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Sebastian Lauk konnte sich nicht daran erinnern, jemals so verzweifelt gewesen zu sein. Das ohnmächtige Gefühl, auf den Ablauf der Geschehnisse keinen Einfluss mehr nehmen zu können, schien sich in seinem Körper wie eine erstarrende Flüssigkeit ständig auszuweiten. Er selbst nur noch ein Gehirn in einer unnachgiebigen Hülle, die dem Druck standhalten musste. Ohne die Möglichkeit, aufzugeben oder zurückzuweichen oder einfach nur zu bersten, für immer zu bersten, um alles zu vergessen und erlöst auszulaufen. Er saß auf dem weißen Ledersessel. Ihm gegenüber Anna. Nach stundenlangem Kampf war sie doch noch eingeschlafen. Sie lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen, und wirkte zerbrechlich wie Glas. Sich von ihr unbeobachtet zu wissen, nahm einen gewaltigen Druck von ihm. Wenn Anna ihn anschaute, hatte er stets das Gefühl, ausweichen zu müssen. Gab er diesem Impuls aber tatsächlich nach und entzog sich ihrem Blick, fühlte er sich umgehend schuldig. Vermutlich erging es ihr ähnlich. Sie kannten sich einfach schon zu lange. Zu lange, um sich jetzt noch trösten zu können. Denn in der Wahrheit lag längst kein Trost mehr. Den einzigen Trost bot nur noch die Lüge. Sinnlos, sich etwas vorzumachen. Das Unfassbare war nicht mehr aufzuhalten und würde unweigerlich geschehen. Wenn sich ihre Blicke trafen, spiegelte sich im Gesicht des Gegenübers auch stets diese Erkenntnis, die ganze brutale Wahrheit, völlig ungefiltert, so dass sie kaum zu ertragen war. Der Blick auf die Zukunft fuhr ihnen wie ein Stromschlag in die Netzhaut und von dort aus ins Gehirn, und so versuchten sie, die Augen des Anderen nur flüchtig zu streifen und ihn dennoch nicht zu kränken und mit all dem im Stich zu lassen.
Wenn Anna und er sich berührten, fühlte sich das beunruhigend fremd an, so wie sich in ihrer beider Leben inzwischen alles fremd anfühlte – seit Wochen schon. Als ob man jeden Gegenstand erneut betasten müsste, um zu verstehen, dass der Eindruck, den man bislang von ihm gewonnen zu haben glaubte, nur ein Irrtum gewesen war. Auch das Leder der Couch drückte stärker gegen seine Haut, als er es von früher gewohnt gewesen war. Feindselig fast.
Carola war tot. Selbst falls sie in diesem Moment noch leben sollte, war sie dennoch schon tot. Und mit ihr siebzehn Jahre seines Lebens, und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte als Vater versagt. Hatte es nicht geschafft, seine Tochter zu schützen. Hatte sie stattdessen an ein Raubtier verloren, das sie seit Tagen gefangen hielt und das sie erbarmungslos töten würde. Nur zu dem Zweck, seine eigenen perversen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne Rücksicht auf die Gefühle seines Opfers und auf dessen Familie und auf das, was er in ihrem Leben anrichten würde. Er würde sie alle zerstören. Für immer.
Dieses Gefühl der Wut. Kämpfen zu wollen, ohne zu wissen, mit wem. Dieses Gefühl der Ohnmacht. Zu ahnen, dass Carola laut nach ihm schrie, ohne zu wissen, wo. Stünde er dem Täter jetzt gegenüber, er würde ihn auf der Stelle töten. Er würde sich aufbäumen wie ein Grizzly und mit einem Schrei, der aus seinem Innern hervorbräche wie ein Schrei aus der Hölle, mit dem grauenvollsten Schrei, den er selbst jemals vernommen hätte, würde er nach dessen Kopf greifen und ihn nicht wieder loslassen, und er würde zudrücken mit einer Kraft, die er sich niemals zugetraut hätte, und während der Schädel krachend in sich zusammenfiele, würde er sich wundern, zu welcher Rohheit er fähig wäre, und dann würde er Carola losbinden und sie fest an sich drücken, und er würde ihr zuflüstern: Alles wird gut.
Er erhob sich vorsichtig aus dem Sessel, griff nach dem Handy, das er seit Wochen ständig bei sich trug, und ging zu der Tür, die in die Küche führte. In seinem Beruf als Anwalt würde er nie wieder arbeiten können. Der Gedanke, jemand anderen zu verteidigen, nachdem er seine Tochter nicht hatte verteidigen können, kam ihm abwegig vor. Er würde ganz von vorn anfangen müssen.
Aber mit was?
Und warum?
Die Vorstellung, dass auch Anna ihn verlassen würde, war unerträglich. Aber er war sich sicher, sie würde es tun. Ihr blieb keine andere Wahl. Dass sie sich immer noch liebten, hatte nichts damit zu tun. Sie würde ihn verlassen. Wegen seiner Augen. Wegen des Wissens, das darin lauerte. Weil sie sich nie mehr ins Gesicht sehen könnten, ohne sich gegenseitig Schmerzen zuzufügen. Er spürte, dass Tränen in seine Augen stiegen. Den Rest seines Lebens allein verbringen zu müssen, machte ihm Angst. Allein mit diesem Gefühl in sich, zerbersten zu wollen. Bis vor einigen Wochen war er mit seinem Leben zufrieden, fast schon glücklich gewesen. Das war nun unwiderruflich vorbei. Er bereute jede Minute, die er nicht genossen, und jeden Augenblick, den er sich nicht für immer eingeprägt hatte. Inzwischen war es dafür zu spät. Alles vorbei.
Er zog die Tür hinter sich zu und gab vorsichtig die Klinke frei. Im selben Moment schnurrte das Handy, um die Ankunft einer SMS zu signalisieren. Mit rasendem Puls drückte er die Taste und starrte fassungslos auf das Display.
Carola.
Das war nicht möglich! Oder doch? Carola? Sollte sie ihrem Täter am Ende doch noch entkommen sein? Seine Finger zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, die Nachricht zu öffnen. Es waren nur zwei Sätze, so kurz, dass er sie erfasste, ohne sie lesen zu müssen. Zwei erbarmungslose Sätze, die in sein Leben einschlugen wie eine mächtige Faust und es für immer zerstören würden. Er spürte, dass er schwankte, begriff, dass er um sein Gleichgewicht kämpfen oder sich irgendwo festhalten musste, aber dann gab er sich auf und stürzte schluchzend auf den Fliesenboden.