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Barbie Beckons hieß mit bürgerlichem Namen Esther
Ludina, war vierundzwanzig Jahre alt und von Moskau nach Tijuana
ausgewandert. Inzwischen lebte sie in einer
Zweizimmer-Eigentumswohnung an der Ecke Eleventh Street und Ocean
Park Boulevard in Santa Monica. Sie wog schätzungsweise
fünfundvierzig Kilo und ragte mit Stilettoabsätzen etwa einen Meter
fünfundsechzig aus dem Boden. Bekleidet war sie mit hautengen Jeans
und einer tief ausgeschnittenen halb durchsichtigen Bluse, auf die
ihr Künstlername aufgestickt war.
Ludina war zu einem
inoffiziellen Gespräch bereit und legte eine Offenheit an den Tag,
mit der Lena nicht gerechnet hätte. Obwohl die beiden Detectives
sich auf der Fahrt eine einigermaßen präzise Beschreibung von Romeo
zurechtgelegt hatten, hatte Ludina allerdings nicht viel
Sachdienliches beizutragen. Sie erbot sich nur, ihr rüschiges
Oberteil auszuziehen, um den Besuchern ihren Silikonbusen zu
zeigen.
Ja, sie kenne viele
Männer, die mit Gewichten trainierten und – wie sie es nannte –
»Mädchenhaut« hätten. Das gehöre in diesem Job dazu. Die Hälfte
dieser Männer habe sogar einen englischen Namen und sei groß
gewachsen. Aber kahl sei keiner, das gehe in ihrer Branche nicht.
Auch wenn ein kahler Schädel im wirklichen Leben sexy sein könne,
reflektiere er im Scheinwerferlicht zu sehr, erklärte sie. Das sehe
vor der Kamera gar nicht gut aus, wie sie sowohl als Schauspielerin
als auch als Regisseurin ihres ersten nicht jugendfreien Films mit
dem Titel Barbie und die drei Kens
festgestellt habe. Gar nicht gut, wiederholte sie mit russischer
Verve. Männer kauften diesen Mist doch, um sich die Mädchen
anzuschauen, nicht den kahlen Schädel eines Kerls.
Lena hakte ihren
Namen auf der Liste ab, und sie gingen wieder zum Auto. Während
Novak losfuhr, suchte sie die nächste Darstellerin auf Burells Akte
heraus und nannte die Adresse. Von den dreiundzwanzig Frauen auf
der Webseite lebten alle bis auf eine Handvoll in Romeos
Wirkungsbereich.
Konzentriert
arbeiteten sie die Liste ab und hatten bis zum Abend die Hälfte der
Frauen befragt. Fünf von ihnen waren zu Hause gewesen. Sechs hatten
sie am Mobiltelefon erreicht. Alle waren so schnell zu einem
Treffen bereit, dass Lena fast vermutete, sie hätten auf den Anruf
gewartet. Außerdem redeten alle frei von der Leber weg. Als bei
Nummer zwölf der Fernseher lief, verstand Lena endlich
warum.
Der Medienzirkus war
in vollem Gange. Die Lokalsender verbreiteten Angst und Schrecken
und verloren sich in Spekulationen darüber, dass Burells Tod etwas
mit den Fällen zu tun haben könnte, die inzwischen Romeos Liebesmorde hießen.
Es war nicht
abzustreiten, dass die Anzahl der Leichen von Tag zu Tag zunahm.
Inzwischen hatten drei Frauen, ein prominenter Rockmusiker und nun
auch noch ein schmieriger Pornoproduzent sterben müssen. Romeo war
mehr als nur ein Mörder. Er war ein Markenname, mit dem sich die
Einschaltquote der Sechs-Uhr-Nachrichten erhöhen ließ. Für den
späteren Abend wurden dann weitere Meldungen und schließlich noch
eine Sondersendung um elf in Aussicht gestellt. Als der
Nachrichtensprecher die Theorie äußerte, dass Romeo vielleicht
sogar schon vor fünf Jahren mit dem Mord an David Gamble angefangen
haben könnte, schüttelte die Reporterin am Tatort nur ihr hohles
Köpfchen und seufzte: »Das wird uns die Zeit zeigen.« Lena
schaltete die Ohren auf Durchzug.
Novaks Mobiltelefon
läutete. »Meine Ex«, flüsterte er nach einem Blick auf die
LCD-Anzeige und stoppte vor einem heruntergekommenen Mietshaus
östlich der Main Street in Venice Beach. Inzwischen war es halb
zwölf Uhr nachts. Lena hörte, wie der Regen aufs Wagendach
prasselte. Windböen brachten das Auto zum Schaukeln. Trotz des
Wetters nickte Novak ihr zu und stieg mit seinem Telefon
aus.
Lena lehnte sich im
Beifahrersitz zurück, beobachtete, wie ihr Partner auf dem
überdachten Parkplatz des Gebäudes Schutz vor dem Regen suchte, und
dachte nach.
Seit James Brant
nicht mehr des Mordes an seiner Frau verdächtigt wurde,
betrachteten alle Romeo als den klassischen Serientäter, der seine
Opfer willkürlich auswählte. Obwohl Lena bereit war, die sexuellen
Übergriffe noch immer für Zufallstaten zu halten, und Romeo somit –
zumindest bis zum letzten Monat – für einen Serienvergewaltiger
hielt, der systematisch den Stadtplan abarbeitete, schienen die
Morde einem anderen Muster zu folgen. Und zwar einem, das erst
sichtbar geworden war, nachdem Romeo Burell gefoltert und getötet
hatte.
Lena schaute aus dem
Fenster und überlegte. Burell war ganz offensichtlich umgebracht
worden, um ihn zu bestrafen. Romeo mochte geisteskrank und voller
Wut sein, doch für den Mord an Burell hatte er ein klares Motiv
gehabt. Und zwar eines, das auch für Lena greifbar und
nachzuvollziehen war.
Sie hörte, wie die
Wagentür aufging. Novak stieg ein. Er hatte Regentropfen im
Gesicht. Als er sie ansah, bemerkte sie, dass sich Trauer und Sorge
in seinem Blick malten.
»Was wollte
sie?«
Novak schaltete den
Scheibenwischer an und fuhr los. »Es geht um Kristin. Ich glaube,
sie nimmt wieder Drogen.«
Lena schwieg
bestürzt. Novak bog an der Lincoln Avenue links ab und fuhr in
Richtung Freeway, einen Dreiviertelkilometer die Straße
hinauf.
»Sie haben sich
gestritten«, sprach er weiter. »Als Kristin aus der Wohnung
gelaufen ist, hat meine Ex ihr Zimmer durchsucht.«
»Was hat sie
gefunden?«
»Offenbar Koks«,
erwiderte er nach einer nachdenklichen Pause. »Aber ich muss mich
vergewissern. Ist es in Ordnung, wenn wir für heute Schluss
machen?«
Lena nickte, es war
ohnehin zu spät, weiter die Frauen von Burells Liste
abzuklappern.
»Wer hat eigentlich
die Schlüssel zu Holts Haus?«, fragte sie.
Forschend sah er sie
an.
»Ich bin noch nicht
müde, Hank. Morgen Vormittag ist die Autopsie. Ich bin heute früher
bei Holt weg, schon vergessen?«
»Rhodes hat sie. Wenn
du möchtest, fahren wir auf dem Weg zum Präsidium bei ihm vorbei.
Ich gehe rein, dann brauchst du nicht mit ihm zu
reden.«
Sie dachte daran,
dass Rhodes den Tag damit verbracht hatte, den Mord an ihrem Bruder
dem toten Tim Holt unterzuschieben. Hatte alles optimal gepasst?
Oder hatte man die Dinge ein wenig zurechtbiegen müssen, damit es
glaubhaft wirkte?
»Schon gut«, sagte
sie.
Achselzuckend wandte
er sich wieder der Straße zu. Als das Scheinwerferlicht eines
vorbeifahrenden Wagens sein Gesicht streifte, sah sie, dass er
ebenso mit bedrückenden Gedanken kämpfte wie sie.
»Es war ein langer
Tag«, meinte er.
Sie
nickte.
»Solche Tage haben
früher mit einem Drink geendet«, fügte er hinzu.
Sie sah den Anflug
eines Grinsens.
»Scheiß drauf«,
sprach er weiter. »Ich bin auch noch nicht müde. Während du die
Schlüssel holst, schaue ich mir das Drogenversteck meiner Tochter
an. In einer Stunde treffen wir uns bei Holt.
Einverstanden?«
»Ich gebe dir eine
Cola Light aus.«