16:38

Wie sich später herausstellte, begann alles mit einem Telefonat. Gegen fünfzehn Uhr rief Anna Lauk ihre Mutter in Nürnberg an und durchbrach schluchzend ihr Schweigen. Sie redete ununterbrochen, und Carolas Großmutter hörte betroffen zu. Mit der Nachricht vom Tod ihrer Enkelin hatte Gisela Lauk gerechnet, aber was sie jetzt erfuhr, traf sie wie ein Schlag. Am Ende weinten sie beide. Als Anna schließlich auflegte, blieb in Gisela Lauk das vernichtende Gefühl zurück, alles verloren zu haben, ihre gesamte Biographie, siebzig Jahre gelebtes Leben. Obwohl sie ihrer Tochter hatte schwören müssen, ihr Wissen noch für einige Tage für sich zu behalten, konnte sie die Stille, die sich mit dem Ende des Gesprächs in der Wohnung ausbreitete, nicht lange aushalten. Furchtbare Bilder tauchten in ihr auf, und die Wände des Wohnzimmers schienen ihre Gedanken wie ein Echo hundertfach zurückzuwerfen. Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie allein. Schon an gewöhnlichen Tagen fühlte sie sich einsam. Gregor war bereits fünf Jahre tot, aber die Wunde in ihrem Leben wollte einfach nicht verheilen. Früher hatten sie und Gregor oft stundenlang geredet. Seit dem Tag jedoch, an dem er sie allein zurückgelassen hatte, blieben ihre Worte Gedanken, die sie mit niemandem teilen konnte und stattdessen für sich behalten musste, eine Art seelische Verstopfung, die häufig schmerzte. Gleichzeitig war sie froh, dass Gregor die Ereignisse der letzten Wochen nicht mehr hatte miterleben müssen und dass er sich, als er starb, mit dem Gedanken trösten konnte, glückliche Nachkommen zu hinterlassen.

Wie sich später herausstellte, rief sie eine halbe Stunde nach dem Telefonat ihre engste Freundin an, die ihr selbstverständlich Stillschweigen zusicherte, kurz darauf aber ihren Sohn einweihte, der es wiederum seiner Frau erzählte.

Kurz nach sechzehn Uhr geriet die Lawine ins Rollen. Und sie war durch nichts mehr aufzuhalten.

Wie sich später herausstellte, erreichte der erste von vier Anrufen die ARD. Ein männlicher Anrufer, der seinen Namen nicht nannte und der anschließend auch noch den Mannheimer Morgen und zwei überregionale Zeitungen informierte. Der sich anscheinend der Illusion hingab, dass seine Nummer nicht würde ermittelt werden können.

Um sechzehn Uhr vierzig klingelte bei der SOKO das interne Telefon. Bleskjew nahm das Mobilteil aus der Schale und hielt es sich ans Ohr. Noch während sie zuhörte, suchte sie Lena Bölls Blick. Nach wenigen Sekunden war das Telefonat bereits vorbei.

»Sie und Herr Krüger sollen sofort zum Ö kommen«, rief sie quer durch den Raum. »Scheint dringend zu sein.«

Zwei Minuten später traten sie durch die Tür von Seiblings Büro. Der Ö hielt sich einen Telefonhörer an sein Ohr und schenkte ihnen kaum Beachtung. Unweit des Schreibtischs saß Mildenberger und nickte ihnen betont grimmig zu.

»Mir ist natürlich klar, dass Sie einen Teil dieser Informationen nicht weitergeben können«, stellte eine sonore Männerstimme verständnisvoll fest. »Aber andererseits hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, über die aktuellen Entwicklungen informiert zu werden.«

Lena Böll erkannte die Stimme sofort. »Theo Brenneisen«, flüsterte sie Krüger ins Ohr. »ARD.« In den letzten Wochen hatte sie wiederholt mit Brenneisen telefoniert. Zwei Mal hatte sie ihn auch persönlich getroffen. Dass er um diese Zeit anrief, konnte nichts Gutes bedeuten. Auch Krüger machte prompt ein besorgtes Gesicht.

»Ja, natürlich«, stimmte Seibling zu. Obwohl der Lautsprecher eingeschaltet war, presste er auch weiterhin den Hörer an sein Ohr. »Ich würde es aber dennoch bevorzugen, dies im Rahmen einer Pressekonferenz zu tun.« Er dachte kurz nach. »Wie wäre es mit morgen Mittag? Um vierzehn Uhr?«

»Nun ja … natürlich … eine Pressekonferenz wird unumgänglich sein«, räumte Brenneisens Stimme ein. »Aber andererseits glaube ich nicht, dass ich der Letzte sein werde, der Sie heute anrufen wird. Die Meldung wird zweifellos einen gewaltigen Wirbel verursachen. Im Gegensatz zu den Privatsendern legen wir aber großen Wert auf eine seriöse Berichterstattung. Insofern böte sich Ihnen die Möglichkeit, die Informationen schon im Vorfeld zu kanalisieren. Um wilden Spekulationen prophylaktisch die Grundlage zu entziehen.« Sein Tonfall klang fast hypnotisch.

Seibling warf Lena Böll einen fragenden Blick zu. Wenn Brenneisen Bescheid wusste, würde ein hartnäckiges Schweigen die Lage nur noch zusätzlich verschärfen. Daher entschied sie sich für ein zustimmendes Nicken.

»Eine seriöse Darstellung läge – wie Sie sich denken können – auch in unserem Interesse«, stellte Seibling fest. »Ganz besonders wäre uns natürlich daran gelegen, den Mörder nicht unnötig zu provozieren. Ich kann nur hoffen, dass uns die Medien in dieser Überlegung so weit wie nur möglich folgen werden.«

»Kann ich diese Äußerung dahingehend deuten, dass zwischen dem Täter und der Kripo tatsächlich Kontakt besteht?«

Lena Böll nickte erneut. Eines der beiden Mobiltelefone, das sie in einem Bauchgurt am Körper trug, begann zu vibrieren. Wahrscheinlich Michael, der ihr seit gestern ein Dutzend Nachrichten hinterlassen hatte. Teils wütend, teils flehend, am Ende resigniert.

»Ja, das trifft zu.«

»Zu der Kripo als Institution oder zu Frau Böll als Person?«

Sie zögerte kurz, hielt dann aber dennoch zwei gestreckte Finger in die Luft. »Wohl eher Letzteres«, entgegnete der Ö. Mildenberger rührte sich nicht, doch ihm war anzusehen, dass ihm die Antwort missfiel.

Sie legte die Finger auf den Gurt, um die Schwingung zu lokalisieren. Wie sie erwartet hatte, war es nicht Sebastians Lauks, sondern ihr eigenes Handy, welches einen Anruf signalisierte.

»Und auf welchem Weg kam der Kontakt zustande?«

Sie schüttelte energisch den Kopf. Das Vibrieren über ihrer Hüfte brach ab.

»Tut mir leid, aber im Interesse unserer Ermittlungen kann ich Ihnen dazu vorerst nichts sagen.«

Er macht das wirklich gut, dachte sie. Seibling war Erster Hauptkommissar. Eigens dafür abgestellt, solche kritischen Situationen zu regulieren und selbst dann noch stark und optimistisch zu wirken, wenn die Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden.

»Okay. Das kann ich durchaus akzeptieren. Der Anrufer behauptete weiterhin, dass Carola Lauks Tod inzwischen zweifelsfrei feststeht. Können Sie das bestätigen?«

»Ja«, antwortete Seibling, ohne Blickkontakt zu suchen. »Die Leiche wurde zwar bislang nicht gefunden, aber wir müssen leider davon ausgehen, dass das Mädchen nicht mehr lebt.«

Für ein paar Sekunden blieb es still. Brenneisen schien nachzudenken. Mildenberger nutzte die Pause, um sich den Schweiß abzutupfen.

»Nur, dass ich Sie richtig verstehe: Es gibt keine Leiche, aber Sie sind sich dennoch sicher, dass sie inzwischen tot ist?«

»Ja, genau.« Der Ö warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu, aber Lena Böll schüttelte dennoch den Kopf. Seiblings linke Wange war leicht angeschwollen und bläulich verfärbt, und ihr fiel ein, dass er in seiner Freizeit boxte. Während sie den Hoffmann-Fall bearbeitet hatte, war er zu einer der Pressekonferenzen mit einem blauen Auge erschienen, was neugierige Fragen nach sich gezogen hatte.

»Das ist nur schwer zu verstehen«, stellte Brenneisen fest. »Existieren denn Fotos? Oder Videos? Oder hat Sie der Mörder persönlich informiert?«

»Wie gesagt. Über gewisse Details muss ich derzeit noch schweigen.«

»Nun gut. Und das Gerücht, ein zweiter Täter habe Carolas Leiche nachträglich … hmm … entwendet … trifft das ebenfalls zu?«

Lena Böll streckte umgehend den Daumen nach oben.

»Ja, das entspricht leider den Tatsachen. So wie es aussieht, scheint der Körper bereits am Sonntagmorgen irgendwo in Mannheim abgelegt worden zu sein, und irgendjemand … vermutlich ein Zufallstäter … hat das Mädchen gefunden und aus für uns nicht nachvollziehbaren Gründen … abtransportiert.«

Lena Böll deutete mit den Fingern auf ihre Augen und bewegte stumm ihre Lippen.

»Insofern wäre ein Aufruf an mögliche Zeugen, sich umgehend bei uns zu melden, extrem hilfreich.« Da er sich nicht sicher war, ob er die Geste richtig gedeutet hatte, schaute er Böll fragend an. Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. »Ich nehme an, an die Medien zu appellieren, Carolas Eltern vorerst noch zu schonen, wäre nur wenig erfolgversprechend?«

»Tut mir leid. Aber das wäre vermutlich so, als versuchte man eine Bisonherde mit einem Stoppschild aufzuhalten.« Brenneisens Bedauern klang echt. »Trifft es zu, dass man dem Leichendieb innerhalb der SOKO bereits einen Namen gegeben hat?«

»Ja. Um Verwechslungen zu vermeiden und den Überblick zu behalten. Wir nennen ihn Nummer Zwei.«

»Nummer Zwei«, wiederholte Brenneisen, und man hörte, wie er die Seite seines Notizbuches umblätterte.

»Haben Sie denn schon irgendwelche Hinweise, wer der Mann sein könnte?«

»Nein, keinerlei Hinweise bisher. Wie Sie sich vorstellen können, stellt die Entwicklung auch für uns eine völlige Überraschung dar. Nach Aussage von Frau Böll gibt es in der Geschichte der Kriminalistik keinen einzigen Fall, in dem so etwas vorgekommen wäre. Wir arbeiten derzeit fieberhaft daran, herauszufinden, wer diese Person sein könnte. Da wir aber leider nicht wissen, wo die Leiche abgelegt wurde, können wir verständlicherweise auch keine Spuren sichern.«

Brenneisen zögerte kurz, dann unternahm er einen zweiten Versuch. »Und woher wissen Sie, dass die Leiche tatsächlich verschwunden ist? Hat sich der Mörder bei Ihnen beschwert?«

»Ich bedaure. Aber dazu kann ich Ihnen heute Abend noch nichts Näheres sagen. Es tut mir leid. Ich muss allmählich Schluss machen. Für die heutigen Nachrichten dürfte das wohl erst einmal ausreichen. Eine Frage hätte ich allerdings auch noch.«

»Ja?«

»Wissen Sie, wer Sie angerufen hat? Schließlich ist es nicht ganz auszuschließen, dass es sich dabei um den Täter handelte.«

»Die Rufnummer wurde unterdrückt. Aber ich kann Ihnen den exakten Zeitpunkt nennen, zu dem er hier angerufen hat. Sechzehn Uhr neunzehn. Ich kann Ihnen auch gern eine Liste der hier eingegangenen Anrufe zusammenstellen lassen. Das dürfte wohl ausreichen, um die Nummer zurückzuverfolgen.

»Durchaus möglich. Ich muss jetzt los.«

»Ja, viel Glück. Und danke für das Gespräch. Wir sehen uns morgen früh.«

Nachdem Seibling aufgelegt hatte, klingelte das Telefon erneut, aber er wies die Zentrale an, alle weiteren Anrufer auf die Pressekonferenz zu vertrösten. Außer den Redakteur des Mannheimer Morgen, den er später noch persönlich zurückrufen würde.

Noch während der Ö telefonierte, wandte sich Mildenberger an Krüger und Böll.

»Jetzt haben wir den Salat. Früher oder später musste das wohl passieren. Wer, glauben Sie, hat die Presse informiert? Sebastian Lauk?«

»Gut möglich«, antwortete Lena Böll. »Zumindest stand er unserem Plan ziemlich skeptisch gegenüber.« Sie zog Sebastian Lauks Handy aus dem Bauchgurt, klickte das Telefonbuch an und drückte das L. Es war eine Geheimnummer, die nur wenige kannten. Nach Carolas Entführung war es wegen der unzähligen Anrufe notwendig geworden, die bisherige Nummer der Lauks stillzulegen. Nach dem dritten Freizeichen meldete sich die Stimme von Sebastian Lauk.

»Ja?«

»Böll. Guten Tag, Herr Lauk. Tut mir leid, dass ich Sie schon wieder belästigen muss, aber es ist wichtig.«

»Schon gut«, sagte er leise, und seine Stimme zitterte. »Was gibt es? Schlechte Neuigkeiten? Soll ich mich setzen?«

»Nein. Ich denke, das wird nicht nötig sein.«

Dennoch spürte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Schon das Gespräch am Mittag hatte sie stark mitgenommen, stärker als sie es befürchtet und vorausgesehen hatte. Danach hatte sie gegen den Impuls ankämpfen müssen, der eigenen Skepsis nachzugeben und sich resigniert fallen zu lassen. Genaugenommen hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr daran geglaubt, dass das Schweigen der Lauks tatsächlich dazu beitragen könnte, den Täter zu einem Fehler zu verlocken. Insofern hatte sie ihnen etwas völlig Unnötiges abgefordert und dennoch darauf bestanden.

Nummer Eins war einfach zu schlau. Am Vormittag hatte er sich für drei Sekunden eingeloggt, um Lena Bölls Antworten abzurufen. Für drei Sekunden! Und das in Heidelberg, auf dem belebtesten Platz der Stadt. Leonhardt hatte nur müde den Kopf geschüttelt und hatte das ausgesprochen, was alle dachten: »Bismarckplatz. Keine Chance. Der strategische Super-GAU.« Dennoch hatten sie mehrere Streifenwagen losgeschickt. Wie immer ohne Erfolg.

»Wir wurden gerade vom öffentlichen Fernsehen angerufen«, teilte sie Lauk sachlich mit. »So wie es aussieht, sind vor etwa einer halben Stunde Details des Falles an die Öffentlichkeit gelangt. Unter anderem auch die Existenz von Nummer Zwei.«

»O mein Gott!«

»Ja. Allerdings. Da Sie eine Geheimnummer haben, kommt man auf diesem Weg nicht an Sie heran. Aber ich fürchte, dass sie schon bald an Ihrer Haustür klingeln werden.«

»O mein Gott«, sagte Lauk erneut. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Wenn Sie dem ganzen Rummel entgehen wollen, müssen Sie dort weg. Oder Sie stellen die Klingel ab und bleiben, ganz gleich, was geschieht, von nun an im Haus. Sollte Ihnen die zweite Lösung lieber sein, schicke ich Ihnen umgehend einen Streifenwagen vorbei.«

»Danke«, sagte er, und es klang, als würde sie seine Stimme umarmen. »Das ist nett von Ihnen.«

»Da ist noch etwas«, fügte sie vorsichtig hinzu.

»Ja?«

»Es gibt nur wenige Menschen, die von der aktuellen Situation wissen. Sie und Ihre Frau, die SOKO und der Täter. Bevor wir nach dem Anrufer fahnden, wollte ich fragen … nun ja …«

»… ob wir mit jemandem gesprochen haben?«, setzte er den begonnenen Satz fort. »Beziehungsweise ob ich es war, der das alles in Gang gesetzt hat?« Seine Stimme klang gekränkt.

»Ja. Tut mir leid.«

»Nein, ich war es nicht«, brach es aus ihm heraus. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Anna es gewesen sein könnte.«

»Könnten Sie sie vielleicht dennoch fragen? Nur, um sicherzugehen.«

Krüger, Seibling und Mildenberger ließen sie während der gesamten Zeit nicht aus den Augen. Lena Böll spürte, wie sich ihr Nacken verspannte.

»Moment«, sagte Lauk. Ein lautes Klacken signalisierte, dass er das Telefon ablegte. Sie konnte hören, wie sich seine Schritte eilig entfernten. Eine Minute später kehrten die Schritte zurück.

»Nein. Sie hat mit niemandem darüber gesprochen.«

Lena Böll zögerte kurz. Der Klang von Lauks Stimme ließ sie darauf vertrauen, dass er selbst die Wahrheit sagte. Aber war auch Verlass auf die Aussage seiner Frau? Trotz ihrer Zweifel bedankte sie sich freundlich und legte auf.

»Und? Waren sie es?«, wollte Mildenberger wissen.

»Angeblich nicht.«

»Angeblich?«, fragte Krüger.

»Ja. Der Vater klang völlig glaubwürdig, aber die Mutter habe ich leider nicht persönlich gesprochen.«

Mildenberger verschränkte die Finger ineinander und streckte die Arme nach vorn, bis die Gelenke lautstark knackten. »Aber wer war es dann? Einer vom Team? Oder der Täter selbst?«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Warum sollte der Täter sich selbst als bestohlenen Mörder diffamieren? Nur um uns in der Öffentlichkeit unter Druck zu setzen? Wohl eher nicht.«

»Also einer von uns?«

»Daran will ich erst gar nicht denken.«

»Wir müssen den Anrufer unbedingt identifizieren«, stellte Krüger sachlich fest. Nun war er es, der eine Nummer wählte. »Ich gebe Leo Bescheid, damit er umgehend loslegen kann.«

»Tun Sie das!«, stimmte ihm Mildenberger zu. »Und informieren Sie Holzwirth, dass er sich bereithalten soll.«

Seibling zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. »Holzwirth? Ist das denn nötig?« Holzwirth war der Leiter des Sondereinsatzkommandos.

»In diesem Fall schon!«, erwiderte Mildenberger, und seine Miene ließ erkennen, dass er von seiner Entscheidung auf keinen Fall abrücken würde. Während Krüger telefonierte, wandte er sich an Lena Böll. »Irgendeine geniale Idee, die meinen Kopf retten könnte? Momentan bin ich dankbar für jeden Tipp, der dazu beitragen kann, dass ich den morgigen Tag heil überstehe.«

»Wir werden uns optimal vorbereiten müssen.«

»Aha. Das nenne ich mal wirklich eine geniale Idee! Warum bin ich bloß nicht selbst darauf gekommen? Eigentlich hatte ich mir ein paar aufmunternde Worte erwartet, aber Sie schauen mich an, als wüchse mir ein gewaltiges Krebsgeschwür aus der Stirn. Mit so viel Trost habe ich wirklich nicht gerechnet.« Er griff in die Brusttasche seines Hemdes, brachte eine Zigarette zum Vorschein und zündete sie an.

»Auch eine?«

Als sie nickte, beugte er sich nach vorn, reichte ihr eine Zigarette und gab ihr anschließend Feuer. Als er sich zurücklehnte, hob er den linken Arm und musterte angewidert den großen Schweißfleck in seiner Achselhöhle. »Igitt. Ich sehe aus wie ein Schwein. Haben wir noch irgendeinen Trumpf im Ärmel?«

»Falls nicht tatsächlich er es war, der angerufen hat, wohl eher nicht.«

»Und Nummer Zwei? Schon irgendeine Idee zu ihm?«, wollte Seibling wissen.

Ihr privates Handy vibrierte erneut. Was Mildenberger nicht entging, aber er verkniff es sich zu fragen.

»Nun ja, was sein Alter und seine Ortskenntnis anbelangt, gilt für ihn das Gleiche wie für Nummer Eins. Er war schon frühmorgens in Mannheim unterwegs, und das an einem Sonntag, was nur bedeuten kann, dass er hier wohnt. Vermutlich ein Single, denn die Entscheidung, die Leiche abzutransportieren, muss völlig spontan getroffen worden sein, und jemand mit Familie bringt nicht einfach mal kurz eine Tote mit nach Hause.«

Krüger, der seine Telefonate beendet hatte und wieder zu Ihnen gestoßen war, grinste breit.

»Über seine Intelligenz kann ich derzeit nichts sagen und auch nicht über seine Motivation, aber eines steht felsenfest: Er hat wirklich Mumm.«

»Na toll, dann bringt mich zumindest kein Weichei zur Strecke.« Mildenberger sog sich den Rauch tief in die Lungen und blies den Qualm mit dicken Backen bis in die Mitte des Raums. »Ach, was soll’s? Shit happens. Und nach meiner Pensionierung bleibt mir immer noch mein Garten.«