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Lena wandte sich von Novak ab und betrachtete Tim
Holts Röntgenaufnahmen auf dem Leuchtkasten, während der
Gerichtsmediziner auf die Austrittswunde zeigte.
»Ein glatter
Durchschuss«, verkündete er, »direkt vom Mund in den
Schädel.«
Art Madina war
schlank und hatte kurzes schwarzes Haar und grüne Augen, die trotz
seines Berufs lebendig funkelten. Obwohl er noch jung und ziemlich
neu im Büro des Leichenbeschauers war, hatte er sich bereits den
Ruf eines sehr gewissenhaften Arbeiters erworben, weshalb der
Staatsanwalt am liebsten auf ihn zurückgriff, wenn es galt, die
Geschworenen im Gerichtssaal zu überzeugen. Lieutenant Barrera
hatte die Autopsie verschoben, bis sich der Pathologe von seinem
Kongress in Las Vegas hatte loseisen können. Als Lena heute Morgen
angerufen hatte, um den Termin zu bestätigen, hatte sie erfahren,
dass er der Hauptreferent gewesen war.
»Die Verletzung
hatte, wie wir hier sehen, katastrophale Folgen«, fuhr Madina fort.
»Die Wucht war so groß, dass die Kugel den Großteil des vorderen
Hirnlappens mitgerissen hat. Der Tod ist sofort eingetreten. Bei
unserer unbekannten Toten liegen die Dinge hingegen
anders.«
Madina trat einen
Schritt nach rechts. Die Röntgenaufnahmen der Frau hingen neben
denen von Holt auf dem Leuchtkasten. Die Autopsien waren für elf
Uhr angesetzt gewesen. Trotz ihrer Wichtigkeit waren Lena und Novak
über fünfundvierzig Minuten zu spät gekommen, denn sie hatten die
ersten drei Stunden des Tages damit verbracht, die restlichen zehn
Frauen von Burells Webseite so schnell wie möglich abzuklappern.
Inzwischen hatten sie drei weitere Namen streichen können. Vier der
zehn hatten es offenbar mit der Angst zu tun bekommen und
fluchtartig die Stadt verlassen. Und die letzten drei waren nicht
zu Hause und nahmen auch nicht ab, als Lena sie mobil anrief.
Allerdings war die Mühe vergeblich gewesen, denn keine der
befragten Frauen hatte je einen kräftig gebauten Mann mit kahlem
Schädel und glatter Haut bei Burell gesehen. Als sie endlich in der
Gerichtsmedizin eintrafen und in OP-Anzüge schlüpften, hatten sie
nur die Röntgenaufnahmen verpasst.
Madina rückte seine
Brille zurecht und betrachtete den Röntgenfilm. »Die Messerstiche
im Körper der jungen Frau verlaufen nach demselben Muster wie die
Verletzungen, die wir letzten Freitag bei Nikki Brant gefunden
haben. Sie sind beinahe identisch. Der große Unterschied ist die
Todesursache. Ich wette, dass wir sie hier finden werden.« Er
zeigte auf den Hals der Unbekannten. »Ein schweres Trauma.
Eindeutig ein Bruch. Bei der Leichenöffnung werden wir sehen, was
zuerst kam.«
»Fangen wir mit dem
männlichen Opfer an«, sagte Lena. »Er ist es, der uns im Moment am
meisten interessiert.«
Sie nannte Holt nicht
beim Namen, um Abstand zu wahren. Autopsien waren ohnehin schon
schwer genug zu ertragen. Doch zusehen zu müssen, wie ein Pathologe
einen Menschen aufschnitt, den man kannte, gehörte eigentlich in
ein Paralleluniversum. Während sie den Geruch des Wick VapoRub
unter ihrem Mundschutz einatmete, fragte sie sich, wie lange sie
wohl durchhalten würde. Sie wünschte, sie hätte besser geschlafen,
denn sie hatte sich trotz des Weins den Großteil der Nacht
herumgewälzt, gelauscht, wie das Haus im Wind knarzte, und die
Albträume abgewehrt, die nach einem Achtzehn-Stunden-Tag, verbracht
an zwei Tatorten, auf sie einstürmten. Charles Burell zwinkerte ihr
aus dem Jenseits zu. Auch Romeo erschien. Sie erinnerte sich, dass
seine schemenhafte Gestalt an ihr Bett getreten war. Er war ein
Hüne und absolut haarlos. Allerdings hatte sie in der Dunkelheit
sein Gesicht nicht erkennen können. Nur zwei Augen, die sie aus der
Finsternis anfunkelten. Im nächsten Moment war sie mit klopfendem
Herzen hochgeschreckt und wach geblieben, bis die Sonne über der
Stadt aufging und die Schatten vertrieb.
Madina griff nach
seinem Klemmbrett und überflog seine Notizen. »Halten Sie Tim Holts
Tod denn nicht für einen Selbstmord? Davon steht aber nichts im
vorläufigen Bericht. Laut Gainer war es eindeutig
Suizid.«
»Wir sind hier«,
erwiderte Novak, »um uns über die verschiedenen Alternativen zu
informieren.«
»Soll das heißen, wir
könnten es auch mit einem Mord zu tun haben?«
Lena räusperte sich.
»Wir haben Grund zu dieser Annahme. Außerdem darf man nichts von
vorne herein ausschließen.«
Nach einem Blick zu
Novak folgte sie Madina durch den Autopsiesaal zu den beiden
Leichen, die bereits auf Edelstahlbahren lagen. Im selben Raum
fanden gleichzeitig fünf Autopsien statt. Als Lena die unbekannte
Tote betrachtete, wurde ihr klar, dass sie ihr Gesicht noch nie
gesehen hatte, und sie stellte überrascht fest, wie jung sie noch
war und wie unschuldig sie gewesen sein musste. Kein Wunder, dass
Holt sie begehrt hatte. Dann drehte sie sich zu Holts nackter
Leiche um und versuchte, nicht darauf zu achten, dass ein Assistent
direkt hinter ihnen dem Mitglied einer Jugendbande die Schädeldecke
aufsägte.
»Gab es Kampfspuren
im Haus?«, fragte Madina. »Soll ich auf etwas Bestimmtes
achten?«
Novak schüttelte den
Kopf. »Unseres Wissens nach nicht. Allerdings war es ein
schwieriger Tatort. Man konnte sich kaum bewegen. Holt war gerade
erst eingezogen und hatte keine Gelegenheit mehr zum
Auspacken.«
Madina nickte. Die
Herausforderung schien ihm Spaß zu machen. »Dann schauen wir
mal.«
Er begann seine
Untersuchung damit, dass er Holts Hände einer gründlichen Musterung
unterzog. Lena erinnerte sich an die Schmauchspuren. Da diese sehr
flüchtig waren, hatte Ed Gainer sie bereits am Tatort
sichergestellt. Lena fragte sich, ob es das war, was Madina vorhin
in seinen Unterlagen nachgeschlagen hatte.
»Seine Fingerkuppen
weisen starke Schwielen auf«, stellte der Gerichtsmediziner fest
und sah Lena an. »Er war Linkshänder, richtig? Und er hat nicht nur
Keyboard gespielt, sondern auch ein wenig Gitarre.«
Sie erwiderte seinen
Blick, erstaunt, dass er wusste, was Holt von Beruf gewesen war.
»Ja«, erwiderte sie. »Er war Linkshänder.«
Medina betrachtete
Holts Handgelenke und Fußknöchel und musterte einen kleinen
Bluterguss am Oberbauch. »Tut mir leid, dass ich nicht früher
zurückkommen konnte«, sagte er. »Seine Band wollte ein neues Album
herausbringen. Ich habe mir letzte Woche Auszüge daraus auf der
Webseite angehört. Ich bin ein Fan«, fügte er, an Lena gewandt,
leise hinzu.
Sie verstand, was er
meinte, und nickte. Dann traten sie und Novak vom Tisch zurück. Die
nächsten beiden Stunden sah Lena zu, wie Madina und zwei
Assistenten die Leiche ihres Freundes sezierten. Dabei war das
Wichtigste, nicht schwach zu werden. Nicht zusammenzuzucken, als
der Pathologe mit dem Skalpell einen Y-förmigen Einschnitt in Holts
Brust vornahm. Nicht auf das Geräusch zu achten, wenn wieder ein
Insekt, das von den Leichen angezogen wurde, im elektrischen
Fliegenfänger verglühte und hungrig sterben musste.
Um sich abzulenken,
grübelte Lena weiter über den Fall nach. Würden die drei Frauen von
Burells Webseite, die sie nicht erreicht hatten, zurückrufen? Was
war eigentlich der Unterschied zwischen Romeo und der Person, die
David erschossen hatte? Waren nicht beide gleichermaßen gefährlich,
auch wenn einer von ihnen unter Zwang und der andere aus freien
Stücken tötete? Lena sah zu ihrem Partner hinüber und bewunderte
seine Kraft und Entschlossenheit. Letzte Nacht war sie so
aufgewühlt gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, sich nach Novaks
Tochter zu erkundigen. Als sie sich heute Morgen bei ihm
entschuldigt hatte, hatte er gesagt, er habe in einem Versteck in
ihrem Zimmer Crack gefunden, könne jedoch erst etwas unternehmen,
wenn sie nach Hause käme. Ihre bisherigen Ausflüge in die
Drogenszene hatten meist einen oder zwei Tage gedauert. Manchmal
sogar bis zu einer Woche. Und dennoch stand Novak heute hier neben
ihr und arbeitete an diesem Fall.
Endlich war es
vorbei. Holts sterbliche Überreste wurden mit einem Wasserschlauch
abgespritzt. Dann nähte ein Assistent seine leere Brusthöhle mit
dickem schwarzem Zwirn zu, während Madina begann, den Fall zu
erörtern.
»Ich kann an diesem
Toten nicht die geringsten Anzeichen für ein Tötungsdelikt
entdecken«, verkündete er. »Nichts weist darauf hin, dass hier
etwas faul ist.«
Lena trat näher heran
und versuchte, den Geräuschpegel im Raum und das Zischen der
Insektenfalle auszublenden. Madina konsultierte seine
Aufzeichnungen.
»Die von Gainer am
Tatort sichergestellten Spuren unter den Fingernägeln ergaben keine
menschlichen Hautfetzen. Also kein Indiz dafür, dass der Tote
jemanden gekratzt oder sich gewehrt hat. Außerdem fehlen
Abschürfungen an den Fingerknöcheln sowie Fesselspuren an Hand-
oder Fußgelenken. Auch sein Hals ist unversehrt. Keine Einblutungen
um die Augen oder unter den Lidern, und als wir ihn aufgeschnitten
haben, war auch das Zungenbein intakt. Er wurde weder gewaltsam
festgehalten noch erwürgt. Tut mir leid, dass die Resultate Ihre
Theorie nicht bestätigen, doch er weist keinerlei
Abwehrverletzungen auf.«
»Was ist mit dem
Bluterguss am Bauch?«, fragte Novak. »Der sieht frisch
aus.«
»Richtig«, stimmte
Madina zu. »Vermutlich hat er ihn sich ein oder zwei Stunden vor
seinem Tod zugezogen. Aber das kann alle möglichen Ursachen gehabt
haben. Sie sagten doch, er habe noch nicht ausgepackt, sodass man
sich im Haus kaum bewegen konnte. Vielleicht hat er sich ja
gestoßen.«
Lena wechselte einen
vielsagenden Blick mit ihrem Partner.
Madina trat näher an
die Leiche heran. »Das war das, was wir nicht gefunden haben«,
meinte er. »Nun zu unseren Ergebnissen, zum Beispiel den
Schmauchspuren. An seiner Haut wurde genug davon festgestellt und
auch bereits vom Labor bestätigt, was beweist, dass seine linke
Hand die Pistole abgefeuert hat. Als wir das Blut von seinem
Gesicht entfernten, haben wir Spuren des Mündungsfeuers an seiner
linken Wange entdeckt. Verbrennungen an Kinn, Lippen und Zunge.
Meiner Vermutung nach hat er sich die Mündung etwa fünf Zentimeter
vor den Mund gehalten und dann abgedrückt. An der Todesursache
besteht nicht der geringste Zweifel.«
Novaks Mobiltelefon
läutete. Er kramte es aus dem OP-Anzug hervor und musterte die
LCD-Anzeige. »Lieutenant Barrera«, flüsterte er, während er es
aufklappte. Das Telefonat dauerte kaum dreißig Sekunden. »Wir
müssen zurück ins Parker Center«, verkündete er
danach.
»Was ist mit der
Unbekannten?«, erkundigte sich Madina.
»Die müssen Sie sich
allein vornehmen. Wir reden über die Ergebnisse, wenn Sie fertig
sind.«
Da Novak einen
Mundschutz trug, war es schwierig, seiner Miene etwas zu entnehmen.
Allerdings konnte Lena seine Augen sehen, und als er ihr mitteilte,
die DNA-Resultate der Unbekannten seien da, musste sie wegen seines
Tonfalls zweimal überlegen, was er damit meinte. Dazu kamen sein
Blick und sein bedeutungsvolles Nicken. Die DNA-Resultate. Es klang
eher wie: Sie haben es geschafft, Lena. Die
Inszenierung ist perfekt.
Sie ließen Madina im
Autopsiesaal zurück, schlüpften aus den OP-Anzügen und hasteten die
Hintertreppe hinunter und aus dem Gebäude.
»Gib mir den
Schlüssel«, sagte Novak. »Ich fahre.«
»Was wollte
Barrera?«
»Genau das, was wir
gedacht haben.«
Nachdem Lena Novak
den Schlüssel zugeworfen hatte, stieg sie ein und atmete einen
tiefen Zug frischer Los-Angeles-Luft ein. Während Novak am
Wachhäuschen vorbei in Richtung Innenstadt raste, blickte sie aus
dem Fenster und betrachtete die schier endlose Parade von
Obdachlosen, die sich, in Lumpen gehüllt, über die Gehwege
schleppten. Der amerikanische Traum hatte eine Hintertür, schoss es
ihr durch den Kopf. Und wenn man die ins Kreuz bekam, stand man
ziemlich schnell draußen.
»Eigentlich ist es ja
keine Überraschung, Lena. Wir haben es schon letzte Nacht
vermutet.«
Sie sah Novak an.
»Warum machst du dann ein so besorgtes Gesicht?«
»Weil wir nicht
wissen, wer unser Mann ist und wem wir noch vertrauen können. Wir
haben es mit einem Dreckskerl aus den eigenen Reihen zu tun, der
momentan alle Hebel in Bewegung setzt.«
Diese Aussage fasste
es gut zusammen, dachte sie. Und damit nicht genug, denn nun würde
eine falsche Version des Tathergangs in den Akten landen, als wäre
sie in Stein gemeißelt: Romeo hatte die unbekannte Frau getötet.
Holt hatte ihren Bruder umgebracht und Selbstmord begangen. Ein
gefundenes Fressen für die Boulevardblätter an den
Supermarktkassen. Ein sensationeller Stoff für einen Fernsehfilm.
Sogar die Times würde im Strom
mitschwimmen und die Story bringen, und zwar auf der Titelseite,
nicht nur im Kalifornienteil.
Lenas Magen krampfte
sich zusammen, als sie ins Parkhaus des Präsidiums einbogen. Auf
der Fahrt im Aufzug in den zweiten Stock wurde ihr Puls immer
schwächer. Und als Lieutenant Barrera sie ins Büro des Captain
winkte, war der Brechreiz beinahe übermächtig. Stan Rhodes saß
bereits mit gesenktem Blick am Konferenztisch.
»Nehmen Sie Platz«,
sagte Barrera und schloss die Tür. »Wir haben viel zu
tun.«
Lena setzte sich
neben ihren Partner, während Barrera den Raum durchquerte und sich
neben Rhodes niederließ. Eine Front: Wir gegen
sie.
»Die DNA-Ergebnisse
sind da«, verkündete Barrera. »Die am Tatort Holt bei der
Unbekannten festgestellten Spermaspuren stimmen mit den Proben aus
den Fällen Teresa López und Nikki Brant überein. Also ist Romeo
unser Mörder. Er hat die Frau umgebracht und dann gewartet, bis
Holt nach Hause kam, um seine Reaktion zu beobachten.«
Lena sah Rhodes an,
der sie beim Hereinkommen nicht einmal begrüßt hatte. Er wirkte
angespannt und hatte offenbar schon wieder nicht geschlafen. Ihre
Augen wanderten zu der Narbe an seinem linken Ohrläppchen. Das X
trat sogar noch stärker hervor als gestern.
»Hören Sie überhaupt
zu, Gamble?«, fragte Barrera.
Lena nicke wortlos.
Barrera schob den Laborbericht über den Tisch, als hoffe er, dass
sie und Novak dadurch endlich zur Vernunft kommen
würden.
»Romeo ist unser
Mann«, wiederholte er. »Und Holt hat Ihren Bruder auf dem Gewissen.
Dafür haben wir jetzt die Bestätigung. Der Fall ist abgeschlossen,
Detective. Es ist vorbei.«
Barrera musterte sie
abschätzend, während er weitersprach. Offenbar hatte er noch mehr
zu sagen. Lena wartete schweigend ab und fragte sich, was wohl als
Nächstes kommen würde.
»Der Mord an Ihrem
Bruder war ein äußerst medienwirksamer Fall«, fuhr er fort. »Es ist
ein Pluspunkt für uns, dass unsere Abteilung ihn aufklären konnte.
Der neue Polizeipräsident ist hocherfreut, befürchtet allerdings,
dass es undichte Stellen geben könnte. Deshalb wird er die
Pressekonferenz bereits in einer Stunde abhalten, anstatt bis heute
Nachmittag zu warten. Ich weiß, dass es sehr kurzfristig ist,
Gamble, doch er möchte, dass Sie ein paar Worte sprechen und neben
ihm auf dem Podium stehen.«
Lena war vor
Entsetzen wie gelähmt und bemerkte erst gar nicht, dass Novak
aufgesprungen war. Und zwar so heftig, dass sein Stuhl
umkippte.
»Das ist doch
bodenloser Schwachsinn!«, brüllte er.
»Setzen Sie sich,
Detective«, befahl Barrera.
»Es ist Schwachsinn,
und Sie wissen das ganz genau.«
»Entweder Sie setzen
sich jetzt, oder Sie hauen sofort ab.«
Barreras Stimme
hallte von den Glaswänden wider.
»Ich möchte gern
Holts Tagebücher sehen«, ergriff Lena schließlich das
Wort.
»Warum?«, herrschte
Barrera sie an. »Der Fall ist abgeschlossen. Und damit
basta.«
»Ich will sie lesen.
Und zwar alle. Jedes einzelne bis zum Tag seines
Todes.«
Langsam hob Rhodes
den Blick vom Tisch und starrte sie entgeistert an. Sie wagte es,
die unglaubliche Forderung, die man ihr stellte, mit einer eigenen
Forderung zu kontern. Allerdings fühlte sich Lena voll und ganz im
Recht. Letzte Nacht beim Nachhausekommen hatte sie einen Einfall
gehabt. Wenn Holt dem Mord an ihrem Bruder auf den Grund gegangen
war, hatte er sich vielleicht Notizen gemacht.
»Die Tagebücher sind
nicht hier«, entgegnete Rhodes. »Aber ich weiß, was drinsteht. Für
deine Theorie sind sie vollkommen irrelevant.«
»Woher willst du
wissen, was ich für eine Theorie habe?«
»Vergessen Sie die
albernen Tagebücher«, unterbrach Barrera. »Bis zur Pressekonferenz
haben Sie eine Stunde, Ihre Rede auswendig zu lernen. Das ist keine
Bitte, Detective, sondern ein Befehl. Ein klarer
Befehl.«
Er schob ihr ein
Blatt Papier zu, ihre Rede, verfasst von jemandem in der Chefetage.
Sie war kurz und umfasste nur zwei Absätze. Darin dankte Lena ihren
Kollegen dafür, dass sie das Verbrechen endlich aufgeklärt hatten
und ihr somit die Möglichkeit gaben, den Mord an ihrem Bruder zu
verarbeiten. Obwohl das Ergebnis nur schwer zu ertragen sei, sei
sie nun um so fester entschlossen, eine noch bessere
Polizistin...
Als sie aufschaute,
stellte sie fest, dass auch Novak die vorgefertigte Rede las und
dabei missbilligend das Gesicht verzog. Währenddessen überschlugen
sich ihre eigenen Gedanken, und sie erinnerte sich an das Gespräch
vor einer Viertelstunde im Auto.
Offenbar gab es da
jemanden in ihren Reihen, der derzeit eine ganze Menge von Hebeln
in Bewegung setzte.
Und offenbar hatte er
ihr in diesem Spiel die Rolle des Bauernopfers
zugedacht.
Lena schwieg und
fragte sich, wie viel Gefahr ihr wohl drohte. Dann steckte sie
wortlos das Blatt Papier ein und ging nach einem kurzen Blick auf
Barrera hinaus.