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Romberg saß nahe dem Fenster und pokerte.
Seitdem er allein lebte und nur noch selten Besuch empfing, waren die Stille und das Nichtstun zu seinen erbitterten Feinden geworden. Sobald er seinem Gehirn zugestand nachzudenken, überfielen ihn die Erinnerungen, die wie hungrige Wölfe an seinen Innereien rissen, bis er die Kontrolle verlor. Anfangs hatte er versucht, die Normalität wiederherzustellen, indem er wieder Erdkunde und Biologie unterrichtete. Schon bald hatte er sich allerdings eingestehen müssen, dass ihm weit mehr abhandengekommen war als Maren und Laura und zwei seiner Finger. Der Mann, der an Silvester erschöpft und übermüdet nach Deutschland zurückgekehrt war, war dem äußeren Anschein zum Trotz nicht dieselbe Person gewesen, die zehn Tage zuvor das Land verlassen hatte, sondern irgendein anderer, eine funktionierende Hülle, die sein bisheriges Leben weiterlebte und ihn fortan in ihrem Innern mit sich herumtrug wie einen Fremdkörper, ohne dass er dagegen Einspruch erheben konnte.
Früher hatte er seinen Beruf geliebt, und auch die Schüler hatten ihn respektiert und geschätzt. Jetzt aber kam ihm seine Tätigkeit sinnlos vor. Das Wissen, das er den Kindern vermitteln sollte, erschien ihm plötzlich banal. Hauptstädte, Flüsse und Gebirge waren nicht mehr als Worthülsen, und erlerntes Wissen verstellte nur den Blick auf das Wesentliche. Mütter, die sich um die Leistungen ihrer Kinder sorgten, wirkten auf ihn hysterisch und wirklichkeitsfremd. Alles um ihn herum schien sich in ein surreales Bild verwandelt zu haben. Hieronymus Bosch. Und überall lauerte der Tod.
Wenn in der Pause Schüler kreischten, tauchten Bilder aus der Hölle vor ihm auf, schreiende Menschen, die um ihr Leben kämpften, übereinandergeschichtete Trümmer und endlose Reihen von Leichen, die einen Geruch verströmten, den er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Wenn sein Blick auf die Landkarte fiel, trieb das breite Blau der Ozeane seinen Puls an, und er hatte Angst, vor den Augen der Schüler weinend zusammenzubrechen. Und immer wieder Laura und dieser Blick, der sich in sein Gehirn eingeätzt hatte und den er einfach nicht mehr loswerden konnte. Manchmal musste er sich über Tage krankschreiben lassen. Ohne greifbaren Grund. Kein Fieber, keine Schmerzen, kein Infekt. Nur die Angst. Die Geduld seiner Kollegen, die seine Ausfälle auffangen mussten, war ihm peinlich. Ein Jahr später gab er auf.
Time is a healer. No, it isn’t.
Seither war er im Vorruhestand, was die Tage noch länger werden ließ. Anfangs, als sein Hund Puschkin noch lebte, hatte ihn das zu täglichen Spaziergängen gezwungen. Als das Tier schließlich starb, war damit auch ein Stück von ihm verloschen, nur ein weiteres von vielen, und von Tag zu Tag war es ihm schwerer gefallen, sich zu beschäftigen und die eigenen Gedanken auf Abstand zu halten. Auch seine Freunde zogen sich zunehmend von ihm zurück. Anfangs bemühten sie sich noch, ihn aufzumuntern, hofften, ihn aus der Welt, in der er nun lebte, in die ihre zurückholen zu können, in die normale Welt, in der alles so war wie bisher. Wo sie weiterhin ihren Spaß haben und über Banalitäten reden und alles Unangenehme verdrängen wollten. Aber ihre Erwartungen an ihn wurden dauerhaft enttäuscht. Er war wie ein Stachel in ihrem Fleisch. Gelebte Anti-Verdrängung. Eine Wunde, die einfach nicht heilen wollte. Am Ende waren sie überfordert von ihm. Den meisten von ihnen nahm er es nicht einmal übel. Manchen dagegen schon. Von da an war er fast völlig allein. Nur seine Mutter und sein Bruder Achim standen zu ihm. Magnetismus der Gene. Ihnen blieb keine andere Wahl. Sein Vater war tot, und er hatte sich oft gefragt, was er seinem gebrochenen Sohn geraten hätte.
Du wirst darüber hinwegkommen, Junge! Das Leben geht weiter.
No, Dad, it doesn’t.
Willkommen im Land der Ahnungslosen!
Irgendwann begann er, Online-Poker zu spielen. Seither spielte er fast ununterbrochen. Letztendlich war Poker nicht sonderlich anspruchsvoll. Hatte man erst einmal die logischen Zusammenhänge begriffen, wirkte es fast schon stereotyp. Aber es lenkte ihn ab und lehrte ihn, seine Gefühle zu kontrollieren. Im ersten Jahr, als er von den Feinheiten noch nichts verstanden hatte, hatte ihn dies monatlich hundert Dollar gekostet, im zweiten Jahr nur noch zwanzig, im dritten Jahr stellten sich dann erste Gewinne ein, die er im vierten Jahr wieder verlor. Gerade jetzt war er achthundert Dollar im Minus. Ein Auf und Ab ohne jeden Sinn. Aber das Spiel hielt seine Gedanken im Zaum. Und genau darin lag der Gewinn.
Manchmal fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er Carmen Mingus bereits fünf Jahre früher getroffen hätte. Die ersten beiden Therapeuten, die er aufsuchte, hatten ihm auch nach Hunderten von Stunden nicht weiterhelfen können. Psychoanalytiker, die seinem Schmerz mit Geduld begegneten und nichts von ihm einforderten. Fatale Fehlbesetzungen. Irgendwann hatte er aufgegeben, hatte sich zwei Jahre lang mit seinem Zustand abgefunden und von morgens bis abends Poker gespielt. Überflüssige Geldbewegungen in einem sinnlos gewordenen Leben. Durchbrochen von Flashbacks und Panikattacken.
Erst nachdem er mehrere Dutzend Tabletten in einem Liter Wodka aufgelöst und das trübe Gemisch in sich hineingeschüttet hatte, hatte Achim ihn bedrängt, Carmen Mingus aufzusuchen. Sie sei gut, hatte er gesagt, und sie sei auf Traumabehandlung spezialisiert und er habe von ihr in der Zeitung gelesen. Zwei Wochen lang hatte er keine Ruhe gegeben. Achim war es auch gewesen, der ihn gefunden und bis zum Eintreffen des Notarztes wach gehalten hatte. Romberg erinnerte sich an die heftigen Ohrfeigen und an sein infernalisches Geschrei: »Schlaf bloß nicht ein, du Arsch!«, wieder und wieder, und dass sich inmitten des Nebels in seinem Kopf der Gedanke verdichtet hatte, dass dies alles unfreiwillig komisch wirken musste, zwei Brüder, die von Kindheit an eine innige Beziehung verband und welche die letzten Minuten miteinander teilten, indem der Ältere auf den Jüngeren einprügelte und ihn mit wüstesten Beschimpfungen malträtierte. Nie zuvor hatte er Achim so wütend und verzweifelt erlebt, und es sollte Tage dauern, bis seine linke Wange vollständig abgeschwollen war.
Carmen Mingus hatte ihn nie zu trösten versucht. Denn Trost war ein Fehler. Nichts weiter als ein Taschenspielertrick für Feiglinge, die sich das Entsetzliche nicht eingestehen wollten. Bei ihrem ersten Treffen hatte sie sich geduldig seine Geschichte angehört, ohne eine einzige Zwischenfrage, und zwischenzeitlich war er sich sicher gewesen, in ihren grünen Augen Tränen zu erkennen. Danach hatte sie sich zurückgelehnt, und sie hatten gemeinsam geschwiegen.
Seitdem ging es wieder bergauf mit ihm.
Die Poker-Software teilte ihm zwei Neunen zu. Ein Spieler namens Shark007 bot schon vor dem Flop zwei Dollar. Romberg bewegte den Cursor auf den Call-Button und drückte die linke Maustaste. Zwei andere Spieler callten ebenfalls. Der Rest stieg aus.
Er dachte an Carola, die auf Lauras Daunendecke gebettet in der Tiefkühltruhe lag. Allein in der Dunkelheit, mit einem merkwürdig dreinblickenden Hasen im Arm, der ihr in der eisigen Kälte Gesellschaft leistete.
Was für ein sentimentaler alter Narr er doch war!
Tot war tot. Das war alles. Die ganze Wahrheit, die er an seine Schüler nicht hatte weitergeben dürfen und auch nicht an die ehrgeizigen Mütter, die nicht wussten, wie viel Glück sie hatten. Tot war tot. Nicht mehr und nicht weniger.
Auf dem Bildschirm wurden die drei Karten des Flops ausgeteilt, ein As, eine Dame und eine Neun. Zwei der Karten in Karo. Was ihm einen Drilling verschaffte – nicht schlecht, aber alles andere als sicher. Shark007 erhöhte um fünf Dollar, ein weiterer Spieler stieg aus, und der dritte, der sich 3Aces18 nannte, ging, ohne zu zögern, mit. Romberg spielte an einem Fünfzig-Dollar-Tisch. Er hatte schon einige Spiele gewonnen und verfügte über ein Kapital von zweiundsiebzig Dollar. Obwohl ein Flush drohte und er sich durchaus auch drei Assen oder drei Damen gegenübersehen konnte, erhöhte er auf zwanzig. 3Aces18 passte und Shark007 dachte nach. Also keine drei Asse. Sonst würde er umgehend callen. Vermutlich doch ein Flushdraw. Und nun fragte er sich, woran er mit Romberg war.
Der Mörder würde weitermorden. Er würde wütend werden und sich ein neues Opfer suchen, und die Polizei würde es nicht verhindern können. Offensichtlich hatten die Indizien bislang nicht ausgereicht, um ihn zu überführen, und die Spuren, die jetzt vielleicht hinzugekommen wären und welche die Ermittler weitergebracht hätten, gab es nicht mehr. Es gab nicht einmal einen Tatort. Es gab keine Leiche, keine Spuren, nichts. Das alles nur, weil er sich eingemischt hatte! Er fühlte sich wie ein Idiot. Schlimmer noch, er fühlte sich schuldig.
Die Software deckte den Turn auf, einen Karobuben, und der Shark ging all in. Falls er von Anfang an auf den Flush aus gewesen war, dann war er jetzt kaum noch zu schlagen. Es sei denn, er bluffte. Romberg zögerte. Sollte er passen? Trotz der drei Neunen? Auf die Gefahr hin, mit dem besseren Blatt ausgestiegen zu sein? Oder doch lieber nachsehen? Und seine zweiundsiebzig Dollar an das Haifischmaul verfüttern? Er drückte auf Call.
Curiosity kills the cat.
Um die Spannung zu erhöhen, wurden beide Blätter aufgedeckt. Der Shark hatte ein As und einen König, beide in Karo. Der Flush.
Du dummer Fisch, dachte Romberg, den jetzt nur noch ein Full House oder ein Vierling retten konnte, doch mit einem Mal war er abgelenkt, und in seinem Denken überkreuzten sich zwei Ereignisse und verschmolzen zu etwas Neuem.
Verdammt! Wie hatte er das nur übersehen können?
Natürlich hatte er Mist gebaut. Er hätte Carola Lauk nie anrühren dürfen. Indem er in die Geschehnisse eingegriffen hatte, hatte er deren Ablauf in eine andere Richtung gelenkt. Bei den ermittelnden Polizeibeamten würde das Verschwinden der Leiche eine erhebliche Verwirrung nach sich ziehen. Vielleicht auch falsche Schlussfolgerungen. Bei einem weiteren Mord würde er sich die Frage stellen müssen, ob es nicht vielleicht seine Schuld war, dass sich der Mörder noch immer in Freiheit befand. Aber wie würde der Täter auf den Diebstahl der Leiche reagieren? Würde er seine Neugier zügeln können und sich einfach das nächste Opfer suchen? Oder würde er sich trotz des Risikos, in eine Falle zu tappen, nochmals dem Tatort nähern, um herauszufinden, wo das Mädchen abgeblieben war? Auf jeden Fall würde er wütend sein, da war Romberg sich sicher. Er wusste nicht viel über Serienmörder, aber dass der Täter nicht erfreut sein würde, dass ihm jemand die Show vermasselt hatte, stand für ihn fest. Der Mörder würde wiederkommen. Würde sich wie Romberg mit seinem Drilling nicht einfach geschlagen geben wollen. Curiosity kills the cat. Und Romberg würde ihn erwarten. Mit den besseren Karten. Und damit alles wiedergutmachen. Der Täter schlug an den Wochenenden zu.
Ihm blieb also mindestens eine Woche Zeit.
Mit dem River wurde die letzte Karte aufgedeckt. Die vierte Neun. Romberg glotzte fassungslos auf den Bildschirm. Unfassbar! Er hatte tatsächlich gewonnen. Einen Moment lang war er wie gelähmt, dann bewegte er den Cursor zum Exit-Button.