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Lena kramte ihre Taschenlampe aus dem Kofferraum
hervor und warf dabei einen Blick auf das Haus hinter der Mauer.
Jetzt, eine Viertelstunde nach Mitternacht, war alles still und
dunkel. Das einzige Geräusch kam von dem trockenen Wind, der die
Blätter der Bäume zum Rascheln brachte und die Äste schüttelte, bis
Regentropfen zu Boden fielen.
Das Gespräch mit
Rhodes hatte einen faden Nachgeschmack hinterlassen, den sie
einfach nicht loswurde. Mittlerweile hatte sich ihr innerer Monolog
in eine handfeste Auseinandersetzung verwandelt. Auf ihre
Menschenkenntnis war sie schon immer stolz gewesen, und als
Polizistin verließ sie sich auf ihre Instinkte, um eine Situation
rasch zu beurteilen und selbstbewusst einzuschreiten. Es war eine
Überlebenstechnik, die man erwarb, wenn man Hunger litt und in
einem Auto lebte. Eine, auf die Lena unbedingt vertrauen können
musste. Obwohl es voreilig gewesen wäre, Rhodes irgendwelcher
unlauterer Machenschaften zu verdächtigen, verhielt er sich mehr
als merkwürdig. So sehr Lena daran lag, Tim Holt von jeglichem
Verdacht reinzuwaschen, sollte aber auch an Rhodes nichts
hängenbleiben. Sie konnte sich doch unmöglich gleich zweimal so in
einem Menschen geirrt und diese beiden in ihrem Leben so wichtigen
Männer falsch eingeschätzt haben. Hatte sie etwa Grund, an ihrem
inneren Kompass zu zweifeln? Ihrem Richtungsgeber? Ließ er sie nun
im Stich?
Lena kramte die
Zigaretten, die sie gestern gekauft hatte, aus dem Handschuhfach.
Während sie weiter über Rhodes’ Reaktion nachdachte, zündete sie
eine an. Ob Selbstzerstörung wohl ansteckend war? Sie war ihm die
Franklin Avenue hinunter gefolgt, hatte ihn aber im dichten Verkehr
verloren, als er an der Gower Road rechts abgebogen war.
Sicherheitshalber hatte sie zwanzig Wagenlängen Abstand gehalten,
damit er sie nicht bemerkte. Wenn sie gewusst hätte, wie viele
Autos heute Nacht unterwegs waren, wäre sie dichter aufgefahren.
Allerdings stand nun eines fest: Er hatte sie angelogen, denn der
Supermarkt befand sich zwei Straßen weiter an der Franklin Avenue –
und zwar in entgegengesetzter Richtung. Rhodes hatte eine
Verabredung.
Lena sog Rauch in
ihre Lungen und sah auf die Uhr. Novak würde frühestens in einer
halben Stunde hier sein. Sie schaltete die Taschenlampe ein, schob
das Absperrband beiseite und machte sich allein auf den Weg die
Auffahrt entlang.
Sie wollte sich
zuerst das ganze Haus von außen ansehen. Novak hatte ihr am Telefon
erzählt, der Täter sei nicht durch eine unverschlossene Eingangstür
eingedrungen, sondern durch ein eingeschlagenes Kellerfenster. Lena
folgte einem Kiesweg, der von der Auffahrt abging. Einige Stufen
führten hinunter in den Garten. Sie ließ den Strahl ihrer
Taschenlampe über den Stall und die Reitwege gleiten, die in den
Hügeln verschwanden. Einer dieser Wege schien sich von den anderen
zu unterscheiden, und sie ging weiter in den Garten hinein, um ihn
gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Nach einem erneuten Zug an
ihrer Zigarette richtete sie die Taschenlampe in die Hügel und sah
zu, wie sich der Lichtstrahl in der Luft mit dem Scheinwerferkegel
eines vorbeifahrenden Autos kreuzte. Offenbar handelte es sich doch
nicht um einen Reitweg, sondern um einen Fußpfad zum Mullholland
Drive. Wenn der Täter nicht vor dem Haus geparkt hatte, war er
vielleicht so unbemerkt aufs Grundstück gelangt. Schließlich war
der Weg auch ihr nur dank des Scheinwerferlichts in der Dunkelheit
aufgefallen.
Lena ließ die
Zigarette auf den feuchten Rasen fallen und trat sie aus.
Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt und strich hinter ihr durchs
hohe Gras.
Sie dachte an den
besten Freund ihres Bruders, während sie die Fassade des Hauses
musterte, das sein neues Heim hätte werden sollen. Auf der
Rückseite des Gebäudes waren die Fenster größer. Der Efeu, der sich
die weißen Wände hinaufrankte, war – vermutlich wegen der Aussicht
– sorgfältiger gestutzt als vorne. Links oben an der Treppe befand
sich eine Steinterrasse. Hinter den Glastüren lag das Wohnzimmer.
Die verglaste Veranda rechts verlief an der Längsseite des Hauses
entlang. Der Lichtstrahl der Taschenlampe traf die Kellertür
unterhalb der Terrasse.
Hier war die
Schwachstelle. Neben einem Schuppen sah Lena Gartengeräte und einen
Holzstapel und näherte sich der Kellertür, um den Schaden in
Augenschein zu nehmen. Drei Glasscheiben waren intakt. Die vierte
war ungeschickt eingeschlagen worden. Novaks Ansicht nach war dazu
ein Scheit vom Holzstapel benutzt worden.
Lena spähte durch die
zerbrochene Scheibe. Auf der Kellertreppe brannte Licht. Offenbar
hatte einer der Kriminaltechniker irgendwo oben eine Lampe
angelassen. Auf dem Boden neben dem Heizkessel standen
Umzugskartons. Lena betrachtete die Tür mit dem altmodischen
Schloss. Als sie am Türknauf rüttelte, stellte sie fest, dass die
Tür Spiel hatte. Sie hob die Taschenlampe. Oberhalb des Türrahmens
befand sich ein etwa dreißig Zentimeter langer Riss. Außerdem war
nicht nur der Putz beschädigt. Einige Mauersteine waren gespalten,
und der Türrahmen schien sich um mindestens fünfzehn Zentimeter
verschoben zu haben. Eindeutig eine Folge des Northridge-Erdbebens
– und ein weiterer Widerspruch in diesem Fall.
Lena packte den
Türknauf und drückte fest dagegen. Beim zweiten Versuch half sie
mit einem Hüftstoß nach. Als das Schloss nachgab und die Tür
aufsprang, fühlte sie sich in ihrem Argwohn bestätigt.
Jeder Eindringling
hätte sicher zuerst versucht, die Tür einzudrücken, und dass dazu
keine großen Körperkräfte nötig waren, hatte sie gerade selbst
unter Beweis gestellt. Ihrem Kenntnisstand zufolge war Romeo nicht
nur stark, sondern zudem nicht auf den Kopf gefallen. Sicher wäre
er nicht grundlos das Risiko eingegangen, eine Scheibe
einzuschlagen, da das Lärm verursachte und die Möglichkeit bestand,
dass man sich dabei verletzte.
Also standen für Lena
zwei Dinge fest: Romeo war vermutlich nicht auf diesem Weg ins Haus
eingedrungen. Und ein Polizist auf Abwegen hätte ganz sicher keine
Scheibe eingeschlagen.
Sie beschloss, das
Problem auf später zu vertagen, zwängte sich an den Umzugskartons
vorbei und ging nach oben. Als sie in die Küche kam, sah sie, dass
auf einem Tisch neben der Eingangstür eine kleine Lampe brannte,
und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Sie nahm sich Zeit, den
Tatort auf sich wirken zu lassen. Offenbar hatten Novak und Rhodes
sämtliche Umzugskartons ausgepackt. Obwohl sie Holts Habe
anschließend wieder verstaut hatten, war der Eindruck ziemlich
chaotisch. Das Ergebnis war, dass man sich im Haus kaum bewegen
konnte. Es sah aus, als hätten Einbrecher hier
gewütet.
Die Eiswürfelmaschine
am Gefrierschrank klickte und spuckte eine frische Ladung Eis aus,
ein Geräusch, das Lena Unbehagen verursachte, fast, als befände
sich noch jemand im Haus. Sie bahnte sich durch die Kartons einen
Weg zur Treppe und leuchtete in den ersten Stock hinauf. Die Stufen
ächzten unter ihrem Gewicht. Oben auf dem Treppenabsatz schlug ihr
kalte Luft ins Gesicht. Lena hielt inne. Wieder stieg ein mulmiges
Gefühl in ihr hoch. Sie hätte schwören können, dass da jemand war,
der sie beobachtete. Lena richtete die Taschenlampe auf die dunklen
Zimmer am Ende des Flurs. Sie hatte schon viele Stunden an Tatorten
verbracht. Allein und auch nachts. Als Detective bei der
Mordkomission gehörte es zu ihrem Beruf, sich in die Atmosphäre
einzufühlen und sich den Tathergang vorzustellen. Woher also dieses
Unbehagen? Warum jetzt?
Lena drehte sich um.
Direkt hinter ihr befand sich die Tür des Mordzimmers. Sie nahm all
ihren Mut zusammen, trat ein, tastete nach dem Lichtschalter an der
Wand und betätigte ihn. Als nichts geschah, steuerte sie auf die
Nachttischlampe zu. Der Geruch nach verwesendem Blut schlug ihr
entgegen und ließ dann ein wenig nach, als ihr wieder der kalte
Lufthauch ins Gesicht schlug. Sie machte Licht.
Jemand hatte –
vielleicht wegen des Gestanks – ein Fenster offen gelassen. Nach
einem Blick nach draußen, schloss Lena das Fenster und verriegelte
es.
Sie sah die Szene so
deutlich vor sich, als ob sie dabei gewesen wäre. Die Leiche der
unbekannten Frau, mit einem Strumpf an den Bettpfosten gefesselt.
Der tote Tim Holt, zusammengesackt im Sessel mit der Waffe in der
Hand.
Als sie von unten ein
Geräusch hörte, zuckte sie zusammen, schlich zur Tür und horchte
eine Weile in die gespenstische Stille hinein. Dann holte sie tief
Luft, um sich zu beruhigen. Sie war doch rein dienstlich hier. Kein
Grund also, emotional zu werden.
Lena drehte sich zum
Sessel um. Etwas störte sie daran, und zwar nicht die Blutflecken
auf dem Polster, sondern die Position des Möbelstücks: dem Bett
zugewandt.
Im nächsten Moment
läutete es an der Tür, und der Gedanke war verschwunden. Dann rief
Novak ihren Namen. Lena hastete die Treppe hinunter und machte
auf.
»Was gefunden?«,
fragte er.
»Gedanken«, erwiderte
sie. »Ideen.«
Lena begleitete ihren
Partner die Treppe hinauf zum Mordzimmer und wies auf den
Sessel.
»Ich denke nur laut,
Hank. Der Sessel zeigt zum Bett.«
»Na
und?«
»Wenn ich mich
erschießen will, weil ich einen Mord begangen habe und die Schuld
nicht mehr ertragen kann, möchte ich doch nicht mit Blick auf die
Leiche unserer Unbekannten sterben. Ich würde den Sessel zum
Fenster drehen, wo die Aussicht besser ist.«
»Falls Holt
tatsächlich deinen Bruder auf dem Gewissen hatte, kommt es mir auch
wahrscheinlicher vor, dass er sich abgewendet hat, um sich zu
erschießen. Aber du weißt ja, dass mir die Selbstmordtheorie von
Anfang an nicht gepasst hat, Lena.«
»Rhodes behauptet,
Holt wäre besessen vom Mord an meinem Bruder gewesen. Was ist, wenn
er etwas rausgefunden hat, das jemandem hätte gefährlich werden
können?«
»Alles ist möglich«,
erwiderte Novak.
Die Kompassnadel in
ihrem Bauch drehte sich leicht und rastete dann so heftig ein, dass
man es beinahe hören konnte. Plötzlich fiel es Lena wie Schuppen
von den Augen, und sie wusste genau, warum Holt versucht hatte, sie
zu erreichen – und aus welchem Grund er hatte sterben müssen.
Offenbar war auf ihren inneren Kompass auch weiterhin
Verlass.
Holt hatte etwas in
Erfahrung gebracht oder war zufällig darüber gestolpert. Und
deshalb hatte er mit ihr reden wollen.
»Was ist,
Hank?«
»Mir sind gerade die
Spermaspuren eingefallen, die wir bei der unbekannten Toten
sichergestellt haben. Ich habe da so ein Gefühl, dass das Labor
eine Übereinstimmung finden wird, selbst wenn sie nicht von Romeo
stammen. Ich gehe jede Wette ein, dass die DNA identisch ist. Wer
das hier inszeniert hat, hat sich große Mühe gegeben.«
In dem von Blutgeruch
erfüllten Raum herrschte Schweigen, als Lena an ihren Bruder, die
unbekannte Tote und Tim Holt dachte. Sie blickte aus dem Fenster
auf die Hügel, deren Abhänge sich wellenförmig bis ins Tal
erstreckten. Die Lichter der Stadt der Engel verschmolzen mit dem
nahen Ozean. Jemand kannte die Einzelheiten der Romeo-Morde und
benutzte sie für seine Zwecke.