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Die Tatsache, dass es zu ihren Aufgaben gehörte,
machte die Sache nicht leichter. Das Opfer am Tatort musste
identifiziert werden. Und dazu brauchten sie James Brants Aussage,
dass das Foto der Leiche, das Lena in der Jackentasche hatte,
tatsächlich seine Frau darstellte.
Das Gesicht in den
Armen vergraben, lehnte Brant an der offenen Autotür. Lena stand
mit Novak auf der anderen Seite des Wagens, Brant
gegenüber.
»Wo geht Tito hin?«,
erkundigte sich Brant mit zitternder Stimme.
»Das Rote Kreuz ist
hier«, erwiderte Lena. »Er holt Ihnen einen Kaffee.«
Brant hob den Kopf.
Regentropfen fingen sich in seinen braunen Locken. Lena folgte
seinem Blick zu Sánchez. Er ging über den Rasen zu einem Pick-up,
der vor dem Nachbarhaus parkte. Das Rote Kreuz würde die Anwohner
mit Lebensmitteln und Getränken versorgen, bis die Straßensperre
aufgehoben wurde. Sánchez würde sich mit dem Kaffeeholen Zeit
lassen. Das hatten sie gemeinsam beschlossen, weil Brant sich nicht
von zu vielen Menschen bedrängt fühlen sollte. Lena und Novak
würden die Identifizierung allein mit ihm vornehmen. Wegen ihrer
lockeren Art kam Lena die Führungsrolle zu, Novak mit seinem
geschulten Blick und seiner Erfahrung die des
Beobachters.
»Ich will ins Haus«,
sagte Brant. »Ich will Nikki sehen und sie in den Armen
halten.«
»Unser tief
empfundenes Beileid, Mr. Brant. Aber Ihr Haus ist nun ein Tatort.
Unsere Kollegen müssen arbeiten, damit wir herausfinden können, was
geschehen ist.«
»Ich will sie sehen.«
Brants Stimme schien aus seinem Bauch aufzusteigen, während er
wieder den Kopf sinken ließ und zu Boden starrte. Dann ballte er
die Faust, schlug damit gegen die Innenseite der Tür und richtete
sich auf. Plötzlich war Lena klar, warum die Wirtschaftsbücher auf
Augenhöhe standen, während die Kunstbände in den tieferen Regalen
untergebracht waren. James Brant war weit über eins achtzig groß,
seine Frau mindestens dreißig Zentimeter kleiner und sehr zierlich
gebaut. Die Anordnung der Bücher war offenbar aus praktischen
Gründen erfolgt.
»Sie ist ganz allein.
Ich sollte bei ihr sein. Sie hat das nicht verdient.«
»Nein, das hat sie
nicht«, antwortete Lena. »Und ich stimme Ihnen zu, dass diese
Situation der absolute Mist ist.«
Ob es an ihrem
Tonfall oder der Wortwahl gelegen hatte? Jedenfalls wandte Brant
sich vom Haus ab und starrte sie an. Sein Blick wurde prüfend, und
in seinem Gesicht und am Hals begannen Muskeln zu zucken. Trotz des
zerknitterten Anzugs merkte Lena, dass Brant kräftig gebaut und
ausgesprochen muskulös war. Gewiss war er zu Schulzeiten ein
eifriger Sportler gewesen. Vermutlich Football oder Fußball. Sicher
ging er ins Fitnessstudio.
»Wenn Sie mir
zustimmen«, sagte er, »warum darf ich sie dann nicht sehen? Ich
will wissen, was passiert ist.«
»Wir auch, Mr. Brant.
Und je eher Sie das einsehen, desto besser für uns
alle.«
Während er darüber
nachdachte, wurde sein Blick wieder leer und nach innen gewandt.
»Ich habe Tito doch schon alles erzählt. Ich kam nach Hause, habe
sie gefunden … in diesem Zustand.«
»Das hat er uns
gesagt. Sicher war es sehr schwer für Sie. Wir sind Ihnen für Ihre
Mitarbeit sehr dankbar.«
Sánchez hatte ihnen
sein Gespräch mit Brant bereits geschildert. Es gehörte zur
Ermittlungsstrategie. Während die Kollegen sich zum Tatort
zurückzogen und Abstand hielten, hatte Sánchez Brant Gesellschaft
geleistet und versucht, sich mit ihm anzufreunden. James Brant war
achtundzwanzig Jahre alt und arbeitete als oberster Erbsenzähler
bei der Firma Dreggco Corporation, einem jungen Biotechunternehmen
mit Sitz südlich von Venice Beach. Lena hatte Recht gehabt: Die
Brants hatten mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Brant hatte
die Stelle und den Titel seiner Jugend und der Bereitschaft zu
verdanken, auf einen Großteil seines Gehalts zu verzichten, um an
vorderster Front dabei sein zu können. Die Dreggco Corporation
baute auf den Erfolg ihres aktuellen Forschungsprojekts. Wenn es
klappte, würden alle die Früchte genießen. Ging es schief, verfügte
Brant zumindest über genug Berufserfahrung, um für ein höheres
Gehalt anderswo anzuheuern. Laut Tito hatte das Unternehmen einen
Treffer gelandet. Außerdem stand wegen einer Firmenübernahme ein
Geldregen an. Brant hatte Tito erzählt, er arbeite schon seit über
einer Woche die Nächte durch. Der Vertrag hinge von den richtigen
Zahlen ab. Die Ehe mit Nikki sei zwar harmonisch – schließlich
seien sie erst seit zwei Jahren verheiratet -, allerdings auch
nicht frei von Konflikten gewesen. Sie lebten von Nikkis Gehalt,
was nicht viel war, denn sie unterrichtete an einem kleinen
Kunst-College auf der anderen Seite von Glendale. Wegen der Raten
für das Haus reichte es kaum für das Nötigste.
»Ich habe sie
geliebt«, sagte er nun. »Bis jetzt war alles perfekt.«
»Perfekt?«, fragte
Lena.
Er sah sie unverwandt
an. »Perfekt«, wiederholte er. »Bis jetzt.«
»Mr. Brant, ich muss
Ihnen etwas zeigen. Es wird nicht leicht für Sie
sein.«
Offenbar wusste
Brant, was ihn erwartete. Mit der rechten Hand griff er nach dem
Rand der Autotür, als wolle er sich an den Seilen eines Boxrings
festhalten. Er wirkte tatsächlich angeschlagen. Vielleicht würde es
bei ihm nicht mehr bis zur letzten Runde reichen.
»Geben Sie her«,
meinte er.
Lena warf Novak einen
Blick zu. Doch die Augen ihres Partners waren starr auf Brant
gerichtet. Sie griff in die Tasche und holte das Polaroid heraus.
Es war eine Nahaufnahme von Nikki Brants Gesicht, das durch den
Riss in der Einkaufstüte lugte. Während Lena es Brant hinstreckte,
versuchte sie, seine Reaktion einzuschätzen. Sein Blick huschte
nicht etwa über das Foto und wich dann aus, als wolle er so schnell
wie möglich vergessen. Stattdessen schienen seine Züge in sich
zusammenzufallen, als er sah, was seiner Frau zugestoßen
war.
»Ist das Ihre Frau,
Mr. Brant?«
Unfähig zu sprechen,
nickte er mit dem Kopf und begann zu zittern. Dann schloss er die
Augen, sank schlaff auf den Vordersitz und vergrub das Gesicht in
den Armen. Immer wieder stieß er lang gezogene Schreie aus, gefolgt
von einem atemlosen Keuchen, das Lena bis ins Mark
erschütterte.
Sie steckte das
Polaroid wieder ein. Danach entfernten sie und Novak sich vom
Fahrzeug.
»Glaubst du, der ist
echt?«, fragte sie.
Als ihr Partner
nickte, nickte auch sie. Ihr war übel. Brant das Foto zu zeigen
erschien ihr gleichzeitig absurd und unnötig grausam. Sie
beobachtete ihn aus der Entfernung und lauschte seinem Schluchzen,
dem Klagen einer gequälten Seele, das durch diese ruhige Siedlung
im Wald wehte. Ein Geräusch, als pralle jemand gegen eine Wand,
ohne dass der Knall von Verkehrslärm gedämpft wurde. Lena kannte es
aus eigener Erfahrung, dieses unverkennbare Geräusch, das keinen
Zweifel daran ließ, dass das Paradies endgültig verloren
war.