17:55

Carmen Mingus hatte ihre neue Sekretärin eindringlich darauf hingewiesen, dass eine laufende Therapiestunde auf keinen Fall unterbrochen werden dürfe, es sei denn im Falle eines Brandes oder einer vergleichbaren Katastrophe. Dass es nun dennoch an die Tür klopfte, konnte daher nur bedeuten, dass außerhalb des Behandlungsraumes etwas Bemerkenswertes geschehen sein musste. Etwas, das keinen Aufschub duldete.

»Ja?«, rief sie so laut, dass man sie auch jenseits der geräuschgedämpften Tür hören konnte.

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und gab den Blick auf Rosas rundes Gesicht frei, welches erkennbar angespannt wirkte. »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber hier draußen ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen möchte.«

»Aha«, sagte Carmen Mingus. »Hat dieser Mann auch einen Namen?«

»Vermutlich schon. Aber er hat sich geweigert, ihn mir zu nennen. Er ist unglaublich groß und … kräftig … sehr kräftig.«

Carmen Mingus überlegte, welcher ihrer Patienten Rosa derart in Angst und Schrecken versetzt haben könnte, dass ihre Stimme zitterte. Spontan fielen ihr nur zwei Personen ein, die dafür in Frage kamen. Davon war einer Soldat, und ein Soldat wäre vermutlich nicht stur genug, die Nennung seines Namens zu verweigern. Der zweite Mann schon. Ihn allerdings hatte sie seit Jahren nicht gesehen.

»Ist er tätowiert?«

»Ja, fast überall«, bestätigte Rosa ihren Verdacht. »Nur nicht im Gesicht.«

»Kleine rote Flammen am Hals?«

»Ja, genau.«

»Er soll warten. In fünf Minuten sind wir hier fertig.« Sie lächelte Rosa aufmunternd zu. »Keine Sorge. Er ist nicht ganz so gefährlich, wie er aussieht.«

Die Sekretärin schien ihr nur bedingt Glauben schenken zu wollen, schloss aber dennoch artig die Tür. Carmen Mingus wandte sich wieder ihrem Patienten zu, einem Mann Mitte vierzig, der sie abschätzend musterte.

»Wird es Ärger geben?«, wollte er wissen.

»Nein, nein«, versicherte sie schmunzelnd. »Sie müssen mich nicht beschützen.«

Sie wusste, was es ihm bedeuten würde. Ihr in einer Gefahrensituation beizustehen. Sie zu retten. Wenn es erforderlich wäre, hier und jetzt, würde er keine Sekunde zögern, sein Leben für sie zu opfern. Nicht ihr zuliebe, sondern um seiner selbst willen. Um aus der Ohnmacht auszubrechen. Um etwas wiedergutzumachen. Etwas, was sich nicht wiedergutmachen ließ.

Clemens Schroth war Polizist und hatte schon viel erlebt. Vor fünf Wochen hatte ihn die Einsatzzentrale nachts zu einer Studentenwohnung geschickt. Eine junge Frau war dort erhängt aufgefunden worden. Nicht sein erster Selbstmord. Als er die Stufen in den dritten Stock hinaufstieg, fühlte er sich innerlich vorbereitet. Malte sich den Anblick im Voraus aus, um gegen die Wirklichkeit gewappnet zu sein. Aber die Wirklichkeit ist erfindungsreich. Sie kennt üble Tricks. Als er vor der Tür der Wohnung stand, stutzte er kurz. Den Namen auf dem Klingelschild hatte er schon irgendwo gehört. Dann trat er über die Schwelle und er sah den Freund seiner Tochter, der ihm mit verweinten Augen ungläubig entgegenstarrte, und hinter ihm, an der Decke festgezurrt, baumelte noch immer die Tote: sein eigenes Kind.

»Wir können heute etwas früher aufhören, wenn Sie möchten«, ließ Schroth sie wissen.

Diese Genügsamkeit. Diese Geduld im Umgang mit einem Leben, auf das man eigentlich wütend einprügeln sollte.

Sie dachte an Manfred Gold, der draußen auf sie wartete. Sie war neugierig, und ihrem Patienten würde es ein gutes Gefühl geben, ihr einen Gefallen tun zu können.

»Wenn das für Sie in Ordnung geht?«, erwiderte sie sanft.

»Ja, natürlich. Kein Problem.«

Als sie sich mühsam von ihrem Sessel erhob, schien sie jedes einzelne Gramm ihres Körpergewichts zurückhalten zu wollen. Ihr fiel ein, dass sie mit einer Freundin zum Essen verabredet war, und sie nahm sich vor, sich von Gold auf keinen Fall davon abhalten zu lassen. Länger als unbedingt erforderlich schüttelte sie ihrem Patienten die Hand und schaute ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte. Nur zwei Sekunden später wurde die Tür bereits wieder aufgerissen, und Rosa fragte nach, ob sie den Mann im Wartezimmer gleich jetzt hereinschicken solle.

Carmen Mingus verdrehte die Augen. »Na schön. Bevor er Sie am Ende noch mit Haut und Haaren verschlingt.«

Kurz darauf ließ sich Manfred Gold in dem großen Ledersessel nieder, der noch immer die Wärme des traurigen Polizisten in sich trug. Er grinste sein breitestes Gangstergrinsen, wirkte aber gleichzeitig unsicher, so als fragte er sich, ob er nicht auf der Stelle wieder gehen sollte.

»Ist lange her«, sagte er leise.

Carmen Mingus nickte. »Sie haben meine Sekretärin zu Tode erschreckt«, sagte sie streng.

»Das wollte ich nicht«, versicherte er verdutzt. In seinem Gesicht glaubhaft ein Ausdruck des Bedauerns. »Vermutlich ist sie an ein anderes Publikum gewöhnt.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber an meinem Aussehen kann ich leider nichts ändern.«

Sie musterte ihn kühl. Er trug ein schwarzes Hemd, dessen Knopfleiste bei jeder Bewegung gegen seine Muskeln anzukämpfen schien. Personifizierte Kraft. Früher auch personifizierte Gewalt. Anfangs hatte sie ihn für das, was er repräsentierte, verachtet, inzwischen freute sie sich, ihn wiederzusehen. Dennoch war sie nicht gewillt, ihn dies ohne Gegenwehr wissen zu lassen.

»Sie hätten ihr entgegenkommen und Ihren Namen nennen können. Wie irgendein gewöhnlicher Patient.«

Er ließ die breiten Schultern sinken. »Tut mir leid, Doc. Wird nicht wieder vorkommen.«

»Das wäre gut. Ich nehme an, Ihr Kommen hat einen speziellen Grund? Gibt es Probleme?«

Seitdem sie Traumapatienten behandelte, hatte sie es mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Menschen zu tun. Viele waren unschuldig. So wie der traurige Polizist. Unfallopfer. Überlebende von Katastrophen. Zeugen von Amokläufen. Opfer von Missbrauch und Vergewaltigungen. Manche waren beteiligt. Soldaten zum Beispiel, die ihre Erinnerungen an Afghanistan oder das Kosovo einfach nicht mehr loswerden konnten. Einige waren schuldig. Wie der angetrunkene Autofahrer, der im Moment des Aufpralls ins Freie geschleudert wurde und mitansehen musste, wie seine Frau und seine beiden Kinder bei lebendigem Leib verbrannten. Gold war noch mehr als das. Gold war ein Täter. Vermutlich sogar der gefährlichste Mann, den sie jemals behandelt hatte. Zumindest, wenn er es wollte. Aber er wollte längst nicht mehr. Etwas hatte ihn aufgehalten. Ein brutal gezähmter Riese.

Jetzt saß er ihr gegenüber, eingesunken in den scheinbar viel zu kleinen Sessel, und schaute sie schweigend an.

»Oder wollten Sie mir nur guten Tag sagen?«, setzte sie nach.

»Nein, natürlich nicht. Obwohl ich mich mächtig freue, Sie wiederzusehen. Es ist nur …«

»Was?«

»Es geht nicht um mich. Es geht um einen anderen.«

Sie lehnte sich überrascht zurück. Dass Gold sie ohne telefonische Ankündigung aufgesucht hatte, war schon merkwürdig genug. Dass er aber offensichtlich gekommen war, um sich für jemand anderen einzusetzen, überraschte sie noch mehr.

Vor vier Jahren war Gold in der Mannheimer Unterwelt noch eine feste Größe gewesen. Vorwiegend Zuhälterei, daneben auch Erpressung, Drogengeschäfte und Eigentumsdelikte. Unter anderem große Brocken wie der Überfall auf einen Geldtransporter, bei dem eine halbe Million Euro erbeutet worden war, den man ihm aber niemals nachweisen konnte. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er auch mehrere Menschen getötet hatte, mindestens drei, vielleicht auch mehr. Gold war ein Gangster gewesen. Ein richtiges Schwein.

Bis zu dem Tag, als serbische Konkurrenten an seiner Frau ein Exempel statuierten. Eine seiner Huren, die er irgendwann geheiratet hatte. Er hatte ihre Leiche gefunden, als er spätnachmittags nach Hause kam. Sie lag verstümmelt auf dem Küchenboden, um sie herum Messer und Küchengeräte, mit denen man sie bestialisch gefoltert hatte. Seitdem war auch Gold ein Opfer. Ein Traumatisierter. Jemand, der sich vor nichts mehr fürchtete als vor den eigenen Erinnerungen. Der sie verzweifelt in ihrer Praxis aufgesucht hatte, als er seine Gedanken nicht länger ertragen konnte. Damals war er völlig am Ende gewesen, doch sie hatte dennoch gezögert, ihm einen Therapieplatz anzubieten. Wenige Monate nach Beginn der Behandlung wurden auf einem Parkplatz am Rand der Stadt die gefesselten und kastrierten Leichen von drei Serben gefunden, die wie Golds Frau Furchtbares durchgemacht haben mussten. Am Ende hatte man ihnen aus kurzer Distanz in den Kopf geschossen. Als dies geschah, waren sie wahrscheinlich erleichtert gewesen. Gold wurde stundenlang verhört, ohne sich eine Blöße zu geben. »Ich kann Sie nicht weiterbehandeln, wenn Sie weiterhin Menschen töten«, hatte sie ihm damals gedroht – vermutlich einer der merkwürdigsten Sätze, die sie in ihrem Leben ausgesprochen hatte. Er hatte sie angeschaut, wenige Sekunden nur und doch eine endlos lange Zeit. Sie hatte schon befürchtet, er könnte aufstehen und sie einfach aus dem Fenster werfen. Stattdessen hatte er ihr versichert, dass die Angelegenheit – falls er damit zu tun gehabt haben sollte – abschließend erledigt wäre. Game over, Doc. Sie hatte ihm widerwillig Glauben geschenkt. Nach zwei Jahren Behandlung hatte er sich so weit stabilisiert, dass sie die Therapie abschließen konnten. Seinem alten Leben hatte er abgeschworen. Ich bin jetzt Buddhist, hatte er ihr lachend erklärt. Nicht wirklich, nur da oben im Kopf. Wenig später war er nach Speyer gezogen und hatte einen Süßwarenladen eröffnet. Er hatte ihr versprochen, sich regelmäßig zu melden, und seither nichts mehr von sich hören lassen.

»Um einen anderen?«, fragte sie ungläubig nach. »Jemanden, den ich kenne?«

»Ja, sehr gut sogar.« Er schien jede seiner Antworten auf die Goldwaage zu legen, und sie begriff, dass der andere, wer auch immer er sein mochte, nichts von Golds Besuch bei ihr wusste.

»Mein Gott, Gold! Wollen Sie es mir nun erzählen oder nicht?«

Er zog entschuldigend die Schultern nach oben. »Ja, schon … irgendwie. Das Problem ist nur: Er weiß nichts davon, und das muss auch so bleiben. Einerseits mache ich mir Sorgen um ihn, andererseits will ich ihn aber auch nicht verpfeifen.«

»Wieso? Verträgt sich das nicht mit Ihrer Ganovenehre?«, fragte sie bissig.

»Autsch«, knurrte Gold. »Das war gemein. Und tat sogar ein wenig weh.«

»Tut mir leid. Aber Sie machen es mir auch wirklich nicht leicht.«

»Es geht um Romberg«, platzte er heraus.

Sie erschrak. Es gab kaum einen Patienten, den sie in den vergangenen Jahren so sehr ins Herz geschlossen hätte wie Max Romberg. Sie erinnerte sich, dass er und Gold sich in einer Gruppenbehandlung kennengelernt hatten. Im Gegensatz zu Gold ließ sich Romberg noch regelmäßig bei ihr blicken. Schon in der kommenden Woche sollte er zu einem Kontrolltermin erscheinen.

»Romberg? Steckt er in Schwierigkeiten? Verdammt noch mal, Gold. Jetzt reden Sie schon! Haben Sie schon mal etwas von ärztlicher Schweigepflicht gehört?«

»Klar, Doc. Aber ich weiß auch, dass sie in bestimmten Situationen jederzeit straffrei durchbrochen werden kann. Bei Gefahr in Verzug zum Beispiel, oder wenn damit ein Verbrechen verhindert werden kann, das erst noch begangen werden soll.«

Sie nickte. Wie immer wusste Gold genau, was er tat. Dass er noch immer am Leben war, hatte nicht nur mit Glück zu tun.

»Wollen Sie damit sagen, Romberg steht kurz davor, ein Verbrechen zu begehen? Max Romberg?«

»Ich habe ihn heute Morgen getroffen. In Speyer. In einem Biergarten. Er war mit dem Fahrrad unterwegs, und er wirkte irgendwie … angespannt.«

»Angespannt?«

»Ja. Und er war bestimmt nicht zum Vergnügen in der Stadt. Wir tranken ein paar Bierchen, und am Ende sagte er, er müsse los, aber später habe ich ihn noch mehrmals in der Stadt herumradeln sehen. Er fuhr langsam, und er hielt wiederholt an, und er interessierte sich offensichtlich für die Kennzeichen der geparkten Wagen. So als sei er auf der Suche nach jemandem.«

Sie versuchte, aus Golds Worten eine ernsthafte Bedrohung herauszufiltern, fand aber noch immer keinen Grund, der sein Erscheinen gerechtfertigt hätte.

»Das war alles?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er gereizt. »Meinen Sie tatsächlich, ich belästige Sie wegen so einem Scheiß?«

»Tut mir leid. Also was genau macht Ihnen Sorgen?«

»Nun ja. Romberg druckste herum und tat sich schwer, es anzusprechen. Aber kurz bevor wir unser kleines Trinkgelage auflösten, rückte er doch noch damit heraus und fragte, ob ich ihm eine Waffe besorgen könnte.«

»Eine Waffe?«

»Ja. Sie wissen schon. Diese Dinger, mit denen man Menschen tötet.«

Carmen Mingus’ Blick konzentrierte sich auf den Ventilator, der Kühle vorgaukelte, indem er die schwüle Luft in Bewegung versetzte. In ihrem Beruf hatte sie es regelmäßig mit Verbrechen und Gewalttaten zu tun. Dennoch fand sie die Vorstellung, dass zwei ihrer Patienten in einem Biergarten saßen und sich beiläufig über den Kauf einer Schusswaffe unterhielten, während ahnungslose Passanten vorüberschlenderten, nach wie vor faszinierend. Wobei man Gold derartige Aktivitäten zwangsläufig eher zutraute als dem dicklichen Romberg.

»Hat er gesagt, wozu er sie braucht?«

»Er behauptete, er hätte mehrere Russen in einer privaten Pokerrunde um einige Tausend Euro erleichtert, und nun habe er Angst, dass die Jungs ihm diesen Verlust im Nachhinein übelnehmen könnten.«

»Aha. Aber das kaufen Sie ihm nicht ab?«

»Nein. Romberg pokert viel und gerne, aber ich denke, er hat gelogen. So eine Sache macht Romberg keine Angst. Zumindest nicht annähernd so viel Angst, dass er sich deswegen eine Waffe besorgen würde. Ich glaube auch nicht, dass er sich umbringen will. Wäre auch ziemlich dämlich, sich auf eine Art umzubringen, für die man sich erst noch eine Waffe besorgen muss.« Er hielt kurz inne. »Ich glaube, er sucht jemanden. Jemanden, von dem er bislang nur das Autokennzeichen kennt. Und wer auch immer es ist, er sollte sich dringend eine kugelsichere Weste besorgen.«

Im selben Moment klopfte es erneut.

»Herein«, rief Carmen Mingus und Rosa öffnete zaghaft die Tür.

»Ich wollte nur kurz anfragen, ob noch etwas zu erledigen ist. Falls nicht, so würde ich jetzt gerne nach Hause gehen.«

Manfred Gold grinste so breit, dass weit hinten in seinem Mund ein metallisches Funkeln zu erkennen war. »Keine Sorge. Ich werde Ihre Chefin erst dann abmurksen, wenn Sie das Gebäude verlassen haben. Und wenn Sie den Bullen gegenüber schweigen, wäre ich sogar bereit, Sie langfristig am Leben zu lassen.«

Carmen Mingus warf ihm einen strafenden Blick zu. »Eine Sache gäbe es da noch. Max Romberg hat am kommenden Mittwoch einen Termin bei mir. Können Sie ihn bitte anrufen und ihm mitteilen, dass ich diesen Termin stornieren muss. Fragen Sie ihn, ob er stattdessen schon morgen kommen kann.«

Die Sekretärin versuchte irritiert, das Gesagte einzuordnen. »Aber morgen sind bereits alle Termine belegt.«

»Ich weiß. Werfen Sie einfach einen anderen Patienten raus und bieten ihm als Ersatz den frei werdenden Termin von Romberg an. Aber machen Sie es so, dass Romberg keinen Verdacht schöpft.«

»Ist auch wirklich alles in Ordnung?«, fragte Rosa misstrauisch, so als hielte Gold heimlich eine Pistole auf ihre Chefin gerichtet und zwinge sie, seltsame Anweisungen zu erteilen, die keinerlei Sinn zu ergeben schienen.

»Ja, alles bestens. Das mag alles ein wenig merkwürdig klingen, aber es ist wirklich wichtig.«

Sie wartete ab, bis Rosa die Tür ins Schloss gezogen hatte, dann wandte sie sich an Gold. »Zufrieden?«

Er erhob sich nickend von seinem Stuhl. »Ich habe Ihnen das nur erzählt, weil ich ihn mag und weil ich mir Sorgen um ihn mache.«

»Ich weiß.«

»Und ich bin niemals hier gewesen.«

»Natürlich. Ich habe Sie seit Jahren nicht gesehen.« Sie lächelte. »Aber ich habe mich dennoch gefreut, von Ihnen zu hören. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Sind Sie Ihren Vorsätzen treu geblieben?«

»Ja, das bin ich. Ich bin clean. Ein großer braver Junge, der – wenn ihm der Ärger begegnet – prompt die Straßenseite wechselt.«

»Das freut mich«, sagte sie anerkennend. »Und wahrscheinlich ist es auch besser für den Ärger.«

Auf seinem Gesicht lag plötzlich ein Schatten. »Aber ich bin deswegen nicht stolz. Kein bisschen. Ich lebe völlig anders als früher, aber das ändert nicht das Geringste an meiner Schuld. Natascha ist tot, und ich habe sie immer noch regelmäßig vor Augen, und mein ganzes Leben ist mir so peinlich, dass ich tagtäglich kotzen könnte.« Er holte kurz Luft, so als wollte er ihr Gelegenheit geben, etwas einzuwenden, aber sie schwieg. »Ich will keine Anerkennung, keine Vergebung und keine Gnade. Falls ich wider Erwarten nicht in der Hölle lande, werde ich an höchster Stelle persönlich protestieren und darauf bestehen, die Entscheidung zu revidieren. Ich muss in die Hölle, verstehen Sie? Ich habe nichts anderes verdient.«

Es war erstaunlich. Er war immer noch groß. Und noch immer gefährlich. Aber noch nie, nicht einmal zur Zeit seiner Behandlung, hatte er sie derart angerührt.

»Vermutlich haben Sie recht«, stimmte sie ihm zu. »Aber wenn schon, dann mit allem Komfort.«

Er lachte laut auf. »Schön, Sie mal wiedergesehen zu haben, Doc.«

Er wandte sich zur Tür. Als er nach der Klinke griff, stellte sie ihm eine letzte Frage. »Die Waffe? Werden Sie sie ihm besorgen?«

Er drehte sich langsam um. »Aber klar doch. Ich habe über einen Mittelsmann eine Schrotflinte, eine Smith and Wesson und tausend Schuss Munition bestellt. Morgen früh werden wir uns in einem abgelegenen Waldstück im Odenwald treffen, und dort werde ich ihm zeigen, wie er mit den Waffen umgehen muss. Also geben Sie sich gefälligst Mühe und fühlen ihm gründlich auf den Zahn.«

Ein paar Sekunden lang musterte er ernst ihr entgeistertes Gesicht, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »War nur ein Witz, Doc. Das war nur ein Witz.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Dann trat er lachend durch den Türrahmen in den Flur und während sie sich fragte, ob er ihr tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, schlängelten sich die Flammen an seinem Hals bis dicht an den Rand seines Kinns empor.

Wie Vorboten der Hölle.