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»Teresa López wurde in ihrer Wohnung in Whittier
vergewaltigt und ermordet«, stellte Dr. Bernhardt fest. »Nikki
Brant wurde fünfzig Kilometer entfernt in ihrem Haus aufgefunden,
das an einen öffentlichen Park angrenzt. Wenn wir wüssten, wo die
übrigen fünf Morde stattgefunden haben – vorausgesetzt, dass es sie
überhaupt gibt -, könnten wir Vermutungen dahingehend anstellen, wo
der Täter wohnt und auf welchen Teil der Stadt Sie Ihre
Ermittlungen konzentrieren sollten. Bis dahin – oder bis er wieder
zuschlägt – liegen uns, wie ich fürchte, nichts weiter als
Schnappschüsse seiner Persönlichkeit auf der Grundlage seines
psychopathischen Verhaltens vor.«
Das Ermittlungsteam,
Lieutenant Barrera und der stellvertretende Polizeichef Albert
Ramsey – die rechte Hand des Polizeipräsidenten und nach ihm der
zweite Mann – saßen am Konferenztisch im Büro des Captain. Es war
halb neun Uhr morgens. Obwohl man Ramsey zugutehalten musste, dass
er bis jetzt kein Wort gesprochen hatte, sorgte allein seine
Anwesenheit für eine angespannte Stimmung im Raum. Lena spürte
seinen Blick im Rücken, denn er hatte sich am Schreibtisch des
Captain niedergelassen, um alle im Auge behalten zu können, ohne
dazu den Kopf bewegen zu müssen. Die Bürokratie war aus ihrem
Dämmerschlaf erwacht.
»Er stochert gern
herum«, sprach der Psychiater weiter. »Es macht ihm Spaß, in seinen
Opfern zu bohren und sie zu quälen. Und wenn er mit ihnen fertig
ist, sorgt er für die größtmögliche Schockwirkung, indem er sie für
Sie inszeniert. Teresa López wurde an ein imaginäres Kreuz
geschlagen. Nikki Brant schwamm in einem Meer aus Blut. Dieser Kerl
will uns irgendeine wahnwitzige Botschaft übermitteln, die trotz
allen Heruminterpretierens leider kein Mensch versteht. Vergessen
Sie nur nicht, dass alles mit seinem Penis zusammenhängt. Für
unseren Romeo sind sein Penis und die Waffen seiner Wahl ein und
dasselbe.«
Nun nannte Dr.
Bernhardt den Täter zum zweiten Mal in der letzten halben Stunde
Romeo. Lena fragte sich, ob der Name wohl an ihm hängenbleiben
würde. Nach Barreras Miene zu urteilen, vermutlich
schon.
Romeo.
»Meiner Ansicht nach
suchen wir einen weißen Mann im Alter zwischen fünfundzwanzig und
fünfunddreißig Jahren«, fuhr Bernhardt fort. »Einen Voyeur, der vom
Vergewaltiger zum Mörder geworden ist.«
Lena schrieb mit,
obwohl sie wusste, dass Dr. Bernhardt ihnen das Standardprofil
eines Serienmörders lieferte. Ein Mann, der als Kind von seinen
Eltern misshandelt worden war. Ein Mann, der wahrscheinlich als
Jugendlicher Tiere gequält hatte. Ein ehemaliges Opfer, das sich
kein Gehör hatte verschaffen können, bis es schließlich selbst
zurückschlug.
»Sicher hat er eine
Verletzung erlitten«, sagte Bernhardt. »Er wurde Schmerz oder einem
schweren emotionalen Trauma ausgesetzt, das er weder verarbeiten
noch verstehen konnte.«
Er warf Lena einen
kurzen Blick zu und beugte sich dann wieder über seine
Aufzeichnungen.
Dr. Andy Bernhardt
war ein kräftig gebauter, engergischer Mann mit klaren grauen
Augen, einem kurz geschorenen Bart und einem sonnengebräunten
kahlen Schädel. Lena hatte ihn nach dem Mord an ihrem Bruder
kennengelernt, als ihr Vorgesetzter sie zu einem so genannten
Beratungsgespräch zum Psychiater geschickt hatte. Nur eine
Routinebegutachtung. Eine Gelegenheit, die Niedergeschlagenheit zu
vertreiben und Abstand vom Beruf zu gewinnen. Doch ganz gleich, was
alle auch behaupten mochten, sie wusste, dass diese Gespräche
Eingang in ihre Personalakte gefunden hatten.
Beurlaubung
aus psychischen Gründen.
Sie ließ sich die
Wörter auf der Zunge zergehen, während sie sich an damals
erinnerte.
Leider hatte Dr.
Bernhardt sich nicht nur dafür interessiert, welche Gefühle der Tod
ihres Bruders in ihr auslöste. Für sein Gutachten über ihren
Gemütszustand brauchte er weitere Informationen. Eine vollständige
Liste aller Verletzungen und dunklen Seiten.
Die Sitzungen – jeden
Dienstag- und Donnerstagnachmittag eine Stunde in seiner Praxis in
Chinatown – zogen sich über sechs Wochen hin. Lena hatte sich so
lange gesträubt wie möglich und dann einfach dichtgemacht. Das lag
nicht an Dr. Bernhardt, denn der war trotz seiner hünenhaften
Gestalt ein sanfter, zurückhaltender Mensch, den sie inzwischen
sogar bewunderte. Das Problem war nur, dass er im Auftrag ihrer
Vorgesetzten tätig war und dass er in seiner Funktion als
Psychiater eng mit der verhassten Abteilung für Innenrevision und
Qualitätsmanagement zusammenarbeitete. Sie war sicher, dass jedes
Wort, das sie während der Sitzungen von sich gab, aufgeschrieben
und in einer Akte abgeheftet wurde, um es irgendwann gegen sie zu
verwenden.
Dr. Bernhardt
versicherte ihr zwar, dass ihre Akte niemanden etwas anginge und
nicht in die Hände Dritter geraten würde, doch Lena fiel auf, dass
seine Schränke so alt waren wie die Möbel im Parker Center und
nicht über Schlösser verfügten. Außerdem hatte, wie sie dem
Psychiater erklärte, doch jeder Mensch mit einer ausgeprägten
Persönlichkeit das Recht auf zumindest eine Sinnkrise im Leben. Sie
würde diese Phase – so wie immer – überstehen. Die Arbeit würde sie
sicher ablenken und diesen Prozess dadurch noch beschleunigen.
Schließlich stimmte Dr. Bernhard zu, sie schlossen einen
Kompromiss, und die letzten beiden Wochen erwiesen sich tatsächlich
als hilfreich.
Lena hörte Novak
etwas sagen. Die Erinnerung war schlagartig wie weggeblasen. Ihr
Partner fragte den Psychiater, warum sich die Vorgehensweisen bei
Teresa López und Nikki Brant seiner Ansicht nach
unterschieden.
»Seine Methoden
ändern sich, weil er sich auch verändert«, erwiderte Bernhardt. »Er
entwickelt sich.«
»Wozu?«, hakte Novak
nach.
»Zu einem Menschen,
der sich nicht mehr im Griff hat, Detective.«
»Was ist mit der
fehlenden Zehe?«
Dr. Bernhardt
schüttelte den Kopf. »Er hat Spaß an seinen Taten, denkt darüber
nach und lernt immer mehr dazu. Sein Problem ist, dass er seinen
Appetit nicht zügeln kann. Sein Verhalten ist triebgesteuert.
Vermutlich betrachtet er die Zehe als Trophäe oder als
Souvenir.«
Lena dachte an die
Presse. Ein Blick in die Times von
heute hatte ihr verraten, dass der Kriminalreporter noch immer mit
der Theorie liebäugelte, Brant könnte seine Frau ermordet
haben.
»Was geschieht, wenn
die Medien Wind davon bekommen?«, fragte sie.
»Da bin ich
zwiegespalten«, antwortete Bernhardt. »Die Reaktion des Täters kann
so oder so ausfallen. Vielleicht freut er sich, weil man ihn
endlich wahrnimmt. Plötzlich ist er der König des Dschungels. Er
ist berühmt, und dass er seine Identität geheim hält, verschafft
ihm einen Wissensvorsprung gegenüber seinen Mitmenschen. Natürlich
könnte er auch wütend werden, weil sein Geheimnis nun heraus ist
und er lieber im Verborgenen zuschlägt. Dass ich mich nicht
festlegen möchte, liegt an den Briefen, die Sie erwähnt haben,
sowie an Teresa López’ Tagebuch. Aber vor allem daran, dass die
Leichen hindrapiert wurden.«
»Die Intimität«,
meinte Sánchez, »der Schockeffekt.«
Bernhardt nickte.
»Wie dem auch sei. Jedenfalls befürchte ich, dass sein Verhalten
eher eskalieren könnte, wenn sich die Medien mit dem Fall
beschäftigen.«
»Deshalb sollte hier
niemand unkontrolliert seine Post öffnen«, unterbrach Lieutenant
Barrera mit einer Warnung. »Wenn der Absender unbekannt ist, seien
Sie vorsichtig und ziehen Sie Handschuhe an.«
»Ein guter Rat«,
sagte der Psychiater. »Wir haben allen Grund, mit einer
Kontaktaufnahme zu rechnen.«
Rhodes ließ seinen
Stift fallen und rieb sich die Schläfen. Wie der Polizeichef hatte
er bis jetzt kein Wort gesprochen.
»Mir ist klar, dass
wir noch ziemlich im Dunkeln tappen«, begann er. »Aber nun habe ich
zwei Fragen, zwei Probleme, die ich einfach nicht klar kriege und
die ich deshalb zur Diskussion stellen möchte. Erstens will es mir
beim besten Willen nicht in den Kopf, warum der Kerl sich weiter am
Tatort herumdrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nur auf
die Tagebücher seiner Opfer aus ist. Und wenn er wirklich auf
Pornos steht, muss er sie sich doch nicht ausgerechnet dort
ansehen. Warum fährt er dazu nicht nach Hause, sondern geht ein
solches Risiko ein?«
»Das verstehe ich
auch nicht ganz«, antwortete Bernhardt. »Meine einzige Erklärung
dafür ist, dass es für ihn die Erregung steigert. Es könnte auch
eine gewisse Arroganz im Spiel sein. Was haben Sie sonst noch auf
dem Herzen, Detective?«
»Er hat versucht,
sein Sperma wegzuwischen«, erwiderte Rhodes. »Diese Theorie stand
schon auf ziemlich wackeligen Beinen, als Brant noch unser
Verdächtiger war. Jetzt aber ergibt sie überhaupt keinen Sinn mehr.
Warum spart er sich das Saubermachen nicht, indem er ein Kondom
benutzt? Wenn er intelligent genug ist, um Computerdateien zu
löschen, müsste er eigentlich auch wissen, dass es unmöglich ist,
eine Leiche von sämtlichen DNA-Spuren zu befreien.«
Jetzt waren die
strittigen Fragen dank Rhodes auf dem Tisch. Dr. Bernhardt wirkte
verlegen und nahm sich Zeit zum Nachdenken.
»Auf Ihre zweite
Frage würde ich dasselbe antworten wie gerade eben«, meinte er
schließlich. »Er nimmt kein Kondom, weil es ihn ohne mehr erregt.
Vielleicht hält er es ja für machbar, DNA-Spuren zu vernichten.
Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es ihn in seiner Arroganz einfach
nicht interessiert. Er glaubt, er könnte Sie an der Nase
herumführen, hält sich für unschlagbar und lässt deshalb etwas von
sich am Tatort zurück. Sie müssen sich unbedingt vor Augen halten,
dass der Mann, den Sie suchen, ein Ungeheuer ist. Die Wut hat ihn
so zerfressen, dass er nichts Menschliches mehr an sich hat. Wenn
ich einen Vergleich in der Natur suchen müsste, würde ich zuerst an
einen Hai im Blutrausch denken. Romeo tötet, um zu leben, und lebt,
um zu töten. Wenn er satt ist, lässt er sich auf den Grund treiben
und träumt von dem Tag, an dem er zurück zum Ufer schwimmt und sich
das nächste Opfer schnappt.«
Lena hörte ein
Geräusch. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben.
Als sie sich
umdrehte, sah sie den stellvertretenden Polizeichef Albert Ramsey
zur Tür eilen. Sein Atem und das Knirschen, als seine Absätze sich
in den dünnen blauen Teppich gruben, hallten ihr in den Ohren.
Seltsamerweise wirkte sein weißes Haar noch weißer als vor einer
Stunde, und er hatte den Kiefer vorgeschoben. Er ging hinaus und
schloss lautlos die Tür. Wie Lena vermutete, hielt Ramsey den
Zeitpunkt für gekommen, dem neuen Polizeipräsidenten Bericht zu
erstatten und ihm zu melden, dass Romeo eine tickende Zeitbombe sei
und dass es mit den Ermittlungen ganz und gar nicht zum Besten
stehe.