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Der Teppich war fadenscheinig. Die schmutzigen Wände
schrien nach mindestens zwei Schichten Farbe. Raschen Schrittes
folgten Lena und Novak dem gedämpften Konservengelächter einer
Fernsehkomödie bis zu Avis Paytons Wohnungstür. Novak läutete. Da
die Klingel nicht funktionierte, klopfte er mit der flachen Hand
an. Kurz darauf verdunkelte sich der Spion, als jemand von innen
das Auge daran hielt.
»Wer ist
da?«
»Polizei, Ms.
Payton«, antwortete Novak. »Wir würden gern mit Ihnen
sprechen.«
»Können Sie sich
ausweisen?«
Novak hielt seine
Dienstmarke an den Spion. Es dauerte eine Weile, bis der Riegel
zurückgeschoben wurde und Avis Payton in Sicht kam. Sie trug einen
flauschigen Jogginganzug.
»Wie sind Sie
überhaupt reingekommen?«
»Es ging gerade
jemand raus«, erwiderte Lena.
»Tja, dann ist heute
offenbar Ihr Glückstag«, entgegnete Payton. »Eintreten auf eigene
Gefahr. Ich bin nämlich krankgeschrieben, weil mir übel ist und ich
mich ständig erbrechen muss.«
Ohne sie nach dem
Grund ihres Besuchs zu fragen, machte die junge Frau Platz und
steuerte auf das Sofa zu, wo eine Wolldecke lag. Lena folgte Novak
ins Wohnzimmer. Vom Balkon aus hatte man eine malerische Aussicht
auf den Jachthafen auf der anderen Seite des
Fahrradwegs.
Payton griff nach der
Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Verzeihung, ich
habe Sie nicht einmal gefragt, was Sie wollen. Ich bin nicht ganz
klar. Offenbar habe ich mir irgendein Magen-Darm-Virus eingefangen.
Setzen Sie sich. Falls ich plötzlich aufs Klo muss, sage ich
Bescheid.«
Da sie Payton auf der
Hinfahrt überprüft hatten, kannte Lena ihr Alter und wusste, dass
sie nicht vorbestraft war. Auf den ersten Blick wirkte die Frau
unverdächtig. Ihre Ausdrucksweise ließ auf Schulbildung schließen.
Das Haar trug sie kurz und zu einem unnatürlichen Rotton gefärbt,
der an Kastanienbraun-Metallic erinnerte. Sie war zierlich gebaut,
ohne mädchenhaft zu wirken. Trotz der dunklen Ringe unter den Augen
strahlte sie etwas Energisches aus. Doch am meisten wunderte Lena,
wie ruhig die Frau war. Während die meisten Menschen über einen
Besuch der Polizei erschraken, schien Avis Payton eher erleichtert
zu ein.
Warum?
Lena sah sich in der
kleinen Zweizimmerwohnung um, die spärlich möbliert, aber sauber
war. Als Lena sich umdrehte, stellte sie fest, dass Novak nach
seinem Piepser griff und das Display musterte.
»Es ist Barrera«,
verkündete er. »Ich muss ihn zurückrufen.«
Die Schiebetür war
mit einem Riegel versehen. Novak entfernte ihn, öffnete die Tür und
trat auf den Balkon hinaus. Während er sein Mobiltelefon
aufklappte, wandte Lena sich wieder an Payton.
»Sind Sie schon lange
krankgeschrieben?«
»Es hat mich am
Wochenende erwischt. Hoffentlich kann ich morgen wieder zur Arbeit.
Ich bin Kontenbetreuerin bei der Werbeagentur MBC. Wir verwalten
das Anzeigengeschäft für Zeitungen und Zeitschriften. Dienstags
geht es bei uns immer rund, weil alles für die Sonntagsausgaben der
Zeitungen fertig werden muss. Also bleibt mir gar nichts anderes
übrig, als mich ins Büro zu schleppen.«
»Darf ich Sie Avis
nennen?«
»Klar.«
»Haben Sie einen
Freund, Avis?«
Die Frau grinste
verlegen. »Worum geht es?«
Allerdings wollte
Lena ihr das nicht verraten. Zumindest noch nicht. Erst wenn sie
sich ein genaueres Bild von der Frau gemacht hatte.
»Ich habe nur so
gefragt. Es sieht aus, als ob Sie allein wohnen.«
Offenbar beruhigt,
kuschelte Payton sich in die Decke. »Ich bin solo, seit ich nach
Kalifornien gezogen bin.«
»Wann war
das?«
»Es ist ein bisschen
peinlich.«
»Mich schockiert man
nicht so leicht«, erwiderte Lena.
Payton lächelte
wieder und senkte die Stimme. »Vor über einem Jahr.«
Als sie sich zum
Balkon umdrehte, folgte Lena ihrem Blick. Novak starrte auf die an
den Stegen vertäuten Boote und klopfte mit dem Fuß, als hinge er in
der Warteschleife. Payton begann, unruhig auf dem Sofa
herumzurutschen. Da Lena die Geduld der Frau nicht überstrapazieren
wollte, beschloss sie, allein weiterzumachen.
»Wir sind hier, weil
wir in einem Fall ermitteln und dabei auf Ihren Namen und Ihre
Kreditkartennummer gestoßen sind.«
»Deshalb also! Aber
das war doch vor über einem Monat.«
Überraschung malte
sich im Gesicht der Frau. Und wieder war ihr die Erleichterung
deutlich anzusehen. Lena nickte. Sie war enttäuscht, denn der
zunächst so viel versprechende Hinweis schien wieder in eine
Sackgasse zu führen.
»Was ist vor einem
Monat geschehen?«
»Meine Handtasche
wurde gestohlen. Ich habe sie im Auto gelassen, während ich kurz im
Postamt war. Es hat nur etwa eine Minute gedauert. Und als ich
zurückkam, war die Tasche weg.«
Offenbar war ihr
etwas eingefallen, denn sie stand vom Sofa auf und ging zum
Esstisch, wo ein kleiner Stoß Briefe lag. Lena musterte sie
abschätzend, während sie die Kuverts durchsah. Payton verhielt sich
ausgesprochen kooperativ. So etwas erlebte man selten.
»Was ist Ihr Vater
denn von Beruf?«, fragte Lena schließlich.
Payton lächelte, und
ihre Augen strahlten. »Er ist Polizist. In Salt Lake City,
Utah.«
Warum war sie nicht
gleich darauf gekommen? Die Frau empfand die Gegenwart von
Polizisten nicht als beunruhigend, weil sie in diesen Kreisen
aufgewachsen war.
Payton kehrte mit
einem Umschlag, den sie Lena reichte, zum Sofa zurück. »Ständig
ruft er an und will wissen, wann ich zurückkomme. Hier, lesen Sie.
Die Karte müsste inzwischen gesperrt sein.«
Nachdem Lena die
Adresse der Bank studiert hatte, riss sie den Umschlag auf und las
den Auszug. Die Karte war vor zwei Wochen gesperrt worden. Charles
Burell Enterprises hatten eine Gebühr von 19,95 Dollar abgebucht,
die jedoch wieder gutgeschrieben worden waren. Darunter stand, dass
innerhalb der nächsten zehn Tage eine neue Kontonummer und Karte
erteilt werden würden. Der Hinweis war nichts mehr wert und hatte
sie auf eine falsche Fährte gelockt. Avis Payton war keine
Verdächtige, sondern das Opfer eines Diebstahls.
»War das die einzige
Abbuchung?«
»Sobald ich wusste,
was fehlt, habe ich die Bank verständigt. Jetzt sind Sie
enttäuscht. Ist da ein Problem?«
Lenas Blick wanderte
zu dem Riegel an der Schiebetür. Er wirkte neu, und Lena war froh,
dass es ihn gab.
»War Ihr Führerschein
auch in der Tasche?«, erkundigte sie sich.
Payton nickte. Sie
wandte sich zum Balkon um, und plötzlich schien ihr klar zu werden,
dass der Dieb wusste, wo sie wohnte. »Mir passiert schon nichts«,
meinte sie, ein wenig bedrückt. »Meinem Dad habe ich gar nichts
davon erzählt, denn der würde nur sagen, dass er mich gleich
gewarnt hat. Oder er würde womöglich noch Dummheiten
machen.«
»Macht er sich
Sorgen, weil Sie hier wohnen?«
»Ja, obwohl er
versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Deshalb habe ich es ja
für mich behalten. Er würde ausflippen.«
»Dann haben Sie keine
Anzeige erstattet?«
Sie schüttelte den
Kopf. »Im Portemonnaie hatte ich nur fünfzehn Dollar. Es war mir zu
lästig.«
Obwohl Payton
offenbar die Wahrheit sagte, notierte Lena sich die Kontonummer, um
bei der Bank Erkundigungen einzuziehen. Dann legte sie den Auszug
auf den Couchtisch und sah Payton nachdenklich an. Eigentlich war
es ja überflüssig, ihr mitzuteilen, wer vermutlich ihre Kreditkarte
benutzt hatte. Immerhin war seit dem Diebstahl ein Monat vergangen.
Bis jetzt war nichts geschehen, und sie würden mit ihren
Mutmaßungen die junge Frau nur in Angst und Schrecken versetzen.
Stattdessen beschloss Lena, vom Auto aus die Kollegen von der
Pacific Division anzurufen und sie über den Fall zu informieren,
damit die Streifen verstärkt und das Viertel besser überwacht
wurde.
»Wir müssen los«,
verkündete Novak.
Lena blickte auf. Ihr
Partner stand schon eine Weile in der Tür und beobachtete sie. Das
Mobiltelefon hing wieder neben dem Piepser an seinem Gürtel. Nach
seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte er einen Teil des
Gesprächs mitverfolgt und wollte nun gehen.
Nachdem Lena eine
Visitenkarte auf dem Tisch hinterlassen hatte, traten sie auf den
Flur hinaus. Doch sobald die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss
gefallen war, hastete Novak die Treppe hinunter in die Vorhalle.
Mit aufgeregt funkelnden Augen drehte er sich zu Lena
um.
»Die Laborergebnisse
sind da«, sagte er. »Wir haben einen Treffer.«