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Novak steuerte den Crown Vic mit Blaulicht über den
Freeway. Als sie den Norden von Santa Monica erreichten, hatte Lena
ihrem Partner alles berichtet, was sie von Art Madina und Molly
McKennas Bruder erfahren hatte. Novak sagte lange kein Wort. Lena
bemerkte, wie sein Augenausdruck wechselte, während er darüber
nachdachte. Nachdem sie ihm erzählt hatte, McKenna sei ein
Schulmädchen gewesen, das vor dem Mörder ins Haus eingebrochen sei
und Holt gar nicht persönlich gekannt habe, stand ihm das Entsetzen
ins Gesicht geschrieben. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um
sich vorzustellen, dass er sich die grausige Szene nicht nur als
Detective, sondern auch als Vater ausmalte. Offenbar dachte er
dabei an seine Tochter Kristin.
»Vielleicht nimmt er
wieder Drogen«, meinte Novak schließlich.
»Davon wusste ich gar
nichts.«
»Rhodes wurde vor
etwa fünf Jahren nach Chinatown geschickt. Ich weiß nicht, ob es
vor oder nach dem Tod deines Bruders war.«
Lena erinnerte sich
an die Zeit, die sie mit Rhodes verbracht hatte. Obwohl sie ihn
anfangs für ziemlich emotional gehalten hatte, hätte sie nie auf
Drogenmissbrauch getippt. Allerdings wusste sie, wie es schien,
ohnehin sehr wenig über diesen Mann und wozu er fähig
war.
»Was hat er denn
genommen?«
Novak schüttelte den
Kopf. »Keine Ahnung. Jedenfalls sah er damals so aus wie momentan.
Er war völlig mit den Nerven runter und wurde beurlaubt. Nicht nur
ein paar Wochen, sondern zwei oder drei Monate. Viele Sitzungen bei
Dr. Andy. Als er zurückkam, war er wie ausgewechselt.«
»In welcher
Hinsicht?«
»Ich habe mir nie
wirklich Gedanken darüber gemacht. Er hatte sich eben verändert.
Für mich war es kein Problem, denn schließlich bin ich bei der
Mordkommission und nicht beim Drogendezernat und weiß, was meine
Tochter durchlitten hat. Rhodes war ein guter Detective, und ich
habe ihm vertraut. Mehr interessierte mich nicht. Offenbar hatte er
seine Probleme überwunden. Inzwischen sehe ich es ein wenig
anders.«
»Es war heute so
still im Büro. Du hast dich doch nicht etwa
verplappert?«
Novak zuckte die
Achseln, stellte das Gebläse ein und justierte eine Düse auf dem
Armaturenbrett.
»Was hast du getan,
Hank?«
»Ich habe ihm
gedroht, ihn aus dem Scheißfenster zu schmeißen, wenn er noch
einmal ein Opfer in einem meiner Fälle identifiziert und es mir
erst einen Tag später meldet.«
Sie sah Novak
zweifelnd an. »Vor allen Leuten?«
»Nein, ich habe mir
den Scheißer unter vier Augen auf dem Flur vorgeknöpft. Ich habe
nichts vermasselt, sondern mich ganz natürlich verhalten. Dass alle
geschwiegen haben, hatte eine Reihe von Gründen, Lena. Madina hat
Barrera angerufen und ihm mitgeteilt, er brauche noch Bedenkzeit,
bevor er die Autopsieberichte von Holt und McKenna unterzeichnet.
Er sei nicht mehr sicher, ob wir es wirklich mit einem Selbstmord
zu tun hätten. Darauf hat Barrera einen Tobsuchtsanfall gekriegt.
Er bekommt jede Menge Druck aus der Chefetage, denn wegen der
gestrigen Pressekonferenz geht denen jetzt ganz schön die Düse. Sie
haben sich auf die Selbstmordthese festgelegt. Und jetzt könnte
Madinas Zögern bedeuten, dass sie sich irren.«
»Das hat Barrera gar
nicht erwähnt.«
»Natürlich nicht. Er
sitzt ganz schön in der Scheiße. So ein Schlamassel kann ihn den
Job kosten, denn es katapultiert uns in die guten alten Zeiten
zurück, in denen die Geschworenen uns Bullen für das Problem
hielten und die Knackis laufen ließen. Und falls du wirklich Recht
hast und Rhodes tatsächlich der Mörder deines Bruders ist, wird der
momentan sicher auch keine Luftsprünge machen. Der Schweinekerl
könnte auf den Gedanken gekommen sein, dass er sich durch zwei
weitere Morde nur noch tiefer reingeritten hat. Ohne Selbstmord
sieht es aus, als hätte jemand an den DNA-Proben herumgedoktert,
was hieße, dass Romeo nicht als Täter in Frage kommt.«
Nachdenklich blickte
Lena aus dem Fenster. Eine Frage beschäftigte sie noch immer, und
sie würde die Antwort finden müssen, bevor sie den Kampf mit ihren
Widersachern aufnehmen und das Problem für immer aus der Welt
schaffen konnte.
Warum hatte Rhodes es
getan? Was mochte sein Motiv gewesen sein, ihren Bruder in einer
dunklen Straße von Hollywood über den Haufen zu
schießen?
Allerdings scheute
etwas in ihr davor zurück, der Sache auf den Grund zu gehen, denn
sie wurde den Verdacht nicht los, dass der Mord etwas mit ihr zu
tun hatte. Damit, dass Rhodes sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte,
obwohl trotz günstiger Voraussetzungen nie etwas daraus geworden
war. Bis jetzt hatte sie es immer auf den falschen Zeitpunkt
geschoben.
Als sie an dem Haus
vorbeikamen, in dem Candy Bellringer wohnte, kehrte sie in die
Gegenwart zurück. Da die Reihe der Autos am Straßenrand endlos und
kein Parkplatz frei war, wendete Novak und kehrte um.
»Und was ist mit der
DNA?«, fragte er. »Wie soll Rhodes Romeos Sperma auf McKennas
Leiche hinterlassen haben?«
Darüber grübelte Lena
schon den ganzen Morgen nach. »Bestimmt hatte er es von Nikki
Brant.«
»Aber wir waren doch
alle dabei. Im selben Zimmer.«
»Rhodes hat das
Absperrband gespannt. Er war mindestens zehn Minuten lang allein im
Haus.«
»Eher fünfzehn«,
erwiderte Novak. »Er ist vor deiner Ankunft reingegangen«, dachte
er laut weiter. »Als wir die Decken wegzogen, hatte jemand Romeos
Sperma vom Laken abgewischt.«
Lena nickte. »Wir
nahmen erst an, ihr Mann habe versucht, Spuren zu beseitigen.
Stattdessen war es Rhodes, der die Gelegenheit genutzt hat, sich
etwas davon zu nehmen.«
Sie sahen einander
an. Novak wirkte sichtlich erschüttert. Als er sich wieder nach
vorne wandte, entdeckte er einen Hydranten und fuhr rechts
ran.
Wie die meisten
Eigentumswohnanlagen in Los Angeles war auch diese mit einem Zaun
und einem etwa zwei Meter hohen Tor versehen, die eher dem
subjektiven Sicherheitsbedürfnis der Bewohner als dem
tatsächtlichen Schutz dienten. Novak griff zum Hörer der
Gegensprechanlage.
»Vermutlich nennt sie
sich hier nicht Candy Bellringer«, meinte er. »Welche Nummer hat
denn ihre Wohnung?«
»Sechs.«
»Im Haus gibt es
fünfundzwanzig Wohnungen. Alle Bewohnernamen stehen auf den
Klingelschildern – mit Ausnahme von Nummer sechs. Ich habe
plötzlich so ein ungutes Gefühl. Warum hat sie uns nicht
zurückgerufen?«
Novak läutete und
wartete ab. Lena betrachtete das unbeschriftete Klingelschild und
spähte durch das Tor. Es war ein neues Gebäude mit Satteldach und
wirkte gut gepflegt. Weiße Mauern, große Fenster, viel Efeu und
Palmen. Jede Wohnung besaß zwei Etagen.
»Nichts«, brummte
Novak. »Warum kommt mir das nur so merkwürdig vor?«
»Gibt es hier einen
Hausmeister?«
Novak beugte sich
wieder über das Klingelschild und stellte fest, dass der
Hausmeister in Wohnung Nummer eins lebte. Während er ihn über die
Gegensprechanlage zu erreichen versuchte, drehte Lena sich um. Das
Gebäude wirkte zwar gut in Schuss, verbreitete aber eine
bedrückende Stille, die sie an die Atmosphäre an einem Tatort
erinnerte. Nachdem Novak den Hörer aufgelegt hatte, zog sie sich
oben am Tor hoch, schwang sich darüber und ließ ihren Partner dann
herein. Die beiden Detectives eilten den Fußweg entlang und
kontrollierten die Wohnungsnummern, bis sie Nummer sechs hinter
einem Brunnen am Pool entdeckten. Novak klopfte an. Als niemand
aufmachte, blickte Lena zum Pool und stellte fest, dass die Pumpe
nicht lief. Die Tür zum Wartungsraum stand offen. Das Licht
brannte.
»Vielleicht ist der
Hausmeister ja da drin«, sagte sie.
Doch auch im
Wartungsraum trafen sie niemanden an. Lena bemerkte Poolzubehör und
einen scharfen Chlorgeruch in der Luft. Sie drehte sich wieder zum
Haus um und ließ den Blick über die Fenster schweifen. Im ersten
Stock befand sich ein Balkon, der vermutlich zum Schlafzimmer
gehörte. Doch die Schiebetür war geschlossen.
Sie kehrten zur
Wohnungstür zurück, wo Novak das Schloss untersuchte.
»Sie könnte ein Opfer
von Romeo sein«, meinte er.
»Also gehen wir
rein«, erwiderte Lena.
Novak nickte
entschlossen, trat drei Schritte zurück und senkte die Schulter.
Dann stürmte er los und warf sein ganzes Gewicht gegen den
schwächsten Punkt der Tür. Lena hörte ein scharfes Knacken. Dann
schwang die Holztür auf und knallte gegen die Wand. Beim Eintreten
nahm Lena den Schaden in Augenschein. Die Tür war mit einem Riegel
versehen gewesen. Novak hatte sie mit solcher Wucht eingedrückt,
dass der Türrahmen aus der Leibung gerissen und ein Sprung im Putz
entstanden war.
Lena schnupperte.
Kein Fäulnisgeruch. Also keine verwesende Leiche.
Sie ging in die Küche
und ließ rasch den Blick durch den Raum schweifen. Während sie
Kühlschrank und Mülleimer überprüfte, untersuchte Novak den Rest in
der Kaffeekanne auf Schimmelspuren. Das Spülbecken war
trocken.
»Lange ist sie noch
nicht weg«, stellte sie fest, »aber ich glaube nicht, dass sie
heute Morgen hier war. Vermutlich hat sie irgendwann gestern das
Haus verlassen und ist nachts nicht wiedergekommen.«
»Sie ist Pornostar.
Wahrscheinlich geht sie nebenbei auf den Strich. Sie könnte ja
nachts gearbeitet haben. Lass uns oben nachsehen.«
Sie eilten die Stufen
hinauf und trennten sich oben. Lena kontrollierte Schlafzimmer, Bad
und Wandschränke. Kurz darauf war Novak wieder bei
ihr.
»Es gibt noch ein
Gästezimmer mit Bad«, verkündete er. »Aber da ist sie auch
nicht.«
Auf der Suche nach
einer Zeitschrift mit Abo-Aufkleber oder einem Briefumschlag, auf
dem vielleicht der richtige Name der Pornodarstellerin stand,
blickte Lena sich um. Doch in der Wohnung herrschte eine penible
Ordnung, die Lena merkwürdig vorkam. Neben dem Bett bemerkte sie
einen Bücherstapel, einen Gehstock und einen Strickbeutel, aus dem
die Wollknäuel quollen. Einen Fernseher gab es hier nicht. Seit dem
Mord an Burell hatte Lena die meisten seiner ehemaligen
Mitarbeiterinnen befragt und mehr als die Hälfte von ihnen zu Hause
besucht. Jede der Wohnungen war geschmacklos, billig und schäbig
eingerichtet gewesen. Ganz im Gegensatz zu dieser
hier.
»Meinst du, wir haben
Mist gebaut?«, fragte Novak. »Sind wir überhaupt in der richtigen
Wohnung?«
Lena musterte die
Kleidung der Frau im Wandschrank und zählte zehn konservative
Bürokostüme.
»Irgendetwas stinkt
hier, Lena. Außerdem sind wir nicht einfach hier hereinspaziert,
sondern haben die Tür aufgebrochen.«
»Es ist die richtige
Wohnung«, erwiderte sie.
Novak schien zwar
nicht überzeugt, ging aber zur Kommode und zog die oberste
Schublade auf: Schals, Schmuckstücke und eine leere alte
Brieftasche. Die zweite Schublade war voller T-Shirts und
Oberteile. In der untersten befand sich die Unterwäsche der
Frau.
»Hol sie raus«, sagte
Lena. »Wir wollen sie uns ansehen.«
Novak förderte ein
Nachthemd zutage. Es bestand aus Baumwolle, ein Kleidungsstück, das
man der Bequemlichkeit halber, nicht etwa zum Vorspiel
trug.
»Alles hier ist
keusch und sittsam«, verkündete er.
Er legte das
Nachthemd zurück und schloss die Schublade. Doch als er unter das
Bett spähte, entdeckte er eine Sporttasche. Er öffnete den
Reißverschluss, und seine Augen leuchteten auf.
»Hier hat sie die
Sachen also!«, rief er aus.
Novak drehte die
Tasche um und kippte den Inhalt aufs Bett. Neugierig beugte Lena
sich vor. Es waren einige Negligées und etwa ein Dutzend Tangas und
BHs. Beim Durchsuchen des Kleiderhaufens bemerkte sie auch einen
Strapsgürtel mit Strümpfen. Als sie auf eine schwarze Perücke
stieß, drehte sie sich zu Novak um.
»Wir sind in der
richtigen Wohnung«, sagte sie.
Lena tastete die
Seitentasche ab, wo sie Candy Bellringers Schminksachen sowie einen
Vibrator und einen großzügigen Vorrat Gleitmittel fand. Sie
breitete die Schminksachen auf dem Bett aus und betrachtete die
Farben. Grell und auffällig. Man musste kein Genie sein, um zu
erkennen, dass eine Frau sich nicht so schminkte, wenn sie im
Bürokostüm ihrem bürgerlichen Beruf nachging.
»Was denkst du?«,
fragte Novak.
»Sie führt ein
Doppelleben. Das hier ist ihre Maske, ihre Verkleidung. Diese Frau
ist keine Profi-Pornodarstellerin, sondern eine Amateurin, die
versucht, ihre Identität geheim zu halten. Vielleicht hat sie uns
deshalb nicht zurückgerufen. Sie möchte nicht, dass jemand davon
erfährt.«
»Also ist alles in
Butter? Sie hat sich heute Nacht von irgendjemandem durchvögeln
lassen und ist dann aufgestanden und zur Arbeit gegangen? Das ist
doch Schwachsinn.«
»Das habe ich doch
gar nicht behauptet. Ich sage nur, dass sie zwei nicht miteinander
zu vereinbarende Leben führt.«
Lena ließ den Blick
noch einmal durch den Raum schweifen, bis er an einem antiken Tisch
mit passendem Stuhl am Fenster hängen blieb. Der Tisch hatte eine
Schublade.
Lena schob den Stuhl
beiseite und zog die Schublade auf. Sie enthielt ein Scheckbuch,
Briefmarken, einen Stift und einige von Büroklammern
zusammengehaltene Rechnungen. Doch am aufschlussreichsten war der
Umschlag ganz oben: ein Gehaltsscheck.
Novak beugte sich
über ihre Schulter, während sie aufgeregt den Umschlag aufriss.
Lena nahm den Scheck heraus und hörte, wie ihr Partner nach Luft
schnappte. Auch sie hatte das Gefühl, als würde ihr gleich das Herz
stehen bleiben.
Der Scheck war auf
Harriet Wilson ausgestellt. Sie war bei der Dreggco Corporation
beschäftigt. Derselben Firma, bei der auch Nikki Brants Ehemann
James arbeitete.