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Sie kämpfte sich an die Oberfläche und rang würgend
nach Luft, bis sie endlich wieder ruhig atmen konnte. Die Tüte war
fort. Ihre Wange brannte von der offenbar sehr kräftigen
Ohrfeige.
Rhodes kniete über
ihr. Er hatte noch immer den abwesenden Blick in den
Augen.
Lena wich zurück,
nahm sich dann aber zusammen. Wortlos sah sie zu, wie er Licht
machte und hinausging. Glasscherben knirschten unter seinen Füßen,
und sie stellte fest, dass die Schiebetür verschwunden war. Rhodes
hatte die Waffe gezogen. Nach einem Blick die Auffahrt entlang kam
er zurück und zog Handschuhe an.
»Er ist weg«,
verkündete er. »Ich bin gerade noch rechtzeitig
gekommen.«
Ein nicht sehr
glaubhafter Versuch, seine Anwesenheit zu erklären. Lena
betrachtete die Scherben auf dem Teppich. Ihre Pistole lag an der
Schlafzimmertür. Zu weit weg, um sie zu erreichen. Anscheinend
hatten es heute Nacht alle auf sie abgesehen. Nun würde Rhodes das
Werk von Fellows vollenden.
»Warum die
Handschuhe?«
»Ich will keine
Fingerabdrücke hinterlassen«, erwiderte er. »Das hier ist jetzt ein
Tatort.«
Sie antwortete nicht
und sah zu, wie er sich eine Zigarette anzündete. Er wirkte immer
noch nervös und fahrig wie vorhin, als er sie im Parkhaus verfolgt
hatte. Während sie sich aufsetzte, nahm Rhodes rasch ihre Pistole
vom Boden und flüsterte etwas.
»Was hast du
gesagt?«, stieß sie hervor.
»Deine Bluse ist
offen.«
Immer noch benommen,
senkte sie den Blick. Ihre Brüste waren nackt, die Jeans war bis zu
den Knien heruntergezogen. Ihre Unterwäsche war zwar zerrissen,
aber sie hatte sie wenigstens noch am Leibe. Lena ließ den Überfall
Revue passieren und versuchte abzuschätzen, wie lange sie
bewusstlos gewesen war. Sekunden, dachte sie. Nicht Minuten oder
gar Stunden. Bis auf die schrecklichen Erinnerungen war ihr
eigentlich nichts geschehen.
»Brauchst du einen
Krankenwagen?«
Sie schüttelte den
Kopf, schloss ihren BH und knöpfte die Bluse zu. Während sie die
Jeans zumachte, fragte sie sich, ob er wohl das Luminol im
Schlafzimmer gesehen hatte. Allmählich bekam sie wieder einen
klaren Kopf. Sie brauchte einen Fluchtplan. Einen Weg, um die
zerbrochene Schiebetür zu erreichen. Und wenn alles scheiterte,
musste sie wenigstens Beweise dafür hinterlassen, dass Rhodes am
Tatort gewesen war. Etwas, das hängen bleiben würde, wenn die
Kollegen davon erfuhren, auch wenn es sie selbst dann nicht mehr
gab.
Das Telefon
klingelte. Rhodes’ Augen flackerten. »Geh ran, Lena«, sagte er nach
dem dritten Läuten. »Aber schalt den Raumlautsprecher an. Ich will
mithören.«
Lena holte tief Luft
und stand auf. Während sie zum Tresen ging, um abzunehmen, drückte
Rhodes die Zigarette draußen im Blumenkübel aus. Denn setzte er
sich neben sie auf einen Hocker. Als Lena Novaks Stimme hörte,
wurde sie von Erleichterung ergriffen.
»Rhodes ist hier bei
mir«, meinte sie.
Rhodes reagierte
nicht, als sie seinen Namen nannte. Irgendetwas lief hier ab, was
sie einfach nicht verstand. Die Erleichterung legte sich
schlagartig.
Novak stöhnte auf.
»Was will der denn von dir? Schalt den Raumlautsprecher
an.«
»Bereits geschehen«,
erwiderte Rhodes.
Vielleicht lag es
daran, wie Rhodes ihre Waffe hielt. Es mochte auch sein Tonfall
sein. Oder die Tatsache, dass er Novak seine Anwesenheit nicht
verheimlichte. Jedenfalls sah es ganz danach aus, als hätte Rhodes
nichts mehr zu verlieren. Er hatte seine eigenen Pläne. Alles
andere war ihm gleichgültig.
»Ich habe ihn«, rief
Novak. »Ich habe sein zweites Haus gefunden. Es steht oben am
Stausee.«
»Wie?«, fragte
Lena.
»Seine
Telefonrechnung. Ich bin davon ausgegangen, dass ein Typ wie
Fellows nicht viele Freunde hat, aber sicher einen Anrufbeantworter
besitzt, den er hin und wieder abhört. Er hat regelmäßig eine
Nummer angerufen, die laut Telefonbuch einem gewissen M. Finn
gehört. Weil es eine Adresse auf der anderen Seite der Stadt ist,
waren die Anrufe gebührenpflichtig. Also bin ich hingefahren und
habe seinen Nachbarn geweckt. Als ich ihm sechs Fotos zeigte, hat
er auf das Bild von Fellows gedeutet und ihn als Finn
identifiziert.«
Novak nannte die
Adresse und fügte hinzu, er sei bereits dort und werde als Nächstes
Barrera verständigen. Lena schilderte kurz den Überfall und warnte
ihn, Fellows sei vermutlich auf dem Heimweg. Die Straße kannte sie.
Und nach Rhodes’ Gesichtsausdruck zu urteilen, war auch er schon
dort gewesen. Der Versorgungsweg zum Stausee war öffentlich
zugänglich. Alle, die in den Hügeln wohnten und gerne mit dem Rad
fuhren, wanderten oder joggten, ohne sich dazu in die Büsche
schlagen zu müssen, kamen direkt an Fellows’ Zweitwohnsitz
vorbei.
Lena schaltete das
Telefon ab und stellte fest, dass Rhodes sie
anstarrte.
»Fahren wir«, sagte
er.