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Er saß an einem für zwei Personen gedeckten Tisch
unter einer Palme.
Allein.
Trotz der dunklen
Brille spürte Lena seine Augen auf sich, als sie den Gehweg entlang
auf das Lokal zuschlenderten. Sein Blick galt nicht Novak. Der Mann
reckte den Hals und starrte sie wie gebannt an. Fast, als wären sie
die letzten beiden Menschen auf einer Welt, die gerade aufgehört
hatte sich zu drehen und in Flammen aufgegangen war.
Es war ein
ausgesprochen unangenehmes Gefühl, das mit jedem Schritt stärker
wurde, sich unter ihre Haut bohrte und Besitz von ihrer Seele
ergriff.
Romeo. Drei Meter
entfernt. Der sie fixierte wie ein Beutetier.
Sie betraten das Pink
Canary und setzten sich an die Theke. Als Lena Martin Fellows im
Spiegel beobachtete, stellte sie fest, dass er sich nicht abgewandt
hatte, sondern sie weiter durch das Fenster anstarrte.
»Ist es dir auch
aufgefallen?«, flüsterte sie.
»Ja«, erwiderte
Novak. »Wo mag bloß sein Freund sein?«
Lena ließ den Blick
durch den Raum schweifen, betrachtete die Gesichter und versuchte,
das richtige zu erkennen. Es war laut im Lokal, das bei Stammgästen
aus dem Viertel sehr beliebt zu sein schien. Ein Mann lehnte an der
Wand und wartete darauf, dass die Toilette frei wurde. Ein anderer
stand an der Kasse.
Wieder musterte sie
Martin Fellows im Spiegel. Er war ein seltsam aussehender Mann, der
etwas Raubtierartiges an sich hatte. Außerdem war er sichtlich
nervös. Obwohl er saß und voll bekleidet war, merkte sie ihm an,
dass er ungewöhnlich gut in Form sein musste. So breite Schultern,
einen Bizeps und Halsmuskeln wie diese bekam man nicht allein
davon, dass man Sport trieb. Er stemmte sicher
Gewichte.
»Wie wollen wir
vorgehen?«, fragte sie.
»Mich interessiert,
mit wem er zu Mittag isst.«
»Und
danach?«
»Keine Ahnung. Die
Uhr tickt. Möglicherweise lebt Harriet Wilson noch. Aber wir haben
nicht genug in der Hand, um ihn festzunehmen.«
An dieser
Feststellung gab es nichts zu rütteln. Schließlich stützte sich
ihre Identifikation von Romeo ausschließlich auf Indizien.
Angefangen hatte es mit einem mutierten Delta-32-Gen. Ein Urahn von
Romeo hatte die Pest überlebt, weshalb sie wussten, dass sie nach
einem Mann europäischer Abstammung suchten. Den Rest hatten sie aus
den Aussagen der Vergewaltigungsopfer herausgefiltert. Allerdings
gab es keine stichhaltigen Beweise, die einen Zusammenhang zwischen
den sexuellen Übergriffen und den Morden herstellten, die letzten
Monat begonnen hatten. Aber zumindest kannten sie nun die
Verbindung zwischen der Dreggco Corporation und Charles Burells
Webseite. Wenn James Brant ihnen bereits in der Nacht seiner
Vernehmung von seinem Seitenhieb gegen Fellows erzählt hätte,
hätten sie vielleicht schon einen oder zwei Tage früher hier sitzen
können. Doch das hätte nichts geändert, denn ihr Problem wäre
dasselbe gewesen. Sie hatten ihren Täter. Jetzt brauchten sie nur
noch seine DNA.
Jemand klopfte mit
einem Stift auf die Theke. Es war die Kellnerin, eine rundliche
alte Frau, die Lena prüfend musterte und offenbar Dienstmarke und
Pistole bemerkt hatte.
»Sind Sie im Dienst
oder wollen Sie etwas essen?«, fragte die Frau.
Novak bestellte eine
Cola Light und sagte, er habe sich die Speisekarte noch nicht
angesehen. Lena überlegte, ob sie Kaffee trinken sollte, fühlte
sich aber so aufgedreht, dass sie stattdessen ein Glas Wasser
orderte.
»Das Leitungswasser
hier ist ungenießbar«, meinte die Kellnerin. »Zum Kleiderwaschen
genügt es, aber trinken kann man es nicht. Deshalb bieten wir nur
Wasser in Flaschen an. In Ordnung?«
Lena nickte. Als die
Kellnerin fort war, blickte sie wieder in den Spiegel. Fellows
verspeiste sein Mittagessen, offenbar kein Sandwich, sondern etwas,
wofür man eine Gabel brauchte. Wenn er sie liegen ließ, konnten sie
sie rasch ins Labor bringen.
»Etwas stimmt nicht
mit seiner Sonnenbrille«, sagte sie.
»So etwas kriegt man
nicht im Drogeriemarkt.«
»Eher beim Augenarzt
nach einer Untersuchung.«
»Aber er war nicht
beim Augenarzt«, stellte Novak fest.
Endlich ging die Tür
zur Toilette auf, und ein Mann kam heraus. Er war schätzungsweise
dreißig und schlank und hatte langes, dunkles Haar. Als er in der
Mitte des Raums stehen blieb und hinausschaute, folgte Lena seinem
Blick. Doch der galt nicht Fellows, sondern einer jungen Frau, die
gerade auf Rollerblades den Gehweg entlangsauste. Sobald sie fort
war, kehrte der Mann zu seinem Platz in der Ecke
zurück.
Novak sah Lena an und
schüttelte den Kopf. Die Kellnerin brachte die
Getränke.
»Darf ich Sie was
fragen?«, wandte er sich an die Frau.
»Legen Sie los, ich
bin nur für Sie da«, gab sie zurück.
Novak verzog das
Gesicht. Dann deutete er auf Fellows’ Spiegelbild. »Jemand hat uns
erzählt, er würde immer mit einem Freund zu Mittag
essen.«
Die alte Frau schaute
in den Spiegel. »Auf wen zeigen Sie?«
»Den Kerl mit dem
rasierten Schädel.«
Als sie ihn erkannte,
rümpfte sie die Nase. »Mr. Doppelportion.«
»Das hat man uns
erzählt.«
»Tja, da haben Sie
was Falsches gehört. Mr. Doppelportion hat keine Freunde. Zumindest
habe ich nie einen gesehen.«
»Warum nennen Sie ihn
Mr. Doppelportion?«, fragte Lena.
»Weil er ein guter
Esser ist und offenbar meine Küche mag. Vielleicht ist es nicht
richtig, dass wir so oft über ihn lachen. Schließlich tut er
niemandem was. Wir lassen ihn einfach in Ruhe.«
Als die alte Frau
fort war, sah Lena Novak an und drehte dann ihren Barhocker herum.
Dann schaute sie aus dem Fenster. Fellows balancierte eine Tablette
auf der Handfläche und betrachtete sie. Nach einer Weile beschloss
er offenbar, sie doch nicht zu schlucken, und gab sie zurück in die
Dose.
»Wenn ich meine
Medikamente nicht nehme, bin ich nicht krank«, raunte
sie.
»Mit was für einem
Kerl haben wir es zu tun, Lena?«
»Mit einem, der
Probleme hat.«
Plötzlich verengten
sich Novaks Augen, und er schob den Kiefer vor. »Er haut
ab.«
Als Lena herumfuhr,
war der Tisch leer. Fellows hatte sein Mittagessen zusammengepackt
und hastete den Gehweg hinunter. Novak warf einen Fünfdollarschein
auf die Theke. Dann eilten sie zur Tür.
»Für eine Verhaftung
reicht es vielleicht nicht«, sagte Lena. »Aber sicher für einen
Durchsuchungsbefehl.«