21
 
»Er ist Linkshänder.«
Mit einer ruckartigen Bewegung schob Irving Sample die Lupe näher an seinen Arbeitstisch heran und begann, die beiden Kreuzworträtsel miteinander zu vergleichen. Die Notizzettel, die Lena von der Pinnwand der Brants genommen hatte, sowie – nur für alle Fälle – ein paar weitere Schriftproben aus den Akten in ihrem Schreibtisch lagen auf einem Leuchttisch daneben.
Sample hatte sich geweigert, ins Büro zu kommen, und seinen Willen letztlich auch durchgesetzt. Nun saßen sie in seinem Arbeitszimmer bei ihm zu Hause in La Canada, einem kleinen wohlhabenden Städtchen in den Hügeln oberhalb von Glendale. Als Lena ihn angerufen hatte, hatte er erwidert, er würde die Unterlagen lieber hier sichten. Schließlich sei es Sonntag, seine Kinder seien zu Besuch und er habe zu Hause alles, was er für ein vorläufiges Ergebnis brauche.
Lena störte das nicht, und Novak war auch einverstanden. Schließlich waren es vom Parker Center nach La Canada nur zwanzig Autominuten, und sie hatten beide ein wenig frische Luft nötig. Allerdings hätten sie nie damit gerechnet, dass in diesem Viertel Pfaue frei auf der Straße herumliefen. Zwei der Vögel standen auf einem Nachbardach und krächzten etwas hinter dem Haus an. Drei weitere verwüsteten einen Garten drei Häuser weiter.
Lena saß am Tisch und blickte aus dem Fenster. Ein Pfau war gerade in Samples Garten gelandet und beäugte sie nun argwöhnisch durch die Scheibe. Vor einigen Jahren hätte sie noch geschworen, dass es eine Halluzination war.
»Achten Sie nicht auf die Vögel«, meinte Sample, über die Schulter gewandt. »Sie sind prima Wachhunde.«
»Das kann ich mir denken«, erwiderte sie.
»Jemand ist weggezogen und hat sie zurückgelassen. Sie haben sich vermehrt und aus irgendeinem Grund beschlossen zu bleiben. Seit wir hier wohnen, hat es im Viertel keinen Einbruch mehr gegeben.«
»Der Krach würde mich wahnsinnig machen«, sagte Novak.
»Man gewöhnt sich dran.«
Sample nahm ein weißes Blatt Papier aus einer Schublade und begann, einzelne Buchstaben aus den Kreuzworträtseln abzumalen und ihre Form und Neigung nachzuahmen. Während er arbeitete, betrachtete Lena die Gerätschaften auf seinem Tisch und die Sammlung von Tintenfässern, die – wegen des Lichteinfalls ein Stück entfernt vom Fenster – in einem Vitrinenschrank standen. In den Regalen stapelten sich Fachbücher zum Thema Urkundenfälschung. Sie hatte nicht nur nichts gegen die Fahrt einzuwenden gehabt, sondern schätzte sich sogar glücklich, auf einen Handschriftexperten von Samples Format zurückgreifen zu können.
Sample hatte seine Laufbahn bei der Abteilung für Urkundenfälschung beim Geheimdienst begonnen. Als er einen Ruf an die University of California in Berkeley erhielt, nahm er die Stelle hauptsächlich deshalb an, weil seine Kinder inzwischen im Norden von Kalifornien lebten. Doch so sehr er es auch genoss, nah bei seiner Familie zu wohnen und Studenten zu unterrichten, meldete sich bald wieder das Jagdfieber, und er vermisste die Herausforderungen der wirklichen Welt. Bis Sample sich vor zehn Jahren bereit erklärt hatte, nach Los Angeles zu ziehen und die Abteilung für Urkundenfälschung bei der dortigen Polizei zu leiten, waren derartige Aufträge auf freiberuflicher Basis an Experten vergeben worden.
Während ihrer Zeit in der Abteilung für Urkundenfälschung bei der Polizei von Hollywood hatte Lena zweimal mit Sample zusammengearbeitet. Sie waren einander auf Anhieb sympathisch gewesen.
»Ich hab was gefunden«, verkündete Sample nun aufgeregt. »Eine Besonderheit.«
Er griff nach den beiden Notizzetteln von der Pinnwand und verglich sie mit der Schrift in den Kreuzworträtselkästchen.
»Schauen Sie, wie er das P schreibt«, fuhr er fort. »Das ist nicht nur sehr ungewöhnlich, sondern sogar einmalig.«
Lena und Novak rutschten näher heran.
Sample winkte sie noch dichter zu sich. »Die meisten Menschen verwenden eine von zwei Methoden, wenn sie ein P schreiben.« Er nahm ein frisches Blatt Papier aus der Schublade und griff nach einem Stift. »Der Buchstabe P besteht im Grunde genommen aus einem Strich und einem Halbkreis. Wer zweimal ansetzt, fängt oben an, malt den Strich und hängt dann den Halbkreis daran. Setzt derjenige nur einmal an, beginnt er unten und zieht den Stift durch, bis der Halbkreis fertig ist.«
Lena beobachtete, wie Sample ein P erst aus zwei, dann aus einem Strich bildete. Eine dritte Möglichkeit konnte sie sich nicht vorstellen.
»Worin liegt denn die Besonderheit?«, fragte sie deshalb.
Sample schmunzelte. »Fast alle Menschen beginnen mit dem Strich. Ganz im Gegenteil zu dem Mann, den Sie suchen.« Er schob das Papier zu Lena und Novak hinüber und machte es ihnen vor. »Es ist nur eine Linie, die unten am Halbkreis ansetzt und dann nach oben zum Strich geführt wird.«
»Wie selten kommt das vor?«, erkundigte sich Novak.
»So selten, dass es genauso beweiskräftig ist wie ein Fingerabdruck. Diese beiden Kreuzworträtsel wurden von ein und derselben Person gelöst. Daran besteht kein Zweifel. Jedes P wurde auf die identische ungewöhnliche Methode geschrieben.«
Lena warf einen Blick auf die Notizzettel aus Brants Haus. »Was ist mit denen?«
Sample schüttelte den Kopf. »Nikki und James Brant sind Rechtshänder und schreiben ihre Ps wie die meisten anderen Leute auch. Sie hat die Ein-Strich-Technik verwendet, er benutzt zwei Striche. Falls die Kreuzworträtsel ein Hinweis auf den Täter sind, ist James Brant aus dem Schneider.«
Samples Worte hallten im Raum wider.
… ist James Brant aus dem Schneider.
Lena krampfte sich der Magen zusammen, und sie musste an ihre Begegnungen mit James Brant denken. Daran, wie er während der Vernehmung am Kaffeebecher herumgespielt und seine Zigarette gehalten hatte. Seine Hand, die den Autoschlüssel vom Schlüsselring entfernte, als sie ihn hinter dem Haus zur Rede gestellt hatte. Brant war eindeutig Rechtshänder. Als sie Novak ansah, wusste sie, dass er dasselbe spürte.
Die Hitze. Das Feuer. Der Zug, der auf den Gleisen in die Dunkelheit hineinraste.
Ihre Blicke trafen sich. Novak verzog das Gesicht. Dann flüsterte er wieder die Worte:
Die Siebte.
Todesqual: Thriller
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