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Rhodes schob die Schlüssel über den Schreibtisch.
»Nimm sie, Lena. Mach damit, was du willst. Ich habe die ganze
Nacht damit verbracht, die Pistole zu untersuchen, und bin zu müde,
um mich zu streiten.«
Er zündete eine
Zigarette an und lehnte sich zurück. Sie saßen in seinem
Arbeitszimmer, einem Wintergarten über einem steilen Hügel in der
Glen Alder Road auf halber Höhe des Beachwood Canyon. Doch als Lena
sein Gesicht und die dunklen Augen betrachtete, hatte sie nicht den
Eindruck, dass er das nahe gelegene Hollywood-Zeichen oder die
Lichter ansah, die sich über das Tal in Richtung Innenstadt
spannten. Rhodes wollte sie abwimmeln und verhielt sich ihr
gegenüber genauso kalt und abweisend wie nach ihrer Versetzung ins
Präsidium.
Er schnippte die
Asche in einen Aschenbecher, der bereits von Kippen überquoll. Lena
hatte heute Morgen zwar das Zigarettenpäckchen in seiner Tasche
bemerkt, aber ihn bis jetzt noch nie rauchen gesehen. Sie konnte
sich auch nicht daran erinnern, dass sein Atem oder seine Kleider
je danach gerochen hätten. Außerdem war er blass und wirkte
verkrampft und steif wie ein Roboter. Obwohl er über dem T-Shirt
eine Lederjacke trug, sah er eigenartig abgemagert aus. Selbst die
Narbe von dem Ohrring, den er früher getragen hatte, trat
deutlicher hervor als vor ein oder zwei Tagen. Lenas Einschätzung
nach lag es nicht am schlechten Licht oder der schlaflosen Nacht,
sondern an innerer Anspannung und daran, dass er in letzter Zeit
offenbar etwa fünf Kilo abgenommen hatte.
Sein Blick wanderte
zu den Papieren, die vor ihm lagen. Er hatte die Mordakte ihres
Bruders aus dem Ordner genommen und die verschiedenen Sektionen
getrennt auf dem Schreibtisch gestapelt. Bei den drei Spiralblöcken
neben dem Telefon handelte es sich vermutlich um Tim Holts
Tagebücher. Vorhin war das oberste aufgeschlagen gewesen. Rhodes
hatte die Seite markiert und es rasch zugeklappt, als Lena
hereingekommen war.
»Warum tust du das?«,
flüsterte sie mit heiserer Stimme.
»Es ist vorbei, Lena.
Holt hat deinen Bruder erschossen. Fall aufgeklärt.«
Sie spürte ein
Brennen im Bauch, ein Schmerz, den sie bis jetzt noch nicht kannte.
Ob das vielleicht der Anfang eines Magengeschwürs war? Tito Sánchez
mochte unerfahren genug sein, um mit dem Strom zu schwimmen. Aber
doch nicht Rhodes! Er war ein guter Detective. Gelassen.
Nachdenklich. Phantasievoll. Und mit einer Schlagfertigkeit
gesegnet, die Lena so oft zum Lachen gebracht hatte.
Hatten sie sich
damals wirklich nur zum falschen Zeitpunkt kennengelernt? Oder war
es womöglich sogar ein Glück, dass nicht mehr daraus geworden war?
Als sie zusah, wie er mit verstockter Miene seine Zigarette
rauchte, regten sich allmählich Zweifel.
»Ich verstehe das
nicht«, beharrte sie.
Er blickte weiter aus
dem Fenster. »Offenbar bist du auch nicht anders als die
anderen.«
»Was soll das jetzt
schon wieder heißen?«
»Jeder hat eine
Meinung, Lena. Insbesondere heutzutage. Alle wollen einem
mitteilen, was sie denken. Damit kann ich leben, solange niemand
die Grenze überschreitet. Solange niemand glaubt, ein Recht auf die
Fakten zu haben. Fakten haben nämlich nichts mit Meinung zu tun.
Fakten sind Fakten, und was den Mord an deinem Bruder angeht, gibt
es an ihnen nichts zu rütteln.«
»Du glaubst also,
Romeo hätte sich Holts Haus rein zufällig ausgesucht. Er soll
seinen Wirkungsbereich verlassen und aus reiner Willkür unsere
unbekannte Tote umgebracht haben.«
Rhodes wich ihrem
Blick aus und antwortete nicht.
Lena ließ nicht
locker. »Merkst du nach all den Jahren bei der Mordkommission denn
nicht, dass da etwas faul ist?«
»Fakten sind Fakten.
Ich kann sie nicht ändern und werde nicht daran herumdrehen. Wenn
die DNA-Ergebnisse da sind, kommst vielleicht sogar du zur
Vernunft.«
»Wer macht da Druck?
Barrera? Der neue Polizeipräsident? Oder ist das alles deine
Idee?«
Nun lächelte er
sogar, beugte sich über den Schreibtisch und schob das Fenster ein
Stück hoch.
»Die Abteilung
Schusswaffen hat bestätigt, dass die Waffe, mit der Holt sich
umgebracht hat, dieselbe ist, mit der dein Bruder ermordet wurde«,
erwiderte er langsam und betont. »Holt hat die Pistole nicht
gefunden, sondern gekauft, und wir haben die
Quittung.«
»Den Spruch habe ich
schon mal gehört. Wenn man jemandem eine Waffe unterschieben kann,
geht das mit einer Quittung sicher auch.«
»Na klar, Lena. Genau
wie O. J. Simpsons Handschuh. Ich habe das verdammte Ding
verbuddelt, als keiner hingeschaut hat.«
»Fakten sind Fakten«,
entgegnete sie. »Und ich habe den Eindruck, dass du dich hier zum
Hüter dieser Fakten aufschwingst.«
»Es ist mir
scheißegal, ob du sauer auf mich bist. Heute Nachmittag habe ich
mit Holts Arzt gesprochen. Dem Psychiater in der Klinik, in der er
war. Er hat mir erzählt, Holt sei regelrecht besessen vom Tod
deines Bruders gewesen. Er war so fixiert auf den Mord, dass seine
Genesung dadurch verzögert wurde. Der Psychiater meinte, Holt habe
große Probleme gehabt. Vieles, was er sich von der Seele reden
wollte.«
Lena ließ ihn nicht
aus den Augen. »Und das ist typisch, wenn jemand schuldig ist,
richtig?«
»Ich habe dem Mann
doch keine Worte in den Mund gelegt und ihm auch keine Fangfragen
gestellt. Als ich ihn anrief und ihm mitteilte, dass Holt tot ist,
war es das Erste, was der Kerl gesagt hat.«
»Und was ist mit der
unbekannten Toten?«
Er lehnte sich
zurück, betrachtete sie kurz und schüttelte dann den
Kopf.
Rhodes war wütend und
rang sichtlich um Fassung. Lena erinnerte sich an den Moment vor
vierzehn Stunden, als sie seine Unterschrift auf der Leihkarte im
Zentralarchiv erkannt hatte. Die alte Frau, die ihr die Mordakte
gegeben hatte, hatte ihr beim Hinausgehen Glück gewünscht. Während
sie nachdachte, hörte sie Rhodes Freundin in der Küche mit Töpfen
klappern. Als sie durch die Glastüren spähte, stellte sie fest,
dass die Frau sie beim Spülen beobachtete. Lena war ihr schon
einmal begegnet. Eine Blondine mit graugrünen Augen und einer
kurvenreichen Figur. Heute schien sie schlechte Laune zu haben.
Ihre Blicke trafen sich, und die Frau wandte sich ab.
»Es war ein langer
Tag«, sagte Lena. »Ich hatte ganz vergessen, dass du heute Morgen
zu Barrera gemeint hast, Holt wäre neidisch gewesen. Vermutlich ist
das ein guter Grund, seinen besten Freund zu
erschießen.«
Rhodes nahm Holts
Tagebuch und suchte nach der markierten Seite. »Lies das. Und dann
erzähl mir, was im Kopf dieses Typen vorging.«
Er schob das
Notizbuch zu ihr hinüber und deutete auf einen Eintrag. Als Lena
das Notizbuch betrachtete, stellte sie fest, dass es eher ein
Skizzenbuch war. Holt hatte zwar Tagebucheintragungen gemacht, aber
auch gezeichnet oder Erinnerungsstücke neben das Geschriebene
geklebt. Als sie zu lesen begann, wurde ihr klar, dass der Eintrag
von dem Tag stammte, an dem ihr Bruder Holt die Ballade vorgespielt
hatte. Die Geschichte von Lena und David Gamble, zwei Bankräubern
auf der Flucht. Holt schilderte seine Gefühle beim Hören des
Liedes. Er hatte sich den Text notiert und sofort verstanden, dass
das Verbrechen nur eine Metapher für das Leben bedeutete, in das
Lena und David hineingeboren waren und das sie miteinander teilten.
In gewisser Weise war es ein Liebeslied, und Holt fand es so schön,
dass er von Selbstzweifeln ergriffen wurde. Er beschrieb seinen
Zorn, nachdem er das Lied gehört hatte. Er hatte sich deprimiert
und wie ein Versager gefühlt und den Drang unterdrücken müssen, den
Schmerz mit einem Schuss Heroin zu betäuben. Die Wut auf seinen
Bandkollegen, weil David Gamble alles zuzufliegen schien, während
er sich immer hatte anstrengen müssen.
Lena blickte von dem
Tagebuch auf und bemerkte, dass Rhodes sie anstarrte. Anfangs
wirkten seine Augen noch sanft, wurden aber sofort wieder eiskalt.
Als er sich abwandte, trat die Narbe an seinem linken Ohrläppchen
schärfer hervor. Sie sah eher wie ein X als wie eine Stichwunde
aus.
»Du verstehst das
alles ganz falsch«, sagte sie.
Er schlug die Beine
übereinander und rauchte wortlos.
»Mein Bruder hat sich
genauso über Holt geäußert«, fuhr Lena fort. »Dass ihm alles viel
zu leicht fiele, während er sich abmühte, um Schritt zu halten. Die
beiden haben einander angestachelt.«
Das Telefon läutete.
Rhodes nahm ab, meldete sich und sagte dann nur noch wenig. Es war
ein einseitiges Gespräch, das mit einem nein begann, was hieß, dass er nicht allein sei und
deshalb nicht frei reden könne. Lena wandte sich wieder dem
Tagebuch zu und blätterte weiter, bis sie auf den ersten Eintrag
nach dem Tod ihres Bruders stieß. Inzwischen waren drei Wochen
vergangen. Als sie zu lesen begann, wurde ihr klar, dass es nicht
Holts eigene Worte waren. Der Text stammte aus Der Malteser Falke von Dashiell Hammett. Sam Spade
sprach über die Bedeutung einer Partnerschaft, während er Brigid
O’Shaughnessy vernahm, die Frau, die er hätte lieben können, von
der er nun jedoch wusste, dass sie die Mörderin seines Partners
war.
Wenn einem der
Partner ermordet wird, muss man doch etwas
unternehmen.
Die Worte hatten
etwas Bedeutungsschwangeres an sich. Als sie hörte, dass Rhodes
aufgelegt hatte, klappte sie das Buch zu und legte es zurück auf
den Schreibtisch.
»Ich muss einkaufen
gehen«, verkündete er.
Als sie seinen Blick
sah, wusste sie, dass er sich mit jemandem verabredet hatte. Er
hatte ihr gar nicht zugehört und nicht den Hauch von Interesse an
dem, was sie ihm hatte klarmachen wollten. Rhodes benutzte das
Tagebuch, um dem Mord eine Vorgeschichte und dem Täter ein Motiv zu
geben. Alles, was dieses Bild störte, wurde ignoriert.
Rhodes schaute auf
die Uhr und steckte das Zigarettenpäckchen ein. »Holt erwähnt ein
goldenes Plektron«, meinte er. »Jemand hat es deinem Bruder
geschenkt. Ein Prominenter.«
Lena zuckte die
Achseln. »Und jetzt meinst du, Holt hätte ihn deshalb noch mehr
gehasst.«
»Sehr liebevoll klang
es nicht. Dein Bruder hat das Plektron gekriegt. Holt ging leer
aus. Er hat darüber geschrieben.«
Die grünäugige
Blondine fing wieder an, mit den Töpfen zu klappern. Nach einem
raschen Blick durch die Glastür drehte Rhodes sich zu Lena
um.
»Sie weiß von uns«,
sagte er.
»Was gibt es da zu
wissen? Es ist nichts passiert.«
Er musterte sie,
während er nach seinen Schlüsseln griff. »Schon gut, Lena. Nichts
ist passiert. Wie du meinst.«
Jetzt hatte Lena
endgültig genug. Sie nahm die Schlüssel zu Holts Haus und stand
auf.
»Ich finde allein
raus.«
Lena schob die
Glastür auf, worauf die Blondine in der Küche ihr den Rücken
zukehrte. Ohne sich zu verabschieden, marschierte sie hinaus. Ihr
Auto stand am Fuße des Hügels vor einem Häuschen mit schrägem Dach.
Auf dem Weg nach unten zählte Lena die Stufen. Es waren
zweiundsiebzig von der Straße bis zu Rhodes’ Eingangstür. Unten
angekommen, hielt sie kurz inne und sah hinauf zu Rhodes’ Haus über
dem Abgrund. Der Regen hatte aufgehört. Der nasse Boden glitzerte
in dem Licht, das aus dem Fenster des Häuschens kam.
Was Rhodes als
Kontext und Motiv bezeichnete, war nichts weiter als Humbug.
Schließlich wimmelte es in der Kulturgeschichte von Künstlern, die
einander angestachelt hatten. Zuerst fielen einem da Lennon und
McCartney ein. Doch selbst van Gogh und Gauguin hatten sich als
Konkurrenten gesehen und hätten es somit sicher auf die
Verdächtigenliste geschafft. Wenn man aus den Tagebüchern etwas
erfuhr, dann nur, dass Holt alles aufgeschrieben hatte und dass die
Eintragungen regelmäßig erfolgt waren. Falls er Selbstmord begangen
hatte, weil er der Mörder ihres Bruders war und die Schuld nicht
mehr ertragen konnte, hätte er einen Abschiedsbrief hinterlassen.
Ohne Abschiedsbrief wäre sein Selbstmord bedeutungslos gewesen.
Denn wenn der Mord an seiner Seele genagt hatte, war ein
Abschiedsbrief doch die einzige Gelegenheit, alles zu erklären und
zu beeinflussen, wie die Nachwelt sich an ihn erinnern
würde.
Die Frage war nur,
warum Rhodes das nicht begriff?
Etwas ging in dem
Mann vor, das Lena weder erraten noch sich vorstellen oder erfinden
wollte. Nur dass es faul war, lag auf der Hand.