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Lena hörte Stimmen, die in Wellen den Nebel
durchdrangen. Sie versuchte, sie einzuordnen und sich zu
konzentrieren, verstand aber kein Wort. Zwei oder drei Männer, und
alle sprachen Spanisch. Sie waren ganz in der Nähe. So nah, dass
Lena fast glaubte, sie stünden direkt vor ihrem Bett und hätten ihr
beim Schlafen zugeschaut.
Ruckartig schlug sie
die Augen auf. Als sie aus dem Fenster schaute, wurde ihr klar,
dass da etwas im Argen lag. Die drei Männer standen am Ende der
Auffahrt neben ihrem Auto. Lena kannte sie vom Sehen, weil sie in
der Nachbarschaft den Rasen mähten. Nun starrten sie mit besorgten
Mienen auf ihr Haus.
Lena schleuderte die
Decke beiseite und schlüpfte in ihre Jeans. Barfuß hastete sie aus
dem Zimmer, schloss die Schiebetür auf und trat in den Wind hinaus.
Brandgeruch lag in der Luft. Als sie in den östlichen Himmel
hinaufblickte, bemerkte sie die Rauchwolke über der Stadt. Gestern
war es nur ein Buschfeuer gewesen. Doch da die Santa-Ana-Winde
immer noch wehten, waren nun die Häuser der Einwohner von La
Crescenta in Gefahr.
Sie hastete die
Stufen hinunter. Zwei Sperrholzplatten trieben im Pool, und der
Rasen war mit Dachziegeln und Schutt bedeckt. Als Lena ums Haus
herumeilte, sah sie kahle Dachbalken. Mindestens ein Drittel des
Daches war abgedeckt. Auf dem Speicher wehten Papiere herum und
wurden durch die Öffnung gepustet. Die Habe ihres Bruders, die sie
zur Erinnerung weggepackt hatte.
»Teufelswinde«,
verkündete einer der Männer in gebrochenem Englisch. »Diablo. No bueno. Nix gut.«
Mit einem
schüchternen Lächeln betrachtete er ihre nackten Füße und deutete
dann auf den Pool. Lena nahm an, dass er sie um Erlaubnis bat,
ihren Garten betreten zu dürfen. Sie nickte und ging den Gartenweg
entlang voran. Der Mann suchte mit Blicken das Wasser
ab.
»Sí«, sagte er schließlich. »Wir holen
raus.«
Als Lena unter die
Sperrholzplatte spähte, wurde ihr klar, warum die Gärtner gekommen
waren. Der Sonnenschirm ihrer Nachbarn hatte sich vom Ständer
losgerissen und war über die Bäume geschwebt. Während sie zusah,
wie die Männer das Sperrholz herausfischten und mit einem Kescher
nach dem Schirm angelten, fragte sie sich, wie sie so einen
heftigen Sturm hatte verschlafen können. Allein das Abdecken des
Daches hatte doch sicher einen Höllenlärm gemacht. Und dennoch
hatte sie nichts gehört. Offenbar hatte sie geschlafen wie eine
Tote. Ein traumloser Schlaf, sobald ihr Kopf das Kissen berührt
hatte.
Ein Läuten drang
durch die offene Schiebetür nach draußen. Es war das
Mobiltelefon.
Sie bedankte sich bei
den Männern für ihre Hilfe und hastete die Treppe hinauf zum
Küchentresen. Als sie auf der Anzeige nur das Wort FERNGESPRÄCH
las, nahm sie an, dass es eine der Frauen von Burells Webseite war,
die sich endlich meldete. Aber als sie das Gerät von der
Ladestation nahm, hörte sie eine Männerstimme. Es war Art Madina,
der Pathologe, der am Vortag Tim Holt obduziert hatte.
»Ich dachte immer,
Rockstars führten ein Leben, von dem wir Normalsterbliche nur
träumen können«, begann er. »Mit einer Frau an jedem Finger, sodass
sie nur auszuwählen brauchen.«
Seine Stimme klang
anders als sonst und schwankte ständig zwischen verschiedenen
Registern. Lena kannte ihn nicht gut genug, um schlau daraus zu
werden.
»Langsam, Art«, sagte
sie deshalb. »Wovon reden Sie?«
»Tim Holt. Ich habe
die Artikel über ihn gelesen. Schließlich war ich sein Fan. Ich
dachte immer, er könnte in einer Woche mehr Frauen haben als ich in
einem ganzen Leben.«
Lena sah auf die Uhr.
Warum rief Madina sie um sieben Uhr an?
»Ich komme da nicht
ganz mit«, meinte sie. »Was hat das denn mit der Autopsie zu
tun?«
»Ich spreche nicht
von Tim Holts Leiche, sondern von Molly McKenna.«
»Wer ist
McKenna?«
»Unsere Unbekannte.
Die Leiche, die ich untersucht habe, nachdem Sie und Novak weg
waren.«
Ein Moment verging,
während Lena aus dem Fenster sah. Die Gärtner schleppten den
Sonnenschirm zur Auffahrt und verschwanden um die Ecke. Lena wurde
nachdenklich. Man enthielt ihr Informationen vor. Die Unbekannte
war identifiziert worden, ohne dass man sie verständigt
hatte.
»Seit wann weiß man,
wer sie ist, Art?«
»Keine Ahnung. Ich
wurde gestern Abend informiert.«
»Von
wem?«
»Stan
Rhodes.«
Der Schmerz im Magen
meldete sich zurück. Ein scharfes Brennen, das etwa zehn Sekunden
dauerte und dann wieder nachließ.
Rhodes. Sie hätte
darauf gefasst sein müssen!
»Und was sollte das
mit dem Liebesleben von Rockstars?«, erkundigte sie
sich.
Madina räusperte
sich. »Molly McKenna war noch Jungfrau, Lena.«
Lena schluckte.
Wieder ein Widerspruch, der keinen Sinn ergab. Ein schwarzes Loch
in einem Fall, der sowieso von Lücken nur so wimmelte.
»Ich dachte, sie
wurde in Holts Bett gefunden«, fuhr Madina fort. »Sie soll doch
darauf gewartet haben, dass er nach Hause kam. Angeblich hat er sie
tot aufgefunden und sich aus Liebe zu ihr das Hirn weggepustet, als
er sah, was Romeo mit ihr gemacht hatte. War das nicht Ihre
Theorie? Romeo wartet und beobachtet gern, und als er Zeuge von
Holts Selbstmord wurde, war er ganz aus dem Häuschen.«
»Davon sind Novak und
ich in den Fällen Nikki Brant und Teresa López ausgegangen«,
erwiderte Lena ruhig. »Romeo muss die Reaktion des Ehemannes
miterleben.«
»Aber bei Holt und
McKenna war es anders. Ich weiß, worauf Sie und Novak hinauswollen.
Außerdem habe ich die gestrige Pressekonferenz im Radio verfolgt.
Ganz offensichtlich vertreten Ihre Vorgesetzten eine andere These.
Aber das ist alles Unsinn. Molly McKenna war noch Jungfrau,
siebzehn Jahre alt und wohnte zu Hause bei ihren Eltern. Und wenn
McKenna noch nie Geschlechtsverkehr hatte, heißt das, dass Ihre
Vorgesetzten auf dem Holzweg sind. Für mich klingt das alles eher
nach einem abgekarteten Spiel.«
Obwohl Lena Madina
nicht gut kannte, merkte sie ihm an, dass er inzwischen auf
dieselben Widersprüche gestoßen war wie sie. Niemals hätte Holt –
oder sonst jemand – sich wegen einer Frau umgebracht, mit der ihn
kein enges Verhältnis verband.
»Mit wem haben Sie
schon darüber gesprochen?«, fragte Lena.
Ȇber McKenna? Mit
niemandem. Es ist Ihr Fall. Ich rufe Sie an, um Ihnen Meldung zu
machen. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber ich habe die
ganze Nacht nachgedacht.«
»Was haben Sie sonst
noch herausgefunden?«
»Dass die Stichwunden
demselben Muster folgen wie bei Nikki Brant. Sie sind beinahe
identisch. Allerdings ist da ein Unterschied, der etwa ebenso viel
Sinn ergibt wie alles andere: Das Messer war nicht die Mordwaffe.
McKenna wurde erstochen, nachdem sie
bereits tot war, nicht vorher. Ich dachte, Romeo hätte eine
Schwäche für Blutbäder.«
»Stimmt. Wenn er
darauf aus ist, den Ehemann zu schockieren, erhöht Blut diesen
Effekt. Gestern haben Sie uns doch ein Röntgenbild gezeigt, auf dem
ein Genickbruch zu sehen war.«
»In der Tat, doch ich
hatte mich geirrt. Gestorben ist sie an einer Gehirnverletzung nach
einem Schädelbruch. Ich habe Blut in ihren Ohren entdeckt. Als wir
ihre Kopfhaut zurückklappten, war der Schädel rissig wie eine
Eierschale. Ein Hirnschaden wie aus dem Lehrbuch.«
»Also ist es schnell
gegangen.«
»So schnell, dass ihr
Blut keine Zeit mehr hatte zu gerinnen. Der Täter hat sie an der
Stirn gepackt und ihr den Hinterkopf zerschmettert. Und zwar mit
einer solchen Wucht, dass er ihr dabei das Genick gebrochen
hat.«
»Wusste er, dass sie
tot war, als er sie erstach?«
»Das ist die
Schlüsselfrage, richtig?«, meinte er. »Wenn er ein Trittbrettfahrer
und nicht Romeo ist, wollte er vermutlich ein Blutbad vermeiden, um
sich die Hände nicht schmutzig zu machen. Also hat er das Opfer
zuerst getötet, damit der Herzschlag zum Erliegen kam, und dann
erst das Messer eingesetzt, um uns zu täuschen.«
»Was denken Sie,
Art?«
»Wenn er nicht blind
ist, wusste er, dass sie tot war. Ihr Hals konnte das Gewicht des
Kopfes nicht mehr tragen, und der ist sicher zur Seite weggesackt.
Vielleicht hat er ihn deshalb mit dem Strumpf am Bettpfosten
festgebunden.«
Lena hielt inne und
dachte an den DNA-Treffer, die unwiderlegbaren Laborergebnisse, die
sich nicht leugnen ließen. »Was ist mit dem Sperma?«
»Viele dieser Kerle
holen sich auf ihren Opfern einen runter, Lena. Manchmal schaffen
sie nicht einmal das.«
»Aber das passt nicht
zu Romeo. Der ist mehr als potent.«
»Und genau deshalb
zögere ich noch, diese Berichte zu unterschreiben. Ich kann weder
erklären, warum das Sperma da ist, noch, warum es von Romeo stammt.
Ich weiß nur, dass McKenna als Jungfrau gestorben ist. Zumindest
auf dem Papier war sie noch Jungfrau.«
»Was meinen Sie mit
auf dem Papier?«
»Ich weiß nicht, wie
die Jugendlichen es heutzutage nennen. Immer noch Petting?
Jedenfalls tut es in diesem Fall nichts zur Sache. McKenna wurde
nicht vergewaltigt. Es fand keine Penetration statt. Außerdem habe
ich mir Gedanken über den Bluterguss an Holts Torso
gemacht.«
»Was ist
damit?«
»Könnte von einem
Elektroschocker stammen. Das wäre eine mögliche Erklärung dafür,
warum er sich nicht gewehrt hat, Lena.«
»Wann schicken Sie
den Bericht raus?«
»Rhodes wollte ihn so
schnell wie möglich haben.«
Lena verzog das
Gesicht. »Was werden Sie tun?«
»Keine Ahnung. Ich
grüble schon die ganze Nacht darüber nach.«
»Gibt es eine
Möglichkeit, die Sache ein wenig zu verzögern und auch noch den
heutigen Tag mit Nachdenken zu verbringen?«
Er antwortete nicht
sofort. Lena wusste, dass Barrera endgültig in die Luft gehen
würde, wenn er von ihrer Bitte erfuhr.
»Morgen ist Samstag«,
erwiderte er. »Ich weiß nicht, ob das bis Montag warten
kann.«
»Vermutlich nicht.
Doch dieser Fall hat einige Haken. Da sind jede Menge
unterschiedlicher Interessen im Spiel. Tun Sie, was Sie für richtig
halten, Art. Das müssen Sie entscheiden. Es war nur ein
Vorschlag.«
»Ich weiß das zu
schätzen. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«
»Ich brauche McKennas
Adresse.«
»Sie steht in der
Akte.«
Lena ging zum Tisch
am Fenster. Nachdem sie die Adresse notiert hatte, dankte sie
Madina und legte auf. Es war Viertel nach sieben. Der Pathologe
würde die Entscheidung ganz allein treffen müssen, und sie wusste,
dass es ihm nicht leichtfallen würde. Während die Indizien in die
eine Richtung wiesen, legten ihre Deutung dieser Fakten und der
gesunde Menschenverstand eine andere Lösung nah. Nachdenklich
blickte Lena aus dem Fenster. Das Licht, das sich im Pool
spiegelte, wirkte unnatürlich orangefarben. Sie ging nach draußen
und betrachtete den Horizont. Über der Stadt war die Sonne
aufgegangen, allerdings in einer dichten Rauchwolke verschwunden.
Das gesamte Tal war in ein leuchtend rotes Licht getaucht, das bis
zum Ozean flackerte und glühte.
Lena nahm den im
Garten herumliegenden Schutt und das beschädigte Dach in
Augenschein. Sie würde die Dachdeckerfirma vom Auto aus anrufen.
Dann schaute sie zum Pool und den Verandastufen hinüber zum
Liegestuhl. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und die Welt schien
ruckartig stillzustehen.
Das Polster war
eingedrückt. Einige Handtücher lagen zusammengeknüllt und achtlos
hingeworfen hinter einem Blumenkübel. Lena trat einen Schritt näher
heran. Vor Schreck lief ihr ein Schauder von den Schulterblättern
bis in den Hinterkopf hinauf.
Jemand war hier
gewesen, hatte hier geschlafen und auf ihrer Veranda die Nacht
verbracht.