46
 
Lena kramte ihre Taschenlampe aus dem Kofferraum hervor und warf dabei einen Blick auf das Haus hinter der Mauer. Jetzt, eine Viertelstunde nach Mitternacht, war alles still und dunkel. Das einzige Geräusch kam von dem trockenen Wind, der die Blätter der Bäume zum Rascheln brachte und die Äste schüttelte, bis Regentropfen zu Boden fielen.
Das Gespräch mit Rhodes hatte einen faden Nachgeschmack hinterlassen, den sie einfach nicht loswurde. Mittlerweile hatte sich ihr innerer Monolog in eine handfeste Auseinandersetzung verwandelt. Auf ihre Menschenkenntnis war sie schon immer stolz gewesen, und als Polizistin verließ sie sich auf ihre Instinkte, um eine Situation rasch zu beurteilen und selbstbewusst einzuschreiten. Es war eine Überlebenstechnik, die man erwarb, wenn man Hunger litt und in einem Auto lebte. Eine, auf die Lena unbedingt vertrauen können musste. Obwohl es voreilig gewesen wäre, Rhodes irgendwelcher unlauterer Machenschaften zu verdächtigen, verhielt er sich mehr als merkwürdig. So sehr Lena daran lag, Tim Holt von jeglichem Verdacht reinzuwaschen, sollte aber auch an Rhodes nichts hängenbleiben. Sie konnte sich doch unmöglich gleich zweimal so in einem Menschen geirrt und diese beiden in ihrem Leben so wichtigen Männer falsch eingeschätzt haben. Hatte sie etwa Grund, an ihrem inneren Kompass zu zweifeln? Ihrem Richtungsgeber? Ließ er sie nun im Stich?
Lena kramte die Zigaretten, die sie gestern gekauft hatte, aus dem Handschuhfach. Während sie weiter über Rhodes’ Reaktion nachdachte, zündete sie eine an. Ob Selbstzerstörung wohl ansteckend war? Sie war ihm die Franklin Avenue hinunter gefolgt, hatte ihn aber im dichten Verkehr verloren, als er an der Gower Road rechts abgebogen war. Sicherheitshalber hatte sie zwanzig Wagenlängen Abstand gehalten, damit er sie nicht bemerkte. Wenn sie gewusst hätte, wie viele Autos heute Nacht unterwegs waren, wäre sie dichter aufgefahren. Allerdings stand nun eines fest: Er hatte sie angelogen, denn der Supermarkt befand sich zwei Straßen weiter an der Franklin Avenue – und zwar in entgegengesetzter Richtung. Rhodes hatte eine Verabredung.
Lena sog Rauch in ihre Lungen und sah auf die Uhr. Novak würde frühestens in einer halben Stunde hier sein. Sie schaltete die Taschenlampe ein, schob das Absperrband beiseite und machte sich allein auf den Weg die Auffahrt entlang.
Sie wollte sich zuerst das ganze Haus von außen ansehen. Novak hatte ihr am Telefon erzählt, der Täter sei nicht durch eine unverschlossene Eingangstür eingedrungen, sondern durch ein eingeschlagenes Kellerfenster. Lena folgte einem Kiesweg, der von der Auffahrt abging. Einige Stufen führten hinunter in den Garten. Sie ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über den Stall und die Reitwege gleiten, die in den Hügeln verschwanden. Einer dieser Wege schien sich von den anderen zu unterscheiden, und sie ging weiter in den Garten hinein, um ihn gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Nach einem erneuten Zug an ihrer Zigarette richtete sie die Taschenlampe in die Hügel und sah zu, wie sich der Lichtstrahl in der Luft mit dem Scheinwerferkegel eines vorbeifahrenden Autos kreuzte. Offenbar handelte es sich doch nicht um einen Reitweg, sondern um einen Fußpfad zum Mullholland Drive. Wenn der Täter nicht vor dem Haus geparkt hatte, war er vielleicht so unbemerkt aufs Grundstück gelangt. Schließlich war der Weg auch ihr nur dank des Scheinwerferlichts in der Dunkelheit aufgefallen.
Lena ließ die Zigarette auf den feuchten Rasen fallen und trat sie aus. Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt und strich hinter ihr durchs hohe Gras.
Sie dachte an den besten Freund ihres Bruders, während sie die Fassade des Hauses musterte, das sein neues Heim hätte werden sollen. Auf der Rückseite des Gebäudes waren die Fenster größer. Der Efeu, der sich die weißen Wände hinaufrankte, war – vermutlich wegen der Aussicht – sorgfältiger gestutzt als vorne. Links oben an der Treppe befand sich eine Steinterrasse. Hinter den Glastüren lag das Wohnzimmer. Die verglaste Veranda rechts verlief an der Längsseite des Hauses entlang. Der Lichtstrahl der Taschenlampe traf die Kellertür unterhalb der Terrasse.
Hier war die Schwachstelle. Neben einem Schuppen sah Lena Gartengeräte und einen Holzstapel und näherte sich der Kellertür, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Drei Glasscheiben waren intakt. Die vierte war ungeschickt eingeschlagen worden. Novaks Ansicht nach war dazu ein Scheit vom Holzstapel benutzt worden.
Lena spähte durch die zerbrochene Scheibe. Auf der Kellertreppe brannte Licht. Offenbar hatte einer der Kriminaltechniker irgendwo oben eine Lampe angelassen. Auf dem Boden neben dem Heizkessel standen Umzugskartons. Lena betrachtete die Tür mit dem altmodischen Schloss. Als sie am Türknauf rüttelte, stellte sie fest, dass die Tür Spiel hatte. Sie hob die Taschenlampe. Oberhalb des Türrahmens befand sich ein etwa dreißig Zentimeter langer Riss. Außerdem war nicht nur der Putz beschädigt. Einige Mauersteine waren gespalten, und der Türrahmen schien sich um mindestens fünfzehn Zentimeter verschoben zu haben. Eindeutig eine Folge des Northridge-Erdbebens – und ein weiterer Widerspruch in diesem Fall.
Lena packte den Türknauf und drückte fest dagegen. Beim zweiten Versuch half sie mit einem Hüftstoß nach. Als das Schloss nachgab und die Tür aufsprang, fühlte sie sich in ihrem Argwohn bestätigt.
Jeder Eindringling hätte sicher zuerst versucht, die Tür einzudrücken, und dass dazu keine großen Körperkräfte nötig waren, hatte sie gerade selbst unter Beweis gestellt. Ihrem Kenntnisstand zufolge war Romeo nicht nur stark, sondern zudem nicht auf den Kopf gefallen. Sicher wäre er nicht grundlos das Risiko eingegangen, eine Scheibe einzuschlagen, da das Lärm verursachte und die Möglichkeit bestand, dass man sich dabei verletzte.
Also standen für Lena zwei Dinge fest: Romeo war vermutlich nicht auf diesem Weg ins Haus eingedrungen. Und ein Polizist auf Abwegen hätte ganz sicher keine Scheibe eingeschlagen.
Sie beschloss, das Problem auf später zu vertagen, zwängte sich an den Umzugskartons vorbei und ging nach oben. Als sie in die Küche kam, sah sie, dass auf einem Tisch neben der Eingangstür eine kleine Lampe brannte, und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Sie nahm sich Zeit, den Tatort auf sich wirken zu lassen. Offenbar hatten Novak und Rhodes sämtliche Umzugskartons ausgepackt. Obwohl sie Holts Habe anschließend wieder verstaut hatten, war der Eindruck ziemlich chaotisch. Das Ergebnis war, dass man sich im Haus kaum bewegen konnte. Es sah aus, als hätten Einbrecher hier gewütet.
Die Eiswürfelmaschine am Gefrierschrank klickte und spuckte eine frische Ladung Eis aus, ein Geräusch, das Lena Unbehagen verursachte, fast, als befände sich noch jemand im Haus. Sie bahnte sich durch die Kartons einen Weg zur Treppe und leuchtete in den ersten Stock hinauf. Die Stufen ächzten unter ihrem Gewicht. Oben auf dem Treppenabsatz schlug ihr kalte Luft ins Gesicht. Lena hielt inne. Wieder stieg ein mulmiges Gefühl in ihr hoch. Sie hätte schwören können, dass da jemand war, der sie beobachtete. Lena richtete die Taschenlampe auf die dunklen Zimmer am Ende des Flurs. Sie hatte schon viele Stunden an Tatorten verbracht. Allein und auch nachts. Als Detective bei der Mordkomission gehörte es zu ihrem Beruf, sich in die Atmosphäre einzufühlen und sich den Tathergang vorzustellen. Woher also dieses Unbehagen? Warum jetzt?
Lena drehte sich um. Direkt hinter ihr befand sich die Tür des Mordzimmers. Sie nahm all ihren Mut zusammen, trat ein, tastete nach dem Lichtschalter an der Wand und betätigte ihn. Als nichts geschah, steuerte sie auf die Nachttischlampe zu. Der Geruch nach verwesendem Blut schlug ihr entgegen und ließ dann ein wenig nach, als ihr wieder der kalte Lufthauch ins Gesicht schlug. Sie machte Licht.
Jemand hatte – vielleicht wegen des Gestanks – ein Fenster offen gelassen. Nach einem Blick nach draußen, schloss Lena das Fenster und verriegelte es.
Sie sah die Szene so deutlich vor sich, als ob sie dabei gewesen wäre. Die Leiche der unbekannten Frau, mit einem Strumpf an den Bettpfosten gefesselt. Der tote Tim Holt, zusammengesackt im Sessel mit der Waffe in der Hand.
Als sie von unten ein Geräusch hörte, zuckte sie zusammen, schlich zur Tür und horchte eine Weile in die gespenstische Stille hinein. Dann holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen. Sie war doch rein dienstlich hier. Kein Grund also, emotional zu werden.
Lena drehte sich zum Sessel um. Etwas störte sie daran, und zwar nicht die Blutflecken auf dem Polster, sondern die Position des Möbelstücks: dem Bett zugewandt.
Im nächsten Moment läutete es an der Tür, und der Gedanke war verschwunden. Dann rief Novak ihren Namen. Lena hastete die Treppe hinunter und machte auf.
»Was gefunden?«, fragte er.
»Gedanken«, erwiderte sie. »Ideen.«
Lena begleitete ihren Partner die Treppe hinauf zum Mordzimmer und wies auf den Sessel.
»Ich denke nur laut, Hank. Der Sessel zeigt zum Bett.«
»Na und?«
»Wenn ich mich erschießen will, weil ich einen Mord begangen habe und die Schuld nicht mehr ertragen kann, möchte ich doch nicht mit Blick auf die Leiche unserer Unbekannten sterben. Ich würde den Sessel zum Fenster drehen, wo die Aussicht besser ist.«
»Falls Holt tatsächlich deinen Bruder auf dem Gewissen hatte, kommt es mir auch wahrscheinlicher vor, dass er sich abgewendet hat, um sich zu erschießen. Aber du weißt ja, dass mir die Selbstmordtheorie von Anfang an nicht gepasst hat, Lena.«
»Rhodes behauptet, Holt wäre besessen vom Mord an meinem Bruder gewesen. Was ist, wenn er etwas rausgefunden hat, das jemandem hätte gefährlich werden können?«
»Alles ist möglich«, erwiderte Novak.
Die Kompassnadel in ihrem Bauch drehte sich leicht und rastete dann so heftig ein, dass man es beinahe hören konnte. Plötzlich fiel es Lena wie Schuppen von den Augen, und sie wusste genau, warum Holt versucht hatte, sie zu erreichen – und aus welchem Grund er hatte sterben müssen. Offenbar war auf ihren inneren Kompass auch weiterhin Verlass.
Holt hatte etwas in Erfahrung gebracht oder war zufällig darüber gestolpert. Und deshalb hatte er mit ihr reden wollen.
»Was ist, Hank?«
»Mir sind gerade die Spermaspuren eingefallen, die wir bei der unbekannten Toten sichergestellt haben. Ich habe da so ein Gefühl, dass das Labor eine Übereinstimmung finden wird, selbst wenn sie nicht von Romeo stammen. Ich gehe jede Wette ein, dass die DNA identisch ist. Wer das hier inszeniert hat, hat sich große Mühe gegeben.«
In dem von Blutgeruch erfüllten Raum herrschte Schweigen, als Lena an ihren Bruder, die unbekannte Tote und Tim Holt dachte. Sie blickte aus dem Fenster auf die Hügel, deren Abhänge sich wellenförmig bis ins Tal erstreckten. Die Lichter der Stadt der Engel verschmolzen mit dem nahen Ozean. Jemand kannte die Einzelheiten der Romeo-Morde und benutzte sie für seine Zwecke.
Todesqual: Thriller
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