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Sie sah müde aus. In sich zurückgezogen. Trotz
Make-up waren Augenringe erkennbar. Doch als sie ihm von ihrer
Seite des Labors aus zulächelte, schmolz Fellows dahin wie immer.
Gerade noch rechtzeitig nahm er sich zusammen und schickte ein
Nicken über den Schreibtisch.
Es war ein
persönliches Lächeln gewesen. Ein ganz besonderes Lächeln, das mehr
zu bedeuten hatte als alles andere. Sie benutzte es nur, wenn
Nummer 3 gerade draußen und sie allein mit ihm war.
Fellows beobachtete,
wie Harriet den Tisch umrundete. Noch immer versuchte sie, das
Hinken zu verbergen. Er fragte sich, ob sie wohl Schmerzen hatte.
Trotz allem, was geschehen war, trotz seines Zorns und seiner Wut,
wusste er, dass er sie liebte. Er musste sie beschützen. Nach einer
Weile beugte er sich wieder über sein Notizbuch und machte einen
neuen Eintrag neben Uhrzeit und Datum.
Sieht heute miserabel aus. Wahrscheinlich derselbe Grund
wie immer, wenn auch noch nicht bestätigt. Wieder eine
nächtliche Ficksitzung mit Burell.
Fellows führte im
Labor zwei Notizbücher. Eines für seine Experimente, das stets auf
der Theke neben dem Mikroskop lag. Und ein zweites, das ganz und
gar seinen Beobachtungen in Sachen Harriet Wilson gewidmet war.
Dieses war stets im Schreibtisch eingeschlossen und wurde abends
zur gründlichen Lektüre mit nach Hause genommen. Fellows schrieb
gerne alles auf, um seine Gedanken und Gefühle zu ordnen und neue
Ideen von allen Seiten zu beleuchten. Außerdem fiel ihm seit etwa
einem Jahr auf, dass er geistig öfter abschweifte als früher. Wenn
er sich nicht sofort eine Notiz machte, war der Gedanke häufig auf
Nimmerwiedersehen verschwunden.
Er las den letzten
Satz noch einmal, strich Burells Namen durch und ersetzte ihn durch
die Worte zukünftiger Toter. Obwohl
diese Korrektur die Dinge akkurater wiedergab, bemerkte er, dass
seine Schrift beunruhigend zittrig wirkte, holte tief Luft und
versuchte, sich zu entspannen.
Es war nicht leicht.
In den vergangenen zwölf Stunden war er im Geist verschiedene
Szenarien durchgegangen, die alle zum Thema hatten, wie Charles
Burell seine letzten Minuten auf Erden verbringen sollte. Wenn er
jetzt genauer darüber nachdachte, erforderte keines dieser Vorhaben
die Mithilfe seines Freundes und Trainingspartners Mick
Finn.
Da war zum Beispiel
der Guillotinentraum. Fellows fungierte darin als Henker, der nur
den Befehl des Königs ausführte. Diese Phantasie gefiel Fellows
ganz besonders, denn sie endete immer mit einer jubelnden
Menschenmenge, während Burells Kopf eine lange Rampe hinunter in
einen Korb rollte. Allerdings gab es noch andere Träume. Einige
basierten auf seinen Lieblingsgeschichten aus der Bibel. Andere
bezogen sich auf Erlebnisse aus seiner Vergangenheit. Allerdings
blieben diese vager und waren schon deshalb weniger attraktiv, weil
es manchmal nicht Burell, sondern Fellows selbst war, der etwas
einstecken musste. Wie gut erinnerte er sich an die Drohungen
seiner Großmutter, kleine Jungen, die die Finger nicht von sich
lassen könnten, bekämen von der Jungfrau Maria ein schwarzes
Häkchen. Diese Häkchen würden am Ende des Monats zusammengezählt
und von den Engeln direkt zu Gott geschickt. Bei einer entsprechend
hohen Anzahl von Minuspunkten würde der unartige Junge den Löwen
oder dem bissigen Kettenhund von nebenan zum Fraß vorgeworfen.
Jahrelang hatte Fellows besagten Hund von seinem
Kinderzimmerfenster aus beobachtet und ihm Leckerbissen über den
Zaun geworfen. Unzählige Stunden hatte er damit verbracht zu
berechnen, wie viele Minuspunkte wohl nötig waren, bis der
Allmächtige den Daumen senkte. Trotz des Risikos war er machtlos
dagegen, dass er ein- oder zweimal täglich masturbieren musste.
Allerdings wurde es im Laufe der Zeit eher zum Zwang als zum
Vergnügen, stets begleitet von Angst und Furcht, er könnte es eines
Tages übertreiben und bei lebendigem Leibe verschlungen werden. Wie
seine Großmutter zu sagen pflegte, während sie ihm mit einem
zittrigen Finger drohte, war Martin Fellows nämlich der einzige
Junge auf der ganzen Welt, der sich gerne einen
runterholte.
Die Labortür ging
auf, und die Erinnerung fiel in sich zusammen, als Nummer 3 von der
Mittagspause zurückkehrte und wieder einmal dämlich in den Raum
hineingrinste.
Fellows sah auf die
Uhr und versuchte, nicht auf den Geruch nach Tacos mit Fisch zu
achten, der in der Luft lag. In einer Viertelstunde war er mit Finn
im Pink Canary verabredet. Hoffentlich hatte sein Freund sich auch
ein Szenario ausgedacht. Eines, das realistischer und ohne den
Einsatz von Menschenmengen oder historischen Details zu
verwirklichen war. Nachdem er sein Notizbuch in der Schublade
eingeschlossen hatte, stand er auf. An Harriets Tisch blieb er
stehen.
»Soll ich Ihnen das
Übliche mitbringen?«, fragte er.
Sie zwinkerte ihm zu
und nahm eine Speisekarte aus der Schublade. »Hmm«, meinte sie,
»heute habe ich mal Lust auf eine Abwechslung. Was nehmen Sie denn,
Martin?«
Sie breitete die
Speisekarte zwischen ihnen aus und rutschte näher. Als sie sich
unabsichtlich mit der Zunge über die Lippen fuhr, beugte Fellows
sich über die Speisekarte und bemühte sich um
Beherrschung.
Seit vor einigen
Jahren im Bundesstaat Washington BSE festgestellt worden war, wurde
es immer schwieriger, noch etwas Essbares zu finden. Obwohl nur
eine Kuh von der das Gehirn zersetzenden Krankheit befallen gewesen
war, gehörte das Tier zu einer Lieferung von mehr als achtzig
Stück, die nicht mehr aufgespürt werden konnten. Offenbar waren sie
irgendwo im System verschwunden und inzwischen längst verzehrt
worden. Nach Fellows’ Schätzung würden in etwa fünf Jahren die
ersten Haustiere sterben. In ungefahr sieben die Kleinkinder. Und
zwei oder drei Jahre später würde das grauenhafte Siechtum auch die
Erwachsenen ereilen. Es wunderte Fellows nur, dass diese Bedrohung
überall nur auf Gleichgültigkeit stieß. Die Regierung ergriff
Partei für die Rindfleischindustrie, anstatt sich für die
Sicherheit der Bevölkerung einzusetzen, während das
Landwirtschaftsministerium behauptete, nur ein Zehntelprozent aller
Rinder könnte überhaupt getestet werden. Dennoch erhob sich
nirgendwo Protest, und die Menschen standen immer noch am Lincoln
Boulevard Schlange, um ihre Hamburger zu verspeisen. Wie Kälber auf
dem Weg zur Schlachtbank.
Obwohl Fellows früher
gern Rindfleisch gegessen hatte, rührte er es nun nicht mehr an,
auch wenn man im Pink Canary nur Zutaten aus biologischem Anbau
verwendete. Eine Weile hat er aus Angst vor der Vogelgrippe sogar
Huhn gemieden, sodass nur noch Lamm und Schwein übrig geblieben
waren. Also war seine Nahrungsversorgung eindeutig gefährdet, was
das Leben für einen Bodybuilder ganz besonders schwierig machte.
Seit er trainierte, hielt er eine ausgeklügelte Diät: vierzig
Prozent Eiweiß, vierzig Prozent Kohlenhydrate und zwanzig Prozent
Fett, meist aufgenommen in Form von zwei Esslöffeln Leinöl nach
jeder Mahlzeit. Dass er sich Gedanken über verseuchte Nahrung
machen musste, war ein zusätzliches Ärgernis.
Er beobachtete
Harriet, die mit ihren sanften blauen Augen die Speisekarte
studierte. Sie trug das Haar zurückgesteckt, wie er es
mochte.
»Ich nehme
wahrscheinlich einfach Huhn«, meinte er leise. »Sie haben diese
Woche noch gar keine Rigatoni gehabt.«
»Ich dachte
eigentlich an Aubergine.«
»Lasagne?«
Sie lächelte und
unterdrückte ein Gähnen. »Auberginenlasagne mit Tomatensauce und
einen Eistee.«
»Ich habe neulich
gefragt, ob man auch halbe Portionen haben kann.«
»Schon gut. Was ich
nicht aufkriege, nehme ich mit nach Hause. Es ist gestern spät
geworden, und ich möchte früh schlafen gehen.«
Da hatte er es. Die
Bestätigung, dass sie letzte Nacht mit Burell zusammen gewesen war.
Er sah es in ihren Augen. Fellows drehte sich zu seinem
Schreibtisch um und überlegte, ob er einen Eintrag in sein
Notizbuch machen sollte, bevor er es vergaß.
»Haben Sie etwas,
Martin?«
Er schüttelte den
Kopf. »Alles bestens.«
Er würde es nicht
vergessen, beschloss er. Das durfte er nicht.
»Alles bestens«,
wiederholte er.
Nachdem sie ihm zehn
Dollar gegeben hatte, ging er zur Tür. Bis vor zwei Monaten hätte
er die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Harriet ein gutes Mädchen
war. Ruhig, schlicht, die Frau, von der er immer geträumt hatte.
Bis vor zwei Monaten hätte sie sogar die Jungfrau Maria sein
können, die zurückgekehrt war, um ihm den Weg zur Erlösung zu
zeigen. Inzwischen war ihm klar, dass sich die Lage umgekehrt
hatte, und dass er eine Methode finden musste, um sie zu
retten.
Ohne die Empfangsdame
eines Blickes zu würdigen, setzte er die Sonnenbrille auf, öffnete
die Tür und eilte über den Parkplatz. Obwohl das Restaurant in
Laufnähe war, musste er das Auto nehmen, weil die Sonne schien.
Zehn Minuten später stand er in der Schlange, wartete auf seine
Bestellung und beobachtete Finn durch das Fenster. Sein Freund war
gerade eingetroffen, saß an ihrem Tisch im Schatten und las die
Zeitung. Fellows drehte sich zu der alten Frau hinter der Theke um
und bemühte sich um Geduld. Sie war klein und dicklich und erzählte
gerade dem Kunden vor ihm einen ihrer schmutzigen Witze. Fellows
hörte ihrem Geschwätz schon seit Monaten nicht mehr zu. Allerdings
schienen die anderen Gäste an der Theke sie amüsant zu finden, denn
er stellte fest, dass alle lachten. Als sein Essen endlich kam,
ging er zur Kasse, bezahlte mit einem gezwungenen Lächeln, als
hätte er den Scherz verstanden, und steckte die üblichen zehn
Prozent in die Trinkgelddose. Dann eilte er mit seinem Tablett und
zwei Flaschen Mineralwasser hinaus zu Finn.
»Tut mir leid,
Martin, aber ich kann nicht lange bleiben. In der Arbeit geht es
drunter und drüber.«
Fellows schwieg und
versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Nachdem er beide Portionen Pollo Cacciatore auf den Tisch gestellt
hatte, wischte er seine Gabel mit einer Papierserviette ab und fing
an, den Salat zu essen.
»Du siehst müde aus«,
meinte Finn. »Du hättest nach dem Training gestern sofort nach
Hause fahren sollen. Aber stattdessen hast du einen Ausflug in die
Hügel unternommen.«
Fellows rückte seine
Sonnenbrille zurecht und betrachtete seinen Freund. »Ich bin nicht
müde. Es liegt am Licht. Es ist so hell heute.«
»Die Sonne spiegelt
sich in der Fensterscheibe da drüben. Willst du den Platz
tauschen?«
Fellows blickte zu
der Wohnung über dem Pink Canary hinüber. Das grelle Licht, das von
der Scheibe zurückgeworfen wurde, schien ihn anzuleuchten wie ein
Bühnenscheinwerfer.
»Schon gut«, meinte
er. »Was ist mit heute Abend?«
»Alles paletti. Wir
haben eine Verabredung.«
Erschaudernd vor
Erregung, legte Fellows die Gabel weg. »Warum hast du das nicht
gleich gesagt? Gestern Abend klang es, als wolltest du einen
Rückzieher machen.«
»Nein, Martin.
Niemand macht hier einen Rückzieher. Heute ist die Nacht der
Nächte. Ich werde da sein, um dich zu beobachten.«
Finn lächelte. Als
Fellows noch eine Gabel Salat aß, zitterte seine Hand.
»Wie?«
»Das erzähle ich dir,
wenn wir da sind«, erwiderte Finn. »Und tu mir bitte den Gefallen,
nicht mit vollem Mund zu sprechen. Die Leute schauen
schon.«
Am Eingang des
Restaurants standen vier Tische. Fellows wandte sich um und warf
einen Blick über den Rand seiner Sonnenbrille. Niemand sah in ihre
Richtung. Dennoch gab er sich Mühe, den Salat wortlos zu kauen.
Etwas an der Sauce war anders als sonst. Eine neue Zutat, die ihm
nicht gefiel. Er fragte sich, ob womöglich das Olivenöl verdorben
war. Was, wenn er jetzt krank wurde und seinem Freund die Pläne für
den Abend verdarb?
»Findest du nicht,
dass dich das etwas angehen sollte?« Finn klopfte mit den
Fingerknöcheln auf die Zeitung.
Fellows warf einen
Blick auf den Artikel und trank einen Schluck Wasser. Über die
gestrige Pressekonferenz der Polizei wurde auf der Titelseite
berichtet. Wie Fellows sich erinnerte, hatte er gestern nach dem
Training Auszüge daraus im Autoradio gehört. James Brant wurde
nicht mehr des Mordes an seiner Frau verdächtigt. José López sollte
eigentlich aus dem Gefängnis entlassen werden, hielt sich aber aus
unbekannten Gründen noch immer im Gebäude auf. Laut Polizei wiesen
die Ergebnisse des DNA-Vergleichs auf einen anderen Täter
hin.
Fellows hörte auf zu
lesen und blickte nachdenklich in Richtung Strand. Leider bot sich
ihm keine schöne Aussicht, sondern eine, die einem das Mittagessen
verderben konnte: ein Obdachloser auf Rollschuhen, der einen
gestohlenen Einkaufswagen voller Müll die Strandpromenade
entlangschob. Der Mann trug ein zerlumptes Hemd und eine stark
verschmutzte Hose. Trotz seines mangelnden Sinns für Körperhygiene
und Anstand hatte er ein Lächeln auf den Lippen. Ein breites
Grinsen, das auf Wahnsinn hinwies.
»Hörst du mir
überhaupt zu?«, fragte Finn. »Oder bist du anderweitig
beschäftigt?«
Fellows sah dem
Obdachlosen nach, der in das grelle Sonnenlicht hineinrollte und
darin verschwand.
»Die DNA interessiert
niemanden«, sagte er schließlich. Finn beugte sich vor und senkte
die Stimme. »Es ist deine DNA, Martin.«
»Wo sie herkommt, ist
egal.«
»Sie stellt einen
Zusammenhang zwischen zwei Morden her. Offenbar definierst du das
Wort interessant anders als
ich.«
»Solange sie mich
nicht haben, weist die DNA auf nichts anderes hin als auf sich
selbst«, erwiderte Fellows. »Sie ist ein geschlossenes System.
Außerdem ließ es sich nicht vermeiden.«
»Ich finde, dass du
zu viele überflüssige Risiken eingehst. Du solltest es eigentlich
besser wissen.«
»Um wie viel Uhr?«,
fragte Fellows.
»Du hörst mir gar
nicht zu.«
»Ich habe jedes Wort
verstanden. Um wie viel Uhr?«
Finn stand auf.
»Gegen zehn.«