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Den Weg durch das Großraumbüro im Parker Center
empfand sie wie den Gang zur Guillotine. Als Sánchez sie zwischen
den Schreibtischen hindurchführte, blickten zwanzig Detectives von
ihrer Arbeit auf, nickten ihr zu und wandten sich dann viel zu
schnell ab. Das übliche Geplänkel verstummte schlagartig, als hätte
jemand den Ton abgestellt.
»Er ist im Büro des
Captain«, sagte Sánchez.
Er blieb an seinem
Schreibtisch stehen, während Lena weiterging und die Glastür
öffnete. Lieutenant Barrera saß, flankiert von Novak und Rhodes, am
Ende des Konferenztischs. Wie die Kollegen im Büro sprachen sie
miteinander, wurden aber bei ihrem Eintreten plötzlich still. Lena
sah Novak an. Als ihre Blicke sich trafen, erkannte sie blitzartig,
dass sie zumindest einen Verbündeten im Raum hatte.
»Nehmen Sie Platz«,
begann Barrera leise.
»Ich stehe lieber«,
erwiderte sie.
Er sah zu der
Mordakte in ihrem Aktenkoffer und ihr dann wieder ins
Gesicht.
»Das ist ein Befehl,
Gamble. Nehmen Sie Platz.«
Lena zog sich einen
Stuhl heran. Es lagen keine Papiere auf dem Tisch. Keine Akten. Nur
drei Kaffeebecher und ein Plastikbeutel mit einem.38er
Revolver.
»Ich habe
Neuigkeiten«, meinte Barrera. »Gute und schlechte. Allerdings
fürchte ich, dass es so oder so nicht leicht für Sie werden
wird.«
Sie nickte. Die Hände
hielt sie unter dem Tisch, weil sie wusste, dass sie zitterten.
Barrera schob die Pistole über den Tisch. Lena erkannte Holts Namen
auf dem Aufkleber, hatte jedoch bereits geahnt, woher die Waffe
stammte. Rhodes hatte sie aus Glendale mitgebracht.
»Die Abteilung
Schusswaffen hat uns den Vortritt gelassen«, fuhr Barrera fort.
»Rhodes hat die ganze Nacht mit einem Waffenexperten damit
verbracht, Probeschüsse abzugeben und die Patronen mit einer
Datenbank abzugleichen. Vor zwei Stunden waren die Ergebnisse
da.«
Barrera hielt kurz
inne und fuhr dann mit leiserer Stimme fort.
»Ein Treffer, Lena.
Die Waffe, mit der Holt sich umgebracht hat, ist dieselbe, die beim
Mord an Ihrem Bruder verwendet wurde. Offenbar hat Holt Ihren
Bruder erschossen. Anscheinend gab es ein Motiv, und er ist der
Täter.«
Lena rührte sich
nicht. Etwas riet ihr, den Mund zu halten, sich diesen Unsinn
schweigend anzuhören und so schnell wie möglich zu verschwinden,
sobald es ausgestanden war.
»Wir haben Tagebücher
gefunden«, ergänzte Rhodes. »Holt hat eine Menge aufgeschrieben.
Ich habe noch nicht alles gelesen. Er gesteht zwar nicht eindeutig,
dass er abgedrückt hat, war aber sehr neidisch auf Ihren Bruder und
scheint nicht ganz klar im Kopf gewesen zu sein. Damals nahm er
viel Drogen. Sein Verhältnis zu Ihrem Bruder war gewissermaßen eine
Hassliebe. Die Waffe hat er bei einer Ausstellung im Valley
gekauft. Wir haben die Quittung. Tim Holt war Besitzer dieser Waffe
und hat Ihren Bruder auf dem Gewissen. Fünf Jahre später hat ihn
die Tat dann eingeholt. Er hat die Leiche der Unbekannten gefunden,
und der Schock war zu viel für ihn. Deshalb hat er sich
umgebracht.«
Eine Pause entstand.
Schweigen waberte in dicken Schwaden durch den Raum. So dicht, dass
man daran hätte ersticken können. Lena schaffte es nicht, Rhodes
anzusehen. Sein Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen, der
sie abstieß. Sein Atem roch nach Rauch, und sie bemerkte ein
Zigarettenpäckchen in seiner Tasche. Als sie sich zu Novak
umwandte, stellte sie fest, dass er blass geworden war. Aber es
gelang ihm, ihr wieder einen Blick zuzuwerfen.
»Nur wenige Menschen
können einen Mord einfach so wegstecken«, ergriff Barrera das Wort.
»Insbesondere dann, wenn das Opfer gewissermaßen ein Freund war.
Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit. Holt hatte die Wahl zu
gestehen – deshalb hat er Sie vermutlich angerufen – oder Schluss
zu machen und sein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.«
Rhodes räusperte
sich. »Als Holt sah, was Romeo dem Mädchen angetan hatte, ist alles
wieder hochgekommen.«
Das Schweigen kehrte
zurück und war diesmal noch bedrückender.
Barrera streckte die
Hand aus. »Sie haben die Mordakte Ihres Bruders. Am besten geben
Sie sie gleich her, damit wir uns an die Arbeit machen können.
Sobald das Labor bestätigt, dass Romeo das Mädchen ermordet hat,
schließen wir den Fall ab. Bis dahin haben wir jede Menge
Papierkram zu erledigen.«
Der Aktenkoffer lag
auf Lenas Schoß. Sie nahm den Ordner heraus, schob ihn über den
Tisch und sah, wie Barrera ihn Rhodes reichte.
»Was ist, wenn es
nicht Romeo war?«, fragte sie.
Barreras Augen
blitzten. »Alle Details stimmen. Dass die DNA die von Romeo ist,
wird man uns früher oder später bestätigten. Diesmal dürfen Sie
sich nicht in irgendwelche aberwitzigen Theorien verrennen, Gamble.
Sie sollten sich darauf konzentrieren, die unbekannte Tote zu
identifizieren und Romeo zu finden. Mir ist klar, dass das eine
Menge Arbeit ist. Alle hier im Raum hätten Verständnis dafür, wenn
Sie sich davon überfordert fühlen würden. Also sagen Sie es jetzt,
falls Sie es nicht schaffen, damit Sie abgelöst werden
können.«
Zumindest wusste er,
wie man Mitarbeiter motivierte. Man suchte ihren wunden Punkt und
-
Jemand klopfte
zweimal an die Glastür und öffnete. Es war Sánchez.
»Entschuldigen Sie,
Lieutenant«, sagte er. »North Hollywood hat gerade angerufen. Ein
Jeff Brown von der Mordkommission. Er wollte Lena
sprechen.«
Lena drehte sich um.
Sie hatte diesen Namen noch nie gehört. »Was wollte er
denn?«
»Charles Burell wurde
letzte Nacht ermordet.«