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Martin Fellows, alias
Mick Finn, alias Romeo, der wahre Freund der Frauen und zudem
derzeit aller Welt aus Presse und Fernsehen bekannt, wandte sich
von seiner Werkbank in dem kleinen Kellerraum ab und betrachtete
Harriet Wilson, die ihn mit wildem Blick anstarrte. An Händen und
Füßen mit Handschellen gefesselt, lag sie ausgestreckt auf einem
Feldbett. Ihre Bluse war aufgerissen, ihr Rock hing in
Fetzen.
»Warum tust du das,
Martin?«
»Nenn mich nicht
Martin. Das ist nicht mehr mein Name.«
»Wie soll ich dich
dann nennen?«
Er antwortete nicht,
weil er nicht sicher war. Er wusste nur, dass sich in seinem Leben
etwas Wichtiges zugetragen hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit
war er ein Mensch, eine Stimme, eine vollständige Einheit auf einer
historischen Mission. Diese Erleuchtung war ihm nach dem
Mittagessen während der Fahrt zum Einkaufszentrum gekommen. Noch
nie hatte er eine derartige Klarheit verspürt. Er konnte die
Polizisten, die ihn verfolgten, fast so gut sehen, als hätten sie
Neonreklamen bei sich getragen. Auf dem Weg nach West Hollywood
hatte er jede ihrer Bewegungen voraussagen können. Als er sich im
Parkhaus eine dunkle Lücke suchte, rasch etwas bei Williams-Sonoma
besorgte und zu Fuß zurückkehrte, war das lästige Problem bereits
aus der Welt geschafft. Zwei tote Polizisten saßen friedlich auf
den Vordersitzen ihres geparkten Wagens.
Er hoffte, dass die
Vision anhalten würde. Vielleicht, ja, nur vielleicht hatte er nun
endlich das Stadium erreicht, nach dem ein buddhistischer Mönch
sein ganzes Leben lang strebte. Eine christliche Version des
Nirwana. Nichts Geringeres als den Blick vom Kreuz.
»Warum tust du
das?«
Ihre Stimme war kaum
mehr als ein Flüstern.
»Weil sie es wissen«,
erwiderte er. »Alle wissen es.«
»Alle wissen
was?«
»Wer du wirklich
bist, Harriet. Was du in deiner Freizeit so treibst.«
In ihren Augen
blitzte etwas auf. Er merkte ihr an, dass er sie zum Nachdenken
gebracht hatte. Die Tür zu ihrem Geheimnis öffnete sich und
gewährte der Panik Einlass.
»Ich weiß es schon
seit Monaten«, fuhr er fort. »Du bist nicht das niedliche kleine
blauäugige Mädchen aus Nebraska, für das du dich ausgibst. Wie
viele unserer Kollegen holen sich jeden Abend einen runter, während
du dich von einem alten Mann mit Perücke durchvögeln lässt? Ich
würde sagen, so ungefähr alle.«
Sie wandte sich ab.
Er hörte, dass sie weinte. Das bemerkte er, obwohl sie versuchte,
dabei kein Geräusch zu machen.
»Wir arbeiten jeden
Tag zusammen«, begann sie schließlich. »Wir sind Freunde. Warum
hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«
»Ich habe es als
Letzter erfahren. Alle wussten, wie gern ich dich
hatte.«
Sie drehte sich
wieder zu ihm um. »Ich wusste es auch. Und zwar von Anfang
an.«
Anstelle einer
Antwort ließ er die Erinnerungen Revue passieren. Da war Harriet,
aber auch seine Schwester Tilly. Er sah, wie sich ihr zerzaustes
blondes Haar auf dem sauberen Sandstrand ausbreitete. Er hörte ihr
Kichern. Dachte daran, wie die im Meer untergehende Sonne ihr
Gesicht in ein warmes Licht tauchte. Sie hatten zusammen
davonlaufen wollen. In ihrem Geheimversteck am Strand hatten sie
darüber gesprochen. Vor langer Zeit. Ein Bild aus seiner Kindheit,
das verloren gegangen war, bis ihm endlich der Blick vom Kreuz
gelang.
»Wer hat es dir
erzählt?«, fragte Harriet.
Das Bild aus der
Vergangenheit verblasste, und er musterte die am Bett festgekettete
Frau.
»James Brant«,
antwortete er. »Weißt du jetzt, wer ich bin?«
Er merkte ihr an, wie
sie die einzelnen Punkte miteinander verband. Zu seiner
Überraschung versiegten die Tränen, und sie nahm sich zusammen.
Eine Weile verging, bis sie weitersprach.
»Wir sind uns sehr
ähnlich«, sagte sie.
»Wie
bitte?«
»Ich habe zwar
niemandem wehgetan, weiß aber, wie es ist, ein geheimes Leben zu
führen. Ein Phantasieleben.«
»Mag sein«, erwiderte
er.
»Ich hatte lange Zeit
ein Doppelleben. Das eine läuft in die eine Richtung, das andere in
die entgegengesetzte.«
»Ich habe mein Bestes
für dich gegeben, aber das ist jetzt vorbei.«
»Warum muss es vorbei
sein?«
Schweigend
betrachtete er die Blutergüsse, die sie sich beim Treppensturz
zugezogen hatte. Er hatte sie gestoßen. Er konnte sie nicht mehr
beschützen, nicht einmal vor sich selbst. Es war unmöglich, sie in
etwas zu verwandeln, das sie nicht war. Es war der einzige
Weg.
»Warum muss es
enden?«, beharrte sie. »Wir haben doch so viel gemeinsam. Unseren
Beruf. Unsere Interessen. Da alle über mein Doppelleben Bescheid
wissen, wird mir ohnehin niemand glauben, was du mit mir gemacht
hast. Du müsstest nur sagen, dass ich es so gewollt habe. Dass ich
eine Nutte bin und alles freiwillig war.«
Fellows dachte an
Burell und ihr Geburtstagsgeschenk, das er in der Tiefkühltruhe
frischhielt. Es schien der richtige Zeitpunkt zu sein.
»Ist das das Gerede,
mit dem du Burell scharfgemacht hast?«
Anstelle einer
Antwort bewegte sie Hände und Füße, dass die Handschellen
klapperten.
»Kannst du sie nicht
ein bisschen lockerer einstellen?«
»Ich fürchte
nicht.«
»Dann tu mir
wenigstens einen Gefallen.«
»Kommt drauf an, was
es ist.«
»Ich habe einen
Juckreiz, der mich noch wahnsinnig macht.«
»Wo?«
»An der
Wange.«
Er ging zum Feldbett
und setzte sich neben sie. Anders als Lena Gamble war Harriet
Wilson die schönste Frau gewesen, die er je gesehen hatte. Als sein
Blick über ihren hinreißenden Körper glitt, stieg ihm der Geruch
ihrer Haut in die Nase. Ihr Duft schwebte in der Luft zwischen
ihren Beinen. Und da war etwas in ihrem Gesicht. Ein verlockendes
Leuchten.
»Wo juckt
es?«
Sie drehte den Kopf
zum Licht. »Dicht unter dem linken Auge.«
Als er sich
vorbeugte, bemerkte er Tränenspuren. Er wischte sie weg und
streichelte mit dem Daumen über ihre Haut. Sanft. Gleichmäßig. Sie
seufzte auf. Erleichterung malte sich in ihrem Blick.
»Mach weiter«, sagte
sie. »Hör nicht auf.«