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Vor sechzehn Stunden war Nikki Brant eins
fünfundfünfzig groß gewesen und hatte vierundvierzig Kilo und
fünfhundert Gramm gewogen. Nun lag ihr zierlicher Körper auf einer
kalten Stahlplatte und hatte die letzte Schändung bereits hinter
sich. Lena sah zu, wie Lamar Newton das abschließende Foto von der
jungen Frau machte. Als das Blitzlicht verlosch, drückte der
Gerichtsmediziner den Brustkorb zusammen und nähte den kindlichen
Körper mit dickem schwarzem Zwirn zusammen wie einen alten
ausgetretenen Schuh.
Lena warf einen Blick
in ihr Notizbuch, um sich zu vergewissern, dass sie die wichtigsten
Punkte der Autopsie aufgeschrieben hatte. So würde sie nicht auf
einen Bericht warten müssen.
Die Plastiktüten, die
der Täter dem Opfer um Kopf und Hände gewickelt hatte, waren ins
Labor geschickt worden. Allerdings handelte es sich dabei offenbar
um einen schlechten Scherz mit rein dekorativer Funktion. Unter
Brants Fingernägeln waren keine Spuren sichergestellt worden. Weder
Handflächen noch Handgelenke wiesen Abwehrverletzungen auf. Auch
das Auskämmen ihres Haares blieb ergebnislos. Das vorhandene
Ejakulat reichte zwar für eine DNA-Analyse, aber bei der
Untersuchung ihrer Vagina hatten sich weder Blutergüsse noch
Risswunden gefunden.
Nichts deutete also
darauf hin, dass Nikki Brant vergewaltigt worden war.
Lena unterstrich
diesen Satz und blätterte dann zur nächsten Seite. Art Madina, der
Gerichtsmediziner, hatte ihren Verdacht bestätigt, indem er Sonden
in die Stichwunden eingeführt und Röntgenaufnahmen angefertigt
hatte. Mordwaffe war ein Messer, welches in Form und Größe genau
dem entsprach, das in der Spülmaschine der Brants entdeckt worden
war. Jedoch war das Opfer letztlich trotz der Verletzung des
rechten Lungenflügels nicht an dem Stich in die Brust gestorben,
sondern an der Bauchwunde. Die dreißig Zentimeter lange Klinge war
nach oben gezogen worden, hatte die Aorta durchtrennt und das Herz
der jungen Frau durchbohrt.
Lena wandte sich ab
und rang um Fassung. Da gerade sechs weitere Autopsien im selben
Raum durchgeführt wurden, schlug ihr der Geruch nach
Desinfektionsmittel und Verwesung entgegen wie eine Wand. Es war
ein langer Tag gewesen. Lena nahm Maske und Schutzbrille ab,
schlüpfte aus dem Kittel und ging hinaus, ohne die anderen
anzusehen. Auf dem Flur standen aufgereiht Rollwagen mit Leichen,
die warteten, bis sie an der Reihe waren. Einige waren in
durchsichtiges Plastik gehüllt. Andere lagen, nackt bis auf einen
Zettel am Zeh, da. Lena versuchte, nicht darauf zu achten, und
marschierte weiter.
Der Aufzug ließ eine
Ewigkeit auf sich warten. Die Neonröhren im Flur blinkten und
surrten und tauchten die Wände in ein steriles Licht ohne Schatten.
Endlich am Ausgang angekommen, versetzte Lena der Tür einen
kräftigen Schubs und trat hinaus in die kühle Nachtluft. Sie
überquerte den Parkplatz, setzte sich auf die Vortreppe des
Nachbargebäudes und blickte, am Wachhäuschen vorbei, zur Straße.
Ein Krankenwagen raste, begleitet von ohrenbetäubendem
Sirenengeheul, die Mission Road entlang zur Universitätsklinik
nebenan.
Wortlos ließ Novak
sich neben ihr nieder. Lena starrte geradeaus. Die Szenerie
erinnerte sie an einen Slum in einem Drittweltland, denn die
Menschen, die hier auf der Straße herumlungerten, trugen Lumpen,
sprachen kein Englisch und würden es auch nie lernen. Auf der
anderen Straßenseite begann hinter einem Schnellrestaurant und
einer Tankstelle ein düsteres, über und über mit Graffiti
beschmiertes Gewerbegebiet. Etwa anderthalb Kilometer weiter ragte
die wunderschöne Stadt namens Los Angeles aus dem Morast. Die
Gebäude hoben sich funkelnd vom schwarzen Himmel ab. Rot und blau
schimmernd und umschwirrt von weißen Lichtpunkten, den
Scheinwerfern der Tausenden von Autos, die auf den Schnellstraßen
im Stau standen. Wenn man es nicht unbedingt eilig hatte, war Los
Angeles atemberaubend.
Lena kramte ein
Papiertaschentuch heraus und wischte sich das Wick VapoRub von der
Nase. Allerdings hatte sich der Geruch nach Tod, der überall im
Gebäude herrschte, gegen die starken Metholdämpfe durchgesetzt. Der
Gestank hatte etwas Hartnäckiges, das sich im Körper einnistete und
nur schwer loszuwerden war. Obwohl Lena schon einige Autopsien
miterlebt hatte, machte ihr der Geruch noch immer viel mehr zu
schaffen als der Anblick. Tage vergingen, sodass man ihn schon fast
vergessen hatte. Und dann, eines Morgens, nieste oder hustete man
nach dem Duschen, und da war er wieder, die Witterung des Todes,
die sich in der Kehle festsetzte, verborgen zwar, doch stets zum
Schmecken nah.
»Gib mir eins von den
Dingern«, sagte Novak.
Lena reichte ihm ein
Papiertaschentuch und beobachtete, wie er sich das Gel von den
Nasenlöchern wischte.
»Kennst du dich mit
Würgespielchen aus?«, fragte er.
»Meinst du wegen der
Tüte über ihrem Kopf?«
»Die Küchenschublade
war voll davon«, fuhr er fort. »Ein unerschöpflicher
Vorrat.«
Novak klappte sein
Mobiltelefon auf, tippte eine Nummer ein und schaltete auf
Lautsprecher. Rhodes nahm ab, bevor sie ein Klingeln gehört
hatten.
»Tito und ich sind
noch am Tatort«, meldete er. »Das Haus ist
versiegelt.«
»Wie macht sich
Brant?«, erkundigte sich Novak.
»Den Umständen
entsprechend. Er ist noch bei uns.«
»Neuigkeiten?«
»Barrera war hier,
hat sich ein paar Stunden lang im Haus umgesehen und ist dann
wieder gefahren, um uns die nötigen Genehmigungen zu
besorgen.«
Barrera war der
Lieutenant. Er machte sich gern ein Bild vom Tatort und schaltete
sich oft aktiv in die Ermittlungen ein.
»Sonst noch was?«,
hakte Novak nach.
»Die Nachbarin hat
erzählt, die perfekte Ehe sei doch
nicht so perfekt gewesen. Die beiden
hätten oft gestritten, und manchmal wurde es sogar
laut.«
Novak sah Lena an und
schüttelte den Kopf. »Wir haben dasselbe gehört. Bis jetzt fassen
wir Brant noch mit Samthandschuhen an, Stan, aber er muss mit aufs
Präsidium. Weißt du, was ich meine?«
»Schon kapiert«,
erwiderte Rhodes. »Mit Samthandschuhen. Wir bitten den Mistkerl um
seine Mithilfe.«
Lena kannte das
Spiel, dessen Regeln eigentlich ganz einfach waren: Es ging darum,
Brant so lange wie möglich hinzuhalten und ihn im Unklaren darüber
zu lassen, dass er verdächtigt wurde, damit er sich keinen Anwalt
nahm. Nun hatten sie den entscheidenden ersten Schritt gemacht.
Ihre Ermittlungen folgten ab jetzt, wenn auch nur in einer groben
Richtung, dem statistischen Durchschnitt. Denn wenn ein Teil eines
Ehepaares ermordet wurde, war in den meisten Fällen der überlebende
Partner der Täter – auch wenn auf den ersten Blick alles auf einen
Perversen hindeutete. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Brant
seine Frau umgebracht und dann das Verbrechen – mit einem
Küchenmesser und drei Plastiktüten als Requisiten – als die Tat
eines Serienmörders dargestellt. Beinahe wäre er mit seiner
Inszenierung sogar erfolgreich gewesen. Die fehlende Zehe hatte er
vermutlich in der Toilette hinuntergespült.
»Wie wollt ihr ihn
vernehmen?«, erkundigte sich Rhodes.
Fragend sah Novak
Lena an.
»Die beiden kennen
ihn besser als wir«, meinte sie zu ihm. »Ich kümmere mich erst mal
darum, eine Mordakte anzulegen.«
Novak nickte
zustimmend. »Hast du gehört, Stan? Lena erzählt dir, was wir
inzwischen wissen, wenn du ins Präsidium kommst.«
»Bis dann also«,
sagte Rhodes.
Während Novak das
Telefon wegsteckte, erinnerte sich Lena an Brants Reaktion, als sie
ihm das Foto seiner toten Frau gezeigt hatte. Der Gefühlsausbruch
war offenbar nur Theater gewesen. Vor einem Monat war José López
dreizehn Stunden lang ebenso überzeugend aufgetreten, bis er es
sich schließlich anders überlegt und den Mord an seiner Frau Teresa
gestanden hatte. Inzwischen wartete er im Men’s Central Jail, der
Justizvollzugsanstalt für Männer, auf seinen Prozess. Lena erkannte
das Gebäude in der Ferne. Noch immer hörte sie López’ hasserfüllten
Tonfall, als er herausbrüllte, wie er seiner Frau ein ganzes
Duschtuch in den Hals gestopft und ihr dann mit einem Teppichmesser
aus ihrem eigenen Werkzeuggürtel die Kehle durchgeschnitten hatte.
Lena sah seinen Gesichtsausdruck und seinen lodernden Blick vor
sich, als er endlich zugab, er habe mit dem Blut seiner Frau ein
Kreuz aufs Bett gemalt und sie dann wie angenagelt darauf drapiert.
Beim bloßen Gedanken wurde ihr noch immer mulmig. Es war ihre erste
Kostprobe dessen gewesen, wozu Menschen fähig und in der Lage
waren, wenn sie beschlossen, Moral und Mitgefühl in den Wind zu
schießen. Novak hatte dieses Gefühl damals als Warnsignal
bezeichnet, als Gradmesser für ihre geistige Gesundheit. Er hatte
hinzugefügt, sie werde hoffentlich vernünftig genug sein, den
Dienst zu quittieren, wenn ein Mord sie jemals gleichgültig lassen
sollte. Dieser Fall ließ Lena ganz und gar nicht gleichgültig. Und
dass sie ihren Hut nahm, kam überhaupt nicht in Frage.
»Ich muss dich um
einen Gefallen bitten«, sagte Novak nun.
Wortlos sah sie ihren
Partner an. Man hatte López die Handschellen abgenommen, damit er
sein Geständnis unterschreiben konnte. Und ehe es jemand bemerkte,
hatte der Mann seine Hose geöffnet und angefangen, Lena ans Bein zu
urinieren. Auch sie selbst hatte es erst mitbekommen, als der
Beschuldigte von seinem eigenen Anwalt weggezerrt wurde. Willkommen
beim Dezernat für Raub und Tötungsdelikte!
»Hörst du mir
überhaupt zu, Lena?«, fragte Novak.
Sie nickte. Seit
jenem Abend hatte sie sich nicht mehr richtig sauber gefühlt. Ganz
gleich, wie kräftig sie sich auch unter der Dusche schrubbte und
welche Marke einer antibakterieller Seife sie auch benutzte, sie
kam sich immer schmutzig vor. Bis jetzt zumindest.
»Eigentlich wollte
ich Kristin zum Essen einladen«, sprach Novak weiter. »Sie rief
mich gestern an. Wir haben uns für heute Abend
verabredet.«
Novak stand auf. Lena
griff nach ihrem Aktenkoffer, und sie gingen die Stufen hinunter
zum Auto. Kristin war Novaks älteste Tochter, einundzwanzig und
offenbar, trotz ihrer immer wiederkehrenden Probleme mit Drogen und
Alkohol, sein Lieblingskind. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr
hatte sie die verschiedensten Entzugskliniken von innen gesehen.
Novak machte sich Vorwürfe, weil er nicht für sie da gewesen war,
und gab der Scheidung zum falschen Zeitpunkt die Schuld an der
Labilität seiner Tochter. Soweit Lena in den vergangenen beiden
Monaten hatte feststellen können, telefonierten Novak und seine
Tochter kaum und sahen einander noch seltener. Allerdings hatte
sich seit kurzem einiges geändert. Das Mädchen war drogenfrei und
trocken und sprach davon, dem College noch eine Chance zu geben.
Lena hatte sie einige Male getroffen und fand sie recht nett.
Allerdings war sie ein Fan der Musik ihres Bruders, was Lena
schmerzlich an ihren Verlust erinnerte. Doch das war ihr eigenes
Problem, nicht das von Novaks Tochter.
»Was soll ich für
dich tun?«, erkundigte sich Lena.
»Eigentlich sind wir
ja im Dienst«, erwiderte er, »und ich könnte auch absagen. Aber
nach dieser Geschichte will ich das nicht. Ich möchte meine Tochter
sehen und mich vergewissern, dass es ihr gut geht.«
»Das würde ich an
deiner Stelle auch tun. Außerdem haben wir ja zwei Teams. Triff
dich nur mit ihr.«
Als Novak die Hand
hob, warf sie ihm den Autoschlüssel zu.
»Ich bin nur ein oder
zwei Stunden weg«, fuhr er fort. »In der Innenstadt gibt es ein
neues Steakhaus. Ich wollte mit ihr dort essen. Soll ich dir etwas
mitbringen?«
Lena stieg ein. Ihr
knurrte der Magen. Inzwischen war es sieben Uhr, und sie hatten
keine Mittagspause gemacht. Sie brauchte dringend einen kleinen
Imbiss, denn zwei Stunden waren sehr lang, und sie hatte noch viel
zu tun. Am meisten jedoch sehnte sie sich nach einer Tasse Kaffee,
und zwar nach einem stärkeren Gebräu, als es die Kaffeemaschinen im
Parker Center hergaben.
Novak verließ den
Parkplatz und bog an der Ampel links ab. Fünf Minuten später wurde
das Elendsviertel im Rückspiegel immer kleiner, und sie fuhren
durch die Stadt der Hoffnungen und Träume. Drei Straßen vom
Glashaus – dem Spitznamen für das Polizeipräsidium – entfernt, lag
das Blackbird Café. Lena streckte die Hand nach dem Türgriff
aus.
»Lass mich hier
raus«, sagte sie.
»Es ist dunkel. Ich
wollte dich eigentlich vor dem Büro absetzen.«
»Ich muss erst etwas
besorgen. Mein Auto steht noch an der Westside.«
Novak hielt am
Straßenrand. Lena stieg aus und schulterte ihren Aktenkoffer. Dass
der Laptop darin immer schwerer zu werden schien, störte sie nicht.
Im Blackbird Café gab es den besten Kaffee in der Stadt. Sie
beschloss, eine Tasse dort zu trinken und dann noch einen Becher
mit ins Büro zu nehmen.
»Wie willst du dein
Steak?«, fragte Novak.
Die Entscheidung fiel
Lena nicht schwer. »Blau«, erwiderte sie, knallte die Tür zu und
hastete davon.