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»Er ist
Linkshänder.«
Mit einer ruckartigen Bewegung schob Irving Sample
die Lupe näher an seinen Arbeitstisch heran und begann, die beiden
Kreuzworträtsel miteinander zu vergleichen. Die Notizzettel, die
Lena von der Pinnwand der Brants genommen hatte, sowie – nur für
alle Fälle – ein paar weitere Schriftproben aus den Akten in ihrem
Schreibtisch lagen auf einem Leuchttisch daneben.
Sample hatte sich
geweigert, ins Büro zu kommen, und seinen Willen letztlich auch
durchgesetzt. Nun saßen sie in seinem Arbeitszimmer bei ihm zu
Hause in La Canada, einem kleinen wohlhabenden Städtchen in den
Hügeln oberhalb von Glendale. Als Lena ihn angerufen hatte, hatte
er erwidert, er würde die Unterlagen lieber hier sichten.
Schließlich sei es Sonntag, seine Kinder seien zu Besuch und er
habe zu Hause alles, was er für ein vorläufiges Ergebnis
brauche.
Lena störte das
nicht, und Novak war auch einverstanden. Schließlich waren es vom
Parker Center nach La Canada nur zwanzig Autominuten, und sie
hatten beide ein wenig frische Luft nötig. Allerdings hätten sie
nie damit gerechnet, dass in diesem Viertel Pfaue frei auf der
Straße herumliefen. Zwei der Vögel standen auf einem Nachbardach
und krächzten etwas hinter dem Haus an. Drei weitere verwüsteten
einen Garten drei Häuser weiter.
Lena saß am Tisch und
blickte aus dem Fenster. Ein Pfau war gerade in Samples Garten
gelandet und beäugte sie nun argwöhnisch durch die Scheibe. Vor
einigen Jahren hätte sie noch geschworen, dass es eine
Halluzination war.
»Achten Sie nicht auf
die Vögel«, meinte Sample, über die Schulter gewandt. »Sie sind
prima Wachhunde.«
»Das kann ich mir
denken«, erwiderte sie.
»Jemand ist
weggezogen und hat sie zurückgelassen. Sie haben sich vermehrt und
aus irgendeinem Grund beschlossen zu bleiben. Seit wir hier wohnen,
hat es im Viertel keinen Einbruch mehr gegeben.«
»Der Krach würde mich
wahnsinnig machen«, sagte Novak.
»Man gewöhnt sich
dran.«
Sample nahm ein
weißes Blatt Papier aus einer Schublade und begann, einzelne
Buchstaben aus den Kreuzworträtseln abzumalen und ihre Form und
Neigung nachzuahmen. Während er arbeitete, betrachtete Lena die
Gerätschaften auf seinem Tisch und die Sammlung von Tintenfässern,
die – wegen des Lichteinfalls ein Stück entfernt vom Fenster – in
einem Vitrinenschrank standen. In den Regalen stapelten sich
Fachbücher zum Thema Urkundenfälschung. Sie hatte nicht nur nichts
gegen die Fahrt einzuwenden gehabt, sondern schätzte sich sogar
glücklich, auf einen Handschriftexperten von Samples Format
zurückgreifen zu können.
Sample hatte seine
Laufbahn bei der Abteilung für Urkundenfälschung beim Geheimdienst
begonnen. Als er einen Ruf an die University of California in
Berkeley erhielt, nahm er die Stelle hauptsächlich deshalb an, weil
seine Kinder inzwischen im Norden von Kalifornien lebten. Doch so
sehr er es auch genoss, nah bei seiner Familie zu wohnen und
Studenten zu unterrichten, meldete sich bald wieder das Jagdfieber,
und er vermisste die Herausforderungen der wirklichen Welt. Bis
Sample sich vor zehn Jahren bereit erklärt hatte, nach Los Angeles
zu ziehen und die Abteilung für Urkundenfälschung bei der dortigen
Polizei zu leiten, waren derartige Aufträge auf freiberuflicher
Basis an Experten vergeben worden.
Während ihrer Zeit in
der Abteilung für Urkundenfälschung bei der Polizei von Hollywood
hatte Lena zweimal mit Sample zusammengearbeitet. Sie waren
einander auf Anhieb sympathisch gewesen.
»Ich hab was
gefunden«, verkündete Sample nun aufgeregt. »Eine
Besonderheit.«
Er griff nach den
beiden Notizzetteln von der Pinnwand und verglich sie mit der
Schrift in den Kreuzworträtselkästchen.
»Schauen Sie, wie er
das P schreibt«, fuhr er fort. »Das ist nicht nur sehr
ungewöhnlich, sondern sogar einmalig.«
Lena und Novak
rutschten näher heran.
Sample winkte sie
noch dichter zu sich. »Die meisten Menschen verwenden eine von zwei
Methoden, wenn sie ein P schreiben.« Er nahm ein frisches Blatt
Papier aus der Schublade und griff nach einem Stift. »Der Buchstabe
P besteht im Grunde genommen aus einem Strich und einem Halbkreis.
Wer zweimal ansetzt, fängt oben an, malt den Strich und hängt dann
den Halbkreis daran. Setzt derjenige nur einmal an, beginnt er
unten und zieht den Stift durch, bis der Halbkreis fertig
ist.«
Lena beobachtete, wie
Sample ein P erst aus zwei, dann aus einem Strich bildete. Eine
dritte Möglichkeit konnte sie sich nicht vorstellen.
»Worin liegt denn die
Besonderheit?«, fragte sie deshalb.
Sample schmunzelte.
»Fast alle Menschen beginnen mit dem Strich. Ganz im Gegenteil zu
dem Mann, den Sie suchen.« Er schob das Papier zu Lena und Novak
hinüber und machte es ihnen vor. »Es ist nur eine Linie, die unten
am Halbkreis ansetzt und dann nach oben zum Strich geführt
wird.«
»Wie selten kommt das
vor?«, erkundigte sich Novak.
»So selten, dass es
genauso beweiskräftig ist wie ein Fingerabdruck. Diese beiden
Kreuzworträtsel wurden von ein und derselben Person gelöst. Daran
besteht kein Zweifel. Jedes P wurde auf die identische
ungewöhnliche Methode geschrieben.«
Lena warf einen Blick
auf die Notizzettel aus Brants Haus. »Was ist mit
denen?«
Sample schüttelte den
Kopf. »Nikki und James Brant sind Rechtshänder und schreiben ihre
Ps wie die meisten anderen Leute auch. Sie hat die
Ein-Strich-Technik verwendet, er benutzt zwei Striche. Falls die
Kreuzworträtsel ein Hinweis auf den Täter sind, ist James Brant aus
dem Schneider.«
Samples Worte hallten
im Raum wider.
… ist James
Brant aus dem Schneider.
Lena krampfte sich
der Magen zusammen, und sie musste an ihre Begegnungen mit James
Brant denken. Daran, wie er während der Vernehmung am Kaffeebecher
herumgespielt und seine Zigarette gehalten hatte. Seine Hand, die
den Autoschlüssel vom Schlüsselring entfernte, als sie ihn hinter
dem Haus zur Rede gestellt hatte. Brant war eindeutig Rechtshänder.
Als sie Novak ansah, wusste sie, dass er dasselbe
spürte.
Die Hitze. Das Feuer.
Der Zug, der auf den Gleisen in die Dunkelheit
hineinraste.
Ihre Blicke trafen
sich. Novak verzog das Gesicht. Dann flüsterte er wieder die
Worte:
Die
Siebte.