Bist du sicher, dass
die Adresse stimmt?«, fragte Novak.
»Wir sind hier
richtig.«
»Dann ist Harriet
Wilson tot, falls er sie wirklich hierhergebracht
hat.«
Lena versuchte, nicht
daran zu denken, als sie ausstieg. Das Haus sah ganz anders aus,
als sie erwartet hatte. Es stand zu dicht bei seinen Nachbarn und
hatte zu viele Glasfronten. Sie drehte sich zu dem einen knappen
Kilometer entfernten Ozean um. Dann betrachtete sie den Balkon im
ersten Stock. Wenn Fellows’ Leben sich, wie sie annahm,
hauptsächlich im Verborgenen abspielte, verbrachte er sicher nicht
sehr viel Zeit hier.
Sie eilten die Stufen
hinauf. Als sie oben an der Tür ankamen, stieg ein Japaner, der
einen weißen Overall trug, im Vorraum von der Leiter. »Er nicht
da«, rief er.
Seine Stimme klang
schrill. Da Lena das Gesicht des Mannes nicht gefiel, zückte sie
die Polizeimarke, während er auf sie zukam. Er war schätzungsweise
fünfzig und hatte Farbsprenkel an den Armen und im Haar. Augen und
Mund waren frei von Lachfältchen.
»Er nicht da«,
wiederholte er. »Er packen Tasche, schlafen Freund.«
»Wer ist dieser
Freund?«, erkundigte sich Lena.
Der Mann zuckte die
Achseln. »Wir anfangen gestern. Er wohnen Freund. Mag nicht
Gestank.«
»Wir auch nicht«,
entgegnete Novak. »Sie müssen gehen.«
Der Mann glotzte ihn
an, als könne oder wolle er ihn nicht verstehen.
Novak machte einen
Schritt vorwärts. »Packen Sie Ihre Siebensachen und verschwinden
Sie. Polizeiliche Ermittlungen.«
Lena nahm eine der
Blanko-Visitenkarten aus der Tasche, trug ihren Namen und ihre
Nummer ein und reichte sie dem Maler. Während einer seiner
Mitarbeiter mit dem Aufräumen begann, betraten sie und Novak das
Haus. Da sie noch immer auf die richterliche Anordnung warteten,
würde sich ihre Suche vorerst auf Harriet Wilson – tot oder
lebendig – beschränken müssen.
Lena sah sich im
Erdgeschoss um. Nachdem die Maler ihre Planen entfernt hatten,
stellte sie fest, dass Wohnzimmer und Esszimmer sehr kärglich
möbliert waren. Bis auf einen Mixer waren die Arbeitsflächen in der
Küche leer. Als sie in alle Schränke schauten, entdeckten sie eine
Tür, die in den Keller führte. Die Fenster waren mit schwarzer
Farbe überstrichen. An der Wand neben dem Heizkessel und einem
hohen Spiegel hing ein Poster, das Arnold Schwarzenegger in den
Siebzigerjahren beim Training in Gold’s Gym zeigte. In der Mitte
des Raums befanden sich ein Ständer mit Hanteln, eine Bank und eine
Gewichtstange. Lena sah nach, wie schwer sie waren.
»Wie viele Kilos?«,
fragte Novak.
»Einhundertfünfzig.«
»Und die
Hanteln?«
»Fünfzig pro
Stück.«
Als sie wieder nach
oben eilten, bemerkte Lena ein Funkeln in Novaks Augen. Er schien
besorgt. Irgendwann würden sie dem Wahnsinnigen gegenübertreten
müssen. Und sie hatten nicht die geringste Chance, ihn zu
überwältigen.
Dieser Gedanke ließ
sich nicht so leicht abschütteln und folgte ihnen hinauf in die
Vorhalle. Die Maler fuhren gerade davon und hatten die Eingangstür
offen gelassen. Lena lauschte in die Stille hinein, war aber zu
unruhig, um stehen zu bleiben. Sie gingen die Treppe hinauf in den
ersten Stock, wo sie dem Lichteinfall ins Schlafzimmer folgten, das
an der Vorderseite des Hauses lag. Lena betrachtete die
Doppelbetten, bemerkte eine Bibel auf dem Nachttisch, schenkte ihr
jedoch keine weitere Beachtung. Stattdessen riss sie die Tür des
Wandschranks auf. Als Novak im Badezimmer Licht machte, ließ sie
den Blick über Waschbecken und Ablage gleiten.
»Für Haarbürste oder
Kamm hat er vermutlich nicht viel Verwendung«, meinte Novak. »Aber
wir müssten hier genug fürs Labor finden.«
Mehr als genug,
dachte sie. Sie bemerkte zwei Rasierer, zwei Tuben Zahnpasta, zwei
Zahnbürsten und zwei leere Ampullen einer Substanz namens Ganabol
neben zwei benutzten Spritzen. Alles war doppelt vorhanden. Bei
einem Mann ohne Freunde, den die Kellnerin »Mr. Doppelportion«
genannt hatte.
Sie gingen hinaus und
den Flur entlang, bis dieser eine Kurve beschrieb. Die Tür an
seinem Ende war mit einem Riegel und einem Vorhängeschloss
gesichert. Lena tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und
betätigte ihn. Als sie näher herantrat, hörte sie Novaks raschen
Atem und auch ihren eigenen. Sie waren in Martin Fellows’ Haus. In
Romeos Haus. Und starrten voller Schrecken auf eine verschlossene
Tür.
Im nächsten Moment
rief jemand ihren Namen. Laut. Ängstlich. Sie brauchten eine Weile,
bis ihnen klar war, dass es sich um Lieutenant Barrera
handelte.
»Haben Sie den
Durchsuchungsbefehl?«, erwiderte Novak.
»Ich habe ihn«,
entgegnete Barrera. »Wo sind Sie?«
»Hier
oben.«
Novak biss die Zähne
zusammen und brach die Tür mit einem kräftigen Tritt auf. Die
Detectives machten einen Schritt vorwärts und blieben dann wie
angewurzelt stehen. Als Lenas Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt
hatten, wurde ihr klar, dass Fellows die Tür nicht abgeschlossen
hatte, um andere am Betreten des Raums zu hindern. Ihm kam es eher
darauf an, etwas darin zu bewahren.
Barrera stand hinter
ihnen und schnappte nach Luft. »Um Himmels willen!«
Alles im Raum war von
einer anderthalb Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt. Die
Fenster waren so schmutzig, dass sie wie überstrichen aussahen, das
Sonnenlicht aussperrten und den Raum so in ständige Dunkelheit
hüllten. Lena fiel auf, dass die altmodischen Möbel nicht mit dem
Stil des übrigen Hauses übereinstimmten. Sie passten auch nicht zur
Tapete, die eindeutig in ein Kinderzimmer gehörte. Sie kam zu dem
Schluss, dass Fellows wahrscheinlich in diesem Zimmer aufgewachsen
war und die Möbel ausgetauscht hatte.
»Was ist in diesen
beiden Schachteln?«, fragte Barrera.
Lena drehte sich zum
Bett um. Auf dem Kopfkissen lagen zwei Schachteln, etwa so groß wie
Schuhkartons. Sie waren in braunes Papier verpackt und sahen aus,
als seien sie mit der Post gebracht, jedoch nie geöffnet
worden.
Lena zog Handschuhe
an und näherte sich dem Bett. Auf dem Boden lag der Staub so dicht,
dass sie Fußspuren hinterließ, als ginge sie auf dem Mond. Als sie
das erste Päckchen zur Hand nahm und es abstaubte, entstand eine
dichte Wolke vor ihrem Gesicht. Sie studierte Poststempel, Adresse
und Absender. Beide Päckchen waren an Martin Fellows adressiert und
kamen vom Krematorium in Hollywood.
»Was ist das?«,
wollte Barrera wissen. »Was ist da drin?«
Lena las die Namen
auf den Aufklebern und rechnete die Daten nach. »Seine
Großeltern.«
»Seine
was?«
»Seine Großeltern.
Ihre Asche wurde vor einundzwanzig Jahren an diese Adresse
geschickt.«
Ein Schauder lief ihr
den Rücken hinunter. Dann kam ein Lichtblitz. Das Ungeheuer nahm
immer konkretere Gestalt an. Sie warf Novak, der neben Barrera an
der Tür stand, einen Blick zu. Dann hörte sie Schritte auf der
Treppe. Die Spurensicherung war da.
»Er ist bei seinen
Großeltern aufgewachsen«, sagte Novak. »Hier hat er seine Kindheit
verbracht.«
»Worauf wollen Sie
hinaus?«, fragte Barrera.
Als Lena ihrem
Partner in die Augen sah, leuchteten sie hell und lebhaft, und auf
einmal war alles sonnenklar.
»Von allem zwei«,
meinte Novak. »Er hat ein zweites Haus.«