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Anfangs raste sie mit durchgetretenem Gaspedal über
den Freeway 101, drängte andere Autos beiseite und blieb immer auf
der Mittelspur. Doch als sie feststellte, dass sie flotte
einhundertfünfzig Sachen draufhatte, ging sie vom Gas und kurbelte
das Fenster hinunter. Sie spürte, wie der Wind ihr das Haar zauste
und ihr ins Gesicht wehte. Aus dem Radio klang Eddie Velder,
untermalt von klagenden Gitarrenklängen.
Nichts ist so, wie es
scheint. Nichts ist so, wie es
scheint.
So versunken war sie
in die Musik, dass sie kräftig auf die Bremse treten musste, um
nicht ihre Ausfahrt zu verpassen. Sie fuhr vom Freeway ab und bog
an der Franklin Avenue und dann noch einmal an der nächsten Ampel
links ab. Zehn Minuten später verließ sie, einen Kaffeebecher in
der Hand, die Starbucks-Filiale gegenüber den Gower Studios und
stieg wieder ins Auto. Am Hollywood Boulevard fuhr sie nach links
und rollte dann die Straße entlang, bis sie die Vista Del Mar
erreichte. An der Ecke angekommen, passierte sie langsam die
Autowerkstatt und schaltete das Radio an. Sie hatte beschlossen,
sich die Pressekonferenz hier anzuhören. An dem Ort, wo sie die
Leiche ihres Bruders gefunden hatte. Dort, wo er gestorben
war.
Lena stellte den
Sender KFWB ein, trank den ersten Schluck Kaffee und zündete eine
Zigarette an. Als ihr Mobiltelefon läutete, warf sie einen Blick
auf die LCD-Anzeige, nahm den Anruf aber nicht entgegen. Es war
Lieutenant Barrera, der sicher wissen wollte, wo zum Teufel sie
bloß steckte.
Sie dachte an die
Rede, die sie vor den Pressevertretern hätte herunterbeten sollen.
Dieses frei erfundene Werk aus der Feder irgendeines Schmarotzers,
der oben im fünften Stock residierte und anderen Menschen den Platz
wegnahm. Ihre Entscheidung war zwar spontan gewesen, ihr aber
dennoch nicht leicht gefallen. Lena wusste, dass sie ein großes
Risiko einging, denn es gab kein einziges Indiz, das ihre Theorie
stützte, während die Gegenseite die DNA-Ergebnisse und die Waffe
vorweisen konnte. Wenn Barrera erst einmal Madinas Autopsiebericht
in den Händen hielt, würde er sie für verrückt erklären und ihre
Versetzung beantragen. Vielleicht ging er ja sogar so weit, sie
wegen psychischer Probleme vom Dienst zu suspendieren und sie ins
Gebäude 50150 in Chinatown zu schicken, damit sich die
Polizeipsychologen weitere sechs Wochen ihrer annehmen
konnten.
Dann konnte sie ihre
Karriere vergessen, denn ein Kainsmal auf ihrer Stirn würde allen
mitteilen, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf und beruflich
überfordert war.
Lena verscheuchte
diesen Gedanken mit einem weiteren Schluck heißen Kaffee und
lauschte den Schlagzeilen des Tages. Die Live-Übertragung der
Pressekonferenz aus dem Parker Center sollte jeden Moment beginnen.
Laut Nachrichtensprecher galt die Sturmwarnung auch noch für die
nächsten drei Tage. Die Santa-Ana-Winde waren zurück, würden heute
Nachmittag nachlassen und abends wieder auffrischen. Vereinzelt
seien Böen mit einer Geschwindigkeit von über einhundert
Stundenkilometern möglich. Nördlich der Stadt La Crescenta sei
bereits der erste Waldbrand ausgebrochen. Zwei Jugendliche waren
bei der Flucht vom Brandort beobachtet worden. Obwohl
fünfundzwanzig Häuser gefährdet seien, seien die Flammen laut
Aussage der Feuerwehr zu fünfundsiebzig Prozent unter
Kontrolle.
Dann kam die
Pressekonferenz. Lena hörte, wie der neue Polizeipräsident über den
Mord an ihrem Bruder sprach. Er sei stolz auf die Detectives, die
den Fall aufgeklärt hätten, trotz Personalknappheit und
angespannter Finanzlage unermüdlich weiterermittelten und niemals
aufgäben. Während Rhodes von Holts Waffe und dem im Labor
entdeckten Treffer berichtete, wanderte Lenas Blick ziellos den
Gehweg entlang und schweifte über den leeren Parkplatz, das Capitol
Records Building und die verlassene kleine Kapelle hinter dem Zaun,
wo der Boden mit gebrauchten Spritzen bedeckt war.
Sie schaltete das
Radio ab, zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie im
Aschenbecher aus. Dann umfasste sie das Lenkrad fester und machte
sich an die kurze Heimfahrt. Als sie vor ihrem Haus stoppte und
ausstieg, sah sie die Rauchwolke am nordöstlichen Himmel. Offenbar
war das Feuer doch größer, als es im Radio geheißen hatte. Lena
griff nach ihrem Aktenkoffer, schloss die Tür auf und fragte sich,
ob die Löscharbeiten wohl beendet sein würden, bevor der Wind
auffrischte.
Als sie eintrat und
die Tür verriegelte, bemerkte sie, dass jemand gerade dabei war,
eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Sie
lauschte und versuchte, die Stimme einzuordnen. Der Mann kochte
offenbar vor Wut. »Ich sehe mir gerade diesen Mist im Fernsehen
an«, verkündete er. »Dass Holt David getötet haben soll, ist
absoluter Blödsinn. Holt besaß überhaupt keine gottverdammte Waffe
und wusste nicht einmal, wie man damit umgeht. Ich kannte die
beiden, Lena. Die zwei waren meine Freunde. Warum tun die Bullen
das? Wie viel Scheiße soll ich denn noch wegstecken?«
Es war Warren
Okolski, Holts Produzent. Obwohl Lena ihm von Herzen zustimmte,
hatte sie jetzt keine Lust, mit ihm zu telefonieren. Während sie
das Wohnzimmer durchquerte, legte er auf, und das Lämpchen am
Anrufbeantworter begann zu blinken.
Ihr Blick wanderte
zum Telefon. Das drahtlose Gerät steckte nicht in der Ladestation.
Sehr merkwürdig, denn sie stellte es normalerweise nach dem
Telefonieren stets wieder hinein. Lena sah auf dem Küchentresen
nach und ließ den heutigen Morgen Revue passieren. Während ihres
Anrufs in der Gerichtsmedizin hatte sie vor dem aufgeschlagenen
Thomas Guide gesessen, um sich die
beste Strecke herauszusuchen, da sie und Novak vor der Autopsie
noch die Frauen von der Website hatten befragen wollen. Aber das
Telefon war weder auf dem Tresen noch in der Küche
selbst.
Wieder fing es an zu
läuten. Lena spitzte die Ohren und folgte dem Geräusch ins
Schlafzimmer, wo sie das Telefon auf dem Bett neben dem Kopfkissen
entdeckte.
Ob sie vielleicht
doch im Begriff war, geistig abzubauen? Dann hatte Barrera ja
Recht, wenn er sie nach Chinatown schickte.
Lena schob den
Gedanken beiseite, griff nach dem Telefon, sah Novaks Namen auf der
Anzeige und nahm das Gespräch an.
»Rhodes will dir den
Fall entziehen lassen«, verkündete er.
Lena brauchte eine
Weile, bis sie begriff. Rhodes versuchte also, sie loszuwerden. Sie
ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch am Fenster. Die
Rauchwolke zog nach Süden in Richtung Long Beach und hing über der
Stadt.
»Bist du noch dran,
Lena? Ich bin am Mobiltelefon, und die Verbindung wird immer
schlechter.«
»Ich höre«, erwiderte
sie. »Was ist passiert?«
»Ich bin noch im
Parker Center. Alle außer mir sind stinksauer, weil du dich
verdrückt hast. Rhodes fordert, dass du den Fall
abgibst.«
»Was ist mit
Barrera?«
»Er tobt und
schwadroniert über Befehlsverweigerung. Allerdings ist er klug
genug, um zu wissen, wie es sich machen würde, wenn er dich so kurz
nach der Aufklärung des Mordes an deinem Bruder feuert. Auch wenn
es dir vielleicht nicht weiterhilft, möchte ich dir sagen, dass ich
an deiner Stelle ganz genauso gehandelt hätte. Und zwar mit
Vergnügen. Sie wollten dich nur im Fernsehen
vorführen.«
»Warst du bei der
Pressekonferenz?«, fragte sie.
»Ja. Und wie es
aussieht, sitze ich den restlichen Tag hier fest. Der
Polizeipräsident will eine Dienstbesprechung zum Thema Romeo
abhalten.«
»Ich habe die
Mordakte hier«, sagte sie.
»Die brauche ich
nicht. Was ist mit Rückrufen von Burells Liste?«
»Fehlanzeige. Ich
versuche es noch mal.«
»Wenn du jemanden
erreichst, melde dich bei mir. Aber warte nicht auf mich. Führ die
Befragung allein durch.«
Sie sah auf die Uhr:
Viertel nach vier. »Ich rufe dich auf jeden Fall an.«
»Und ich halte dich
auf dem Laufenden.«
Nachdenklich
schaltete Lena das Telefon ab. Die Karte, auf der sie Romeos
Wirkungsbereich und die Adressen der Opfer vermerkt hatte, lag noch
auf dem Tisch. Während ihr Blick darüberwanderte, nahm sie die
Mordakte und ihre anderen Fallakten aus dem Aktenkoffer. Im Februar
hatte sich keine Tat ereignet. Und zwei der drei noch fehlenden
Frauen von Burells Liste lebten in Romeos Wohnumfeld.
Lena suchte die
Nummern heraus und rief mit dem Mobiltelefon an, damit die Telefone
der Frauen ihre Nummer speicherten. Dreimal meldete sich niemand.
Also hinterließ sie drei weitere Nachrichten. Dabei versuchte sie,
die Karte nicht anzusehen und nicht daran zu denken, was das Fehlen
eines Übergriffs im Februar bedeuten mochte. Schließlich verzog sie
den Mund und beschloss, es um sechs noch einmal zu probieren,
schlug die erste Seite der Mordakte auf und begann zu
lesen.
Trotz der
unglücklichen Umstände war sie froh, nicht im Parker Center sitzen
zu müssen, und genoss die friedliche Stille ihres Zuhauses. Seit
Holt tot und Rhodes ihr Gegner geworden war, hatte sie das Gefühl,
dass sich die Ereignisse überstürzten. Der Fall hatte seine eigene
Dynamik entwickelt. Sicher hatten sie etwas übersehen. Zu viele
offene Fragen, und keine von ihnen war schriftlich festgehalten
worden.
Lena las die Sektion
Zeitliche Abfolge durch, verglich sie
mit den Berichten der Kriminaltechnik und machte sich auf einem
Block Notizen. Die unbekannte Tote hatte auf Lena wie eine Frau
gewirkt, die sicher irgendwo vermisst werden würde. Warum wussten
sie trotzdem noch immer nicht, wer sie war? Und weshalb hatte sich
der Einbrecher in Holts Haus so unnötig tollpatschig angestellt?
Sie unterstrich die letzte Frage, die ihr besonders zu schaffen
machte. Und was war mit Rhodes? Er bewahrte Holts Tagebücher bei
sich zu Hause auf. Manipulierte er sie etwa? Hatte er ein
schreckliches, wenn auch noch unbewiesenes Motiv, sie zu
bereinigen? Und warum hatte er sich nach dem goldenen Plektron
ihres Bruder erkundigt? Trotz seines bemüht beiläufigen Tonfalls
war Lena mittlerweile klar, dass er das Plektron aus irgendeinem
Grund für wichtig hielt. Er belog sie.
Sie sah auf die Uhr.
Zwei Stunden waren verflogen. Inzwischen war es dunkel geworden.
Als sie aufstand, um eine Kanne Kaffee aufzusetzen, überlegte sie,
wie sie – legal oder anderweitig – an diese Tagebücher herankommen
konnte. Rhodes’ Freundin war zwar gestern bei ihm gewesen, doch
Lena wusste, dass sie nicht dort lebte, sondern eine eigene Wohnung
in der Nähe des Jachthafens hatte.
Allerdings verwarf
sie den Gedanken an einen Einbruch – zumindest für heute Abend.
Nachdem sie erneut vergeblich versucht hatte, die drei Frauen zu
erreichen, wandte sie sich wieder der Mordakte zu. Die bohrenden
Fragen ließen sie nicht los und wurden von ihrer zunehmenden Sorge
um die drei Schauspielerinnen noch quälender. Lena griff nach einem
Stift. Wie wählte Romeo seine Opfer im wirklichen Leben aus, wenn
Charles Burells Webseite der Auslöser für seine Verbrechen war?
Wenn er am liebsten in einem bestimmten Gebiet zuschlug, warum
wohnte sein erstes Mordopfer dann außerhalb dieser Zone? Je länger
Lena darüber nachgrübelte, desto unwahrscheinlicher erschien es
ihr, dass Romeo Teresa López nicht persönlich gekannt hatte. Aus
welchem Grund hatte er Burell die Genitalien abgeschnitten? War das
Motiv wirklich nur eifersüchtige Raserei, oder steckte doch etwas
anderes dahinter? Ein schauerliches Detail war, dass man die
Geschlechtsorgane auch bei der Demontage der Abwasserrohre nicht
gefunden hatte. Was hatte Romeo damit gemacht?
Lena kehrte unsanft
in die Gegenwart zurück, denn das Haus erschauderte, und die
Fenster klapperten, als führe gerade ein Güterzug vorbei. Ihr Blick
schweifte durch den Raum. Da sich dort nichts bewegte, obwohl das
Haus weiter wackelte, wusste sie, dass es kein Erdbeben war,
sondern nur der Wind.
Als sie die
Schiebetür öffnete und hinaustrat, schlugen ihr heftige Böen
entgegen. Sie sah Gegenstände im Pool schwimmen und nahm
Brandgeruch in der knochentrockenen Luft wahr. Die Fensterläden
prallten gegen die Mauer. Sie hörte, wie die Palmen im Wind
flatterten, ein Geräusch, als stiegen Tausende von Drachen in der
Dunkelheit auf. Es war zehn Uhr abends. Die Santa Anas – die
Teufelswinde – waren da. Lena spürte Staub im Mund.
Sie schaute über die
Hügel zu den Lichtern im Tal. Von Westen wälzte sich eine
Staubwolke heran und hüllte einen Häuserblock nach dem anderen ein,
sodass die Stadt Schritt für Schritt in einem grauen Nebel versank.
Als Lena einen Wagen den Hollywood Boulevard hinunter und in den
Dunst hineinfahren sah, dachte sie an ihre Liste und wurde von
einem unbehaglichen Gefühl ergriffen.
Genau heute vor einer
Woche war Nikki Brant ermordet worden. Und Novak und sie waren in
dieser Zeit nicht einen Schritt weitergekommen.