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Inzwischen strahlte der Fall wie ein Atompilz,
brachte die Atmosphäre zum Leuchten und ließ nichts übrig als die
Reste von Mauern, hinter denen Menschen in einem gleißenden
Feuerball verglüht waren.
Lena war so
aufgeregt, dass ihr Mund sich ganz trocken anfühlte.
Sie hastete über die
Straße und folgte Novak ins Polizeiparkhaus, ein dreistöckiges
Gebäude, das wirkte wie aus Bauklötzchen zusammengesetzt, sodass
eine Kinderhand es jederzeit zum Einsturz bringen konnte. Der Crown
Vic stand neben dem Wachhäuschen im Erdgeschoss, mit dem Heck zur
Wand und fahrbereit.
»Ich fahre«, rief
Novak.
Nachdem sie aus dem
Gebäude auf die San Pedro gerollt waren, gab Novak
Gas.
»Hältst du es für
möglich, dass Holt es wirklich getan hat?«
Lena sah ihn
an.
»Schon gut«, meinte
er. »Ich wusste, dass es eine schwachsinnige Frage ist. Ich wollte
nur auf Nummer sicher gehen.«
Sie öffnete das
Fenster und ließ sich die kühle Luft ins Gesicht wehen, während das
Parker Center hinter ihr immer kleiner wurde. Sánchez und Rhodes
waren dort damit beschäftigt, etwas Unfassbares zu tun: Sie
schlossen einen Mordfall ab, indem sie einen Unschuldigen mit
Indizienbeweisen belasteten. Einen Toten, der sich nicht mehr
wehren konnte. Je länger Lena darüber nachdachte, desto klarer
wurde ihr, was das zu bedeuten hatte. Eine der wichtigsten Zutaten
war verdorben, und jetzt schmeckte die ganze Mischung
faulig.
Als sie den Freeway
erreichten, erhöhte Novak die Geschwindigkeit noch einmal,
wechselte auf die linke Spur und schaltete das Blaulicht ein. Bei
einhundertfünfzig Sachen begann der Wagen zu schaukeln. Novak
angelte seinen Aktenkoffer vom Rücksitz und legte ihn Lena auf den
Schoß.
»Mach auf«, sagte er,
»ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie öffnete die
Schließen und spähte hinein.
»Die losen Papiere
ganz oben«, meinte er.
Als sie die Seiten
herausholte, bemerkte sie sofort, dass es sich um eine der
Fallzusammenfassungen aus der Datenbank der sexuellen Übergriffe
handelte, die sie vor zwei Tagen untereinander aufgeteilt
hatten.
»Behalt das Ding«,
sprach Novak weiter. »Trag es in deinen Stadtplan ein. Meiner
Ansicht nach ist das Nummer zwei auf deiner Liste.«
Lena überprüfte das
Datum. Die Vergewaltigung war im letzten November angezeigt
worden.
»Nach unserem
Gespräch habe ich meinen Stapel durchgeschaut. Dabei ist mir dieser
Fall hier buchstäblich entgegengesprungen.«
Das Auto vibrierte
derart, dass Lena kaum lesen konnte. Dennoch überflog sie die
Seite, so gut es ging. Die Vergewaltigung hatte sich in Santa
Monica ereignet, also in Romeos näherem Wohnumfeld. Die Frau war
mitten in der Nacht aufgewacht und hatte den Mann in ihrem Bett für
ihren Ehemann gehalten. Als ihr einfiel, dass dieser ja
geschäftlich verreist war, lag der Täter bereits auf ihr. In ihrer
Todesangst meldete sich ihr Überlebensinstinkt, sodass sie die
Augen schloss und alles über sich ergehen ließ, anstatt um Hilfe zu
schreien. Sie stellte sich halb schlafend, bis der Eindringling
fertig war. Sobald sie hörte, wie er aus dem Fenster kletterte,
rief sie die Polizei an. Da sie die Augen geschlossen gehabt hatte
und die Tat bei Dunkelheit geschehen war, konnte sie über den Täter
nur sagen, dass seine Brust sehr muskulös gewesen sei. Außerdem
habe er vermutlich eine Glatze gehabt, und seine Haut habe sich
ungewöhnlich glatt angefühlt.
»Was ist mit der
DNA?«, erkundigte sie sich.
»Er hat kein Kondom
benutzt. Es wird noch nach den Proben gesucht.«
Der Tathergang passte
ausgezeichnet. Bis auf das Nachspiel deckte er sich haarklein mit
ihrer Theorie im Fall Nikki Brant. Wenn die Vergewaltigungen im
vergangenen Oktober begonnen hatten und einmal monatlich
stattfanden, hatte es mit Ausnahme des Februar jeden Monat eine Tat
gegeben. Nach dem Februar war offenbar etwas passiert, was aus dem
Vergewaltiger einen Mörder gemacht hatte.
Novak warf ihr einen
Seitenblick zu.
»Du bist eine gute
Polizistin, Lena«, versuchte er, den Fahrtwind zu übertönen. »Lass
dich von diesem Mist nicht unterkriegen. Du hattest ziemlich viel
Pech in letzter Zeit. Etwas Schlimmeres, als zum Tatort gerufen zu
werden, wenn das Opfer der eigene Bruder ist, kann einem gar nicht
passieren. Wenn ich diese Nacht ungeschehen machen könnte, würde
ich es tun. Aber du musst darüber hinwegkommen. Du hast echtes
Talent und einen gut entwickelten Instinkt. Als Einzige von uns
hast du ein Muster erkannt. Dir ist es zu verdanken, dass wir uns
jetzt vorstellen können, wie der Dreckskerl aussieht und wo er
wohnt.«
Lena sah ihn an. Er
versuchte, ihr Mut zu machen, und sie wusste, dass er ein echter
Freund war. Als er sich wieder der Straße zuwandte, folgte sie
seinem Blick zu einem tiefer gelegten Honda Civic, der trotz
Anwesenheit eines Polizeiautos mit einhundertvierzig Sachen über
den Cahuenga Pass bretterte. Der Fahrer war schätzungsweise zwanzig
und hatte einen rasierten Schädel. Während sie den Wagen
überholten, zeigte der junge Mann ihnen den Stinkefinger. Zehn
Minuten später schlängelten sie sich durch die wartenden Reporter,
stoppten vor Burells Haus und gingen die Straße hinunter zur
Tür.
Der Wagen des
Leichenbeschauers parkte in der Einfahrt. Spurensicherungsexperten
liefen abwartend umher. Während Lena und Novak sich unten auf einer
langen Liste eintrugen, kam ein Detective aus dem Haus, blieb auf
der Vortreppe stehen und stellte sich als Jeff Brown
vor.
»Danke, dass Sie
gekommen sind«, sagte er zu Lena. »Bei der Durchsuchung von Burells
Büro haben wir Ihre Karte gefunden. Weil die Nachrichten ständig
Meldungen über Ihren Romeo bringen, dachte ich, ich mache erst Mal
Pause und verständige Sie.«
»Wie lange sind Sie
schon hier?«, fragte Novak.
»Lange genug, um mir
ein Bild davon zu machen, worauf der Ermordete so gestanden
hat.«
Beim Lächeln verzog
Brown das Gesicht. Lena fand ihn auf Anhieb sympathisch. Er war
gebaut wie ein Footballspieler und etwa fünfundvierzig Jahre alt.
Seine Haut hatte die Farbe von Kakao, das Haar trug er kurz
geschnitten. Er hatte ein flächiges, breites Gesicht, das von
tiefen Lachfalten durchzogen war. Bekleidet war er mit einem
hellbraunen Anzug, einem gestärkten weißen Hemd und einer
gemusterten Krawatte.
Lena sah zu den
anderen Häusern in der Straße. »Was ist mit den
Nachbarn?«
Brown schüttelte den
Kopf. »Nichts. Burell mag seinen Lebenswandel für ein großes
Geheimnis gehalten haben, doch alle wussten, dass dieses Haus ein
Liebesnest ist. Das Ehepaar nebenan hat sogar ein Fernrohr im
Fenster stehen, das auf den Whirlpool des Typen gerichtet ist, aber
die beiden sind schon über achtzig und eher Zielgruppe für die
Nachmittagsvorstellung. Gestern Abend sind sie früh schlafen
gegangen. Die anderen Nachbarn haben Kinder und ziehen die
Rollläden zu.«
Lena bemerkte, dass
Novak ein Grinsen unterdrücken musste. Brown schaute zu den
Fernsehkameras auf dem Hügel am Ende der Straße.
»Lassen Sie uns nach
unten gehen«, schlug der Detective vor. »Ich habe niemandem
erlaubt, die Leiche zu berühren, bevor Sie hier sind. Der Tatort
sieht ziemlich seltsam aus. Man braucht eine Weile, um sich daran
zu gewöhnen.«
Sie traten ins Haus.
Auf dem Weg in die Küche und die Treppe hinunter sah Lena das Foto
von Burell und seiner Exfrau auf dem Fensterbrett. Beim Anblick von
Burells Leiche auf dem Krankenhausbett wusste sie auch ohne
Schlüsselelemente, dass Romeo hier gewesen war.
Das Kopfende des
Bettes war hochgestellt, Burell wurde von Kissen gestützt. Er trug
ein Krankenhausnachthemd. Ein falscher Infusionsschlauch war mit
Klebeband an seinem Arm befestigt. Sein Kinn und der Großteil des
Gesichts waren mit Schnittverletzungen und Blutergüssen bedeckt.
Doch die Augen waren es, die die Szene so besonders makaber
machten. Nach Burells Tod hatte Romeo das rechte geschlossen und
das linke offen gelassen, sodass er Lena aus dem Jenseits
zuzuzwinkern schien.
Obwohl ihr ein
Schauder den Rücken hinunterlief, trat sie einen Schritt näher
heran. Etwas quoll dem Mann aus Mund, Nase, ja, sogar aus den
Ohren. Es war ein pulvriger blauer Schaum. Dann bemerkte sie die
Blutlache unterhalb von Burells Taille und denselben blauen Schaum
unter seinem Gesäß.
Novak stieß sie an
und wies auf das Regal hinter dem Bett. Zwölf leere Döschen Viagra
waren dort ordentlich aufgereiht. Lena betrachtete Burells Leiche,
sein Gesicht und das eine tote Auge und malte sich aus, wie er wohl
ermordet worden war.
»Viagra«, stellte
Brown fest. »Burell hat sich das Dreckszeug kartonweise aus Mexiko
liefern lassen. Aber das ist noch nicht alles. Vermutlich möchten
Sie einen Blick unter das Nachthemd werfen.«
Schmunzelnd blickte
er auf Burells Schritt. Die Assistentin des Leichenbeschauers, eine
zierliche Asiatin, die Lena schon einige Male getroffen hatte,
hatte den gleichen Gesichtsausdruck, als sie das Nachthemd anhob.
Lena musterte die Wunde. Burell war kastriert worden. Zwischen
seinen Beinen war nichts mehr übrig.
Brown schüttelte den
Kopf. »Der Mann hatte keinen leichten Tod. Er ist gestorben wie ein
Held. Da kriegt der Ausdruck schwanzloses Ungeheuer eine ganz neue
Bedeutung.«
Er schnalzte mit den
Lippen und trat erschaudernd einen Schritt zurück. Einige im Raum
lachten nervös auf.
»Haben Sie das Haus
durchsucht?«, fragte Novak.
»Wir haben alles auf
den Kopf gestellt«, erwiderte Brown. »Aber außer seinen Zahnkronen
auf dem Boden haben wir nichts gefunden.«
Lena bemerkte einen
Blutfleck neben dem Fuß des Detective und warf noch einen Blick auf
Burells Leiche auf dem Bett. Das Zwinkern und das Viagra, das dem
Mann aus sämtlichen Körperöffnungen quoll. Vermutlich hatte Romeo
ihm die Tabletten eingetrichtert, bis er nicht mehr schlucken
konnte, und sie ihm dann sonst überall hineingestopft. Nach der
Blutmenge zu urteilen, waren Penis und Hoden entfernt worden, als
das Herz des Opfers noch schlug. Offenbar war Burell ausreichend
bei Bewusstsein gewesen, um zu spüren, was mit ihm
geschah.
Brown hatte Recht.
Burells Ende war etwas, an das man sich erst gewöhnen
musste.
Lenas Augen wanderten
zu der Rolex an Burells Handgelenk. Der Mann hatte alles besessen,
was man für Geld kaufen konnte, und dennoch nichts gehabt, für das
es sich zu leben lohnte. Als er vor ein paar Tagen auf seine Uhr
gestarrt hatte, hatte Lena daraus geschlossen, dass er das tief in
seinem Innersten ebenso wusste wie sie. Vielleicht hatte er die
Rolex ja gebraucht, um sich zu überzeugen, dass die Lüge, die er
lebte, wahr war.
Nun jedoch war die
Uhr zerschmettert wie sein Körper. Lena dachte an das Bild von
seiner Familie in der Küche. Es verriet ihr mehr als tausend Worte.
Charles Burells Lebensinhalt war vor langer Zeit nach Phoenix
gezogen.