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Anrufen war zu riskant. Sie durfte niemandem ein
Beweisstück anvertrauen, das ihre Vorgesetzten zwingen würde, einen
weiteren Fehler einzugestehen. Die Kugel in ihrer Tasche war zu
klein. Man konnte sie zu leicht verschwinden lassen. Die
Schlagzeilen hingegen würden gewaltig sein. In der Chefetage hatte
man sich öffentlich festgelegt, und jetzt gab es kein Zurück mehr.
Schließlich hatte man die Behauptung, ein Rockmusiker habe seinen
Partner getötet und sich fünf Jahre später mit derselben Waffe
selbst gerichtet, überall herumposaunt. Nun zuzugeben, dass der
wahre Mörder aus den eigenen Reihen stammte, kam überhaupt nicht in
Frage. Da war es doch viel einfacher, das Beweisstück zu verlieren.
Schließlich hatte das im Fall Schwarze Dahlie vor etwa sechzig
Jahren auch ausgezeichnet geklappt, als nicht die Indizien, sondern
auch alle Vernehmungsprotokolle und Bandmitschnitte plötzlich wie
vom Erdboden verschluckt gewesen waren.
Die Polizei war eine
Behörde. Ihr guter Ruf genoss Priorität vor dem Leben eines
Einzelnen.
Was Lena jetzt
brauchte, war ein glücklicher Zufall, damit sie nicht bei diesen
Sichtverhältnissen über den Freeway zurück zum Labor fahren musste.
Das Schicksal war tatsächlich auf ihrer Seite, denn als sie in den
Parkplatz des Reviers von Hollywood einbog, sah sie einen Wagen der
Spurensicherung hinter dem Gebäude stehen.
Ruckartig trat sie
auf die Bremse und sprang aus dem Auto. Das Führerhaus war zwar
verlassen, doch die Zigarettenkippe auf dem Pflaster glühte noch.
Offenbar gab es Menschen, denen der Qualm von den Waldbränden nicht
genügte – vermutlich, weil das Nikotin fehlte.
Lenas Blick wanderte
über den Parkplatz zu den beiden Autos, die neben einigen
Streifenwagen parkten. Den schwarzen Mercedes-Geländewagen und die
gelbe Corvette kannte sie. Sie gehörten zwei erfahrenen Detectives.
Nach der Ascheschicht auf der Motorhaube zu urteilen, standen sie
schon seit einer Weile dort.
Es musste etwas
Dramatisches vorgefallen sein, wenn um ein Uhr morgens noch ein
solcher Betrieb herrschte.
Lena schob die
hintere Tür des Spurensicherungs-Fahrzeugs auf und kletterte
hinein. Hastig öffnete sie den ersten Schrank. Ihre Augen brannten,
und sie konnte wegen des schlechten Lichts kaum etwas sehen.
Dennoch durchsuchte sie beharrlich Schrank für
Schrank.
Inzwischen hatte sich
ihre Angst gelegt, und sie war wieder ganz professionell, als sie
nun methodisch die Gerätschaften durchwühlte. Alles, was bisher
Gültigkeit gehabt hatte, zählte nun nicht mehr, denn ihre Welt
hatte sich in ein radioaktiv verseuchtes Katastrophengebiet
verwandelt, in dem alle Dinge gleich wichtig oder unwichtig
waren.
»Bist du das,
Lena?«
Als sie die Stimme
erkannte, erstarrte sie. Sie drehte sich um und sah Lamar Newton,
eine Kamera geschultert, auf dem Parkplatz stehen. In seinen Augen
las sie Argwohn und Enttäuschung. Doch auch das kümmerte sie nicht
mehr.
»Was macht ihr denn
hier?«, fragte sie.
»Der Freeway ist
gesperrt. Außerdem ist im Griffith Park etwas passiert.
Wahrscheinlich liegt dort eine Leiche. Also werden wir noch eine
Weile bleiben.«
Sein Blick wanderte
zwischen Lena und dem offenen Schrank hin und her.
»Sie können den Toten
im Qualm nicht finden«, erwiderte sie.
Er nickte langsam und
betrachtete die vom Himmel rieselnde Asche. »Die Flammen haben vor
etwa einer Stunde den Freeway 101 überschritten. Die nördliche
Seite der Stadt brennt von Malibu bis zur Rim of the World Road im
Osten. Die Löscharbeiten werden sicher ein oder zwei Wochen dauern.
Bis dahin müssen wir irgendwo Atemluft herkriegen. Warum kommst du
nicht mit rein? Hier draußen ist es ziemlich
ungemütlich.«
Lena schüttelte den
Kopf. »Geht nicht, Lamar. Ich habe es eilig.«
»Dann erzähl mir
doch, was du suchst.«
»Luminol«, antwortete
sie. »Fertig angemischt.«
Seine Augen weiteten
sich, als ihm ein Licht aufging. Luminol war eine Chemikalie, die
mit dem bloßen Auge nicht zu erkennende Blutspuren sichtbar
machte.
»Untersuchst du
allein einen Tatort?«
»Ich habe es eilig,
Lamar.«
Er musterte sie
abschätzend von Kopf bis Fuß. »Du machst einen Fehler. Außerdem
siehst du aus wie ein gottverdammter Zombie, und ich werde dir
nicht helfen. Aber wenn ich Luminol suchen würde, würde ich
vermutlich dort drüben nachschauen.«
Er wies auf einen
Schrank in der Ecke. Lena drehte sich um, riss die Tür auf und
griff nach der in einen Lappen gewickelten
Sprühflasche.
»Die Wirkung hält
nicht lange an«, fügte er hinzu. »Du brauchst eine
Kamera.«
»Ich bin mit allem
ausgestattet«, antwortete sie, sprang aus dem Transporter und
rannte zu ihrem Auto.
Sie war allein. Ihre
Hände zitterten. Lena fragte sich, ob sie es ertragen konnte. Wie
würde sie die neue Wahrheit verkraften, die durch die Oberfläche
schimmerte?
Lena schaltete ihre
digitale Videokamera an, klickte sich durch das Menü bis zur
Einstellung für schlechte Lichtverhältnisse und wählte die höchste
Kontraststufe. Nachdem sie das Stativ mitten im Zimmer platziert
hatte, justierte sie die Kamera so, dass Fensterladen, Teppich,
Bett und Nachttisch ins Bild kamen. Nach dem Tod ihres Bruders
hatte sie nur die Bilder an den Wänden ausgewechselt und die
Kommode verschoben. Alles andere hatte sie unverändert
gelassen.
Sie sah zu, wie ihr
Finger auf RECORD drückte, und wartete, bis das Symbol im Display
zu blinken aufhörte. Dann beobachtete sie, wie sie die
Luminolflasche nahm und ums Bett herumging. Sie wusste, dass sie
vorsichtig sein musste. Luminol machte Blutspuren zwar sichtbar,
wurde jedoch nur im äußersten Notfall verwendet.
Sie richtete die Düse
der Sprühflasche auf das Loch im Fensterladen und drückte auf die
Pumpe. Dann trat sie zurück und besprühte den unteren Teil der Wand
und den Teppich. Ihr Herz klopfte, als sie Nachttisch und Kopfbrett
einnebelte.
Alles war gleich
wichtig und unwichtig. Aus dem Spiegel blickte ihr eine fremde Frau
entgegen. Lena wandte sich ab.
Sie schüttelte die
Flasche und musterte alle Flächen. Ein letztes Mal drückte sie auf
die Pumpe und sah zu, wie der Sprühnebel durch die verqualmte Luft
schwebte und sich am Fußende des Bettes absetzte. Dann schloss sie
die Schlafzimmertür und machte das Licht aus.
Es dauerte eine
Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie
hörte, wie die Teufelswinde am Haus rüttelten. Die Fensterläden
klapperten, als versuchte jemand einzubrechen. Das Klingeln in
ihren Ohren passte zum Tosen des Sturms.
Im nächsten Moment
schien die Zeit rückwärts abzulaufen. Ein Anblick wie ein Schlag
ins Gesicht. Das Luminol wirkte, und Lena konnte die Augen nicht
davon abwenden. Blaugrün leuchtende Flecken erhoben sich langsam
aus der Dunkelheit. Lena hörte ihr eigenes Seufzen, als sie näher
herantrat und hinstarrte. Ihre Haut prickelte von Kopf bis
Fuß.
Es war keine verirrte
Kugel, die versehentlich durch das Fliegengitter in den
Fensterladen eingedrungen war. David war hier in diesem Zimmer
erschossen worden.
Sie sah die Mordszene
vor sich, als wäre sie selbst dabei gewesen. Die Spuren des Blutes
ihres Bruders auf dem Boden und an der Wand. Als auch auf dem
Kopfbrett Blutflecken zu leuchten begannen, rang sie entsetzt nach
Atem.
Er war im Bett
getötet worden. In demselben Bett, in dem sie nun seit fünf Jahren
schlief.
Die Vorstellung hatte
etwas Zersetzendes, einen Nachgeschmack, der in der Kehle brannte
und wohl nie wieder verschwinden würde.
Lena lehnte sich an
die Kommode, wischte sich die Tränen aus den Augen und ließ sich
langsam in die Sitzposition sinken. Sie sah noch vor sich, wie sie
in jener Nacht seine Leiche gefunden hatte. Sie war auf den Wagen
zugelaufen, um sein Gesicht anzuschauen. Ihr Entsetzen, als sie ihn
erkannt hatte. Der Schreck, wie ein Schlag in die
Magengrube.
Die Leiche ihres
Bruders war in diese düstere Straße in Hollywood transportiert und
dort zurückgelassen worden wie ein Müllsack. Rhodes hatte keine
Gnade gekannt. Keinen Respekt. Die Vista Del Mar hatte er sich
deshalb ausgesucht, weil sich dort an der leer stehenden Kapelle,
wo gebrauchte Spritzen auf dem Boden lagen, Junkies
herumtrieben.
Minuten vergingen,
während die Erinnerungen mit einer fast surrealen Klarheit auf sie
einstürmten. Das Gesicht ihres Vaters. David, wie er ihr eines
Nachts, als sie sich im Auto schlafen gelegt hatten, einen Witz
erzählte. Dann, plötzlich, versiegte der Gedankenstrom, und sie
sprang auf.
Das Leuchten des
Luminol hatte zugenommen und war nun noch deutlicher zu sehen. Lena
erkannte Blutspritzer auf Kopfbrett und Boden. Dann jedoch
erschienen die blaugrünen Flecken auch auf ihrer Bettdecke. Einer
Decke, die erst wenige Monate alt war. Entgeistert beobachtete sie,
wie auch diese Flecken klarer hervortraten. Sie tastete mit der
rechten Hand. Als ihre Finger die Spritzer berührten, stellte sie
fest, dass es Sperma war. Und es war noch feucht.
Ihr Herz setzte einen
Schlag aus, und ihre Gedanken überschlugen sich. Dann hörte sie,
wie sich hinter ihr die Schlafzimmertür öffnete.
Sie erstarrte.
Aufregung ergriff sie. Jemand hatte in Wohnzimmer und Küche das
Licht ausgemacht. Das Haus war dunkel. Aber sie wusste, dass er da
war, denn sie hörte seinen Atem und spürte, wie ein elektrisches
Knistern über ihre Kopfhaut glitt und ihr ins Haar
fuhr.
Als sie sich
umdrehte, sah sie die Umrisse seines nackten Körpers im
Dämmerschein. Den kahlen Schädel und die ungewöhnlich breiten
Schultern.
Martin Fellows
stürmte auf sie zu, nahm Anlauf und machte einen riesigen
Satz.
Während des
Zusammenpralls griff Lena nach ihrer Waffe, bemerkte aber, dass
seine Hand sie bereits aus dem Halfter zog. Mit gewaltigen Kräften
hob er sie hoch und schleuderte sie quer durchs Zimmer. Während er
die Kamera umwarf, versuchte sie zu fliehen. Aber sie schaffte es
nicht bis zur Tür. Seine Hände fassten sie an der Jacke, zogen sie
an sich und stießen sie dann so fest weg, dass sie im Wohnzimmer
auf dem Boden landete.
Lena drehte sich auf
den Rücken. Inzwischen saß er auf ihr und riss ihr Bluse und BH vom
Leibe. Sie spürte, wie er ihre Brüste knetete. Seine Augen waren
rot glühende Kohlen.
Als sie schreien
wollte, hielt er ihr den Mund zu. Seine verschwitzte Haut roch nach
Kokosbutter.
Sie schlug die Zähne
in seinen Finger, als bisse sie in ein Steak, spürte ein Stück
menschliches Fleisch im Mund und bemerkte, dass sein Blut ihr über
das Kinn lief. Er zog die Hand zwar weg, gab aber keinen Mucks von
sich. Stattdessen sah er zu, wie sie ausspuckte, und schlug ihr
dann den Kopf gegen den Boden.
Danach verließen sie
die Kräfte. Es war fast, als würde ihr Wille aufs Meer
hinausgespült. Panik ergriff sie, während ihr ganzer Körper schlaff
wurde. Als sie durch die Schiebetür blickte, sah sie jemanden am
Pool stehen. Die Gestalt drehte sich um, und sie erschauderte. Es
war Rhodes.
Sie sah wieder
Fellows an. Er war ihrem Blick gefolgt. Sie bemerkte, dass er
lächelte und verstand.
Fellows war froh,
dass Rhodes hier war. Er brauchte einen Zeugen, der ihre Leiche
fand, so wie er damals die Leiche seiner Schwester gefunden hatte.
Deshalb beobachtete er so gern. Er interessierte sich für die
Reaktion und fand es spannend, das Verhalten der Zeugen zu
vergleichen.
Allerdings konnte er
nicht ahnen, dass Rhodes aus denselben Gründen hier war und ihm
vermutlich für den Mord danken würde.
Fellows legte ihr die
blutige Hand auf den Mund. Seine Augen starrten durch sie
hindurch.
»Weißt du, was gerade
geschieht?«, flüsterte er. »Bist du dahintergekommen?«
Sie
nickte.
»Dann lass es zu,
Lena. Lass es zu, und man wird dich nie vergessen.«
Er riss ihren Gürtel
auf und öffnete ihre Jeans. Lena hörte in der Dunkelheit Plastik
rascheln. Im nächsten Moment wurde ihr eine Einkaufstüte über den
Kopf gestülpt. Als sie schreien wollte, hielt er ihr wieder den
Mund zu. Sie streckte die Hand aus, erwischte ihn am Ohr, drehte es
um und grub die Fingernägel in seine Haut. Doch bald erschlaffte
ihre Hand. Ihr Körper zuckte, als ihr der Sauerstoff ausging. Es
drehte sich in ihrem Kopf. Immer rund herum, bis es dunkel wurde
und die Fahrt zu Ende war.