19:58
Verena Bleskjew war ein vorsichtiger Mensch. Sie rauchte nicht, legte Wert auf eine gesunde Ernährung und trieb regelmäßig Sport. Risiken ging sie meist frühzeitig aus dem Weg. Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag hatten ihr Freunde einen Gutschein über einen Fallschirmsprung geschenkt, Sandwich, vor den Bauch eines Trainers geschnallt. Sie hatte dankend abgelehnt, zum Entsetzen ihrer Freunde, die den Bon gekränkt zurücknehmen mussten und ihr stattdessen ein Buch über Flugangst schenkten, eine Provokation, auf die sie nicht näher eingegangen war.
Katja – so viel stand fest – wäre, ohne zu zögern, gesprungen.
Schon als Kind hatte sie mit ihrer älteren Schwester nicht mithalten können. Katja war immer die Mutigere gewesen. Sie schien sich vor nichts zu fürchten. Wenn sie auf einen Baum kletterte, abrutschte und schmerzhaft zu Boden fiel, vergoss sie keine Träne und versuchte es unmittelbar danach erneut. Für Verena dagegen war schon ihr erster Sturz ein Grund gewesen, Bäume und Klettergerüste von da an ängstlich zu meiden. Schon bald hatte Verena in der Familie als sensible Prinzessin gegolten, Katja dagegen als unerschrockener Wildfang, den nichts aufzuhalten vermochte. Einmal hatte Verena miterleben müssen, wie Katja von drei älteren Schülern verprügelt worden war. Die Jungen hatten sie auf dem Nachhauseweg abgepasst, und da sie ihr körperlich überlegen gewesen waren, hatte Katja nicht gegen sie ankommen können und deshalb eine herbe Niederlage einstecken müssen. Verena, die während der gesamten Zeit zitternd in ihrer Nähe gestanden hatte, unfähig, sich zu rühren, hatten die drei Rowdys keines Blickes gewürdigt. Als die beiden Schwestern anschließend nach Hause zurückgekehrt waren, war Katjas Lieblings-T-Shirt blutverschmiert gewesen. Auf die Frage ihrer Mutter, wer sie so übel zugerichtet hätte, hatte sie behauptet, die Angreifer nicht gekannt zu haben, und Mutter, die sich bevorzugt um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern pflegte, hatte es dabei bewenden lassen. Schon in der darauffolgenden Woche hatte sich Katja den Anführer der Gruppe gegriffen, ihm aus kurzer Distanz Reizgas ins Gesicht gesprüht und ihn mit Schlägen und Tritten derart übel zugerichtet, dass ihre Mutter tags darauf beim Schulrektor vorsprechen musste. Nichtsdestotrotz hatte sie wenige Tage später auch den zweiten Jungen abgepasst, ihn ebenfalls grün und blau geprügelt und dafür eine Woche Schulausschluss hinnehmen müssen. Den dritten aus der Gruppe hatte sie als einzigen verschont, jedoch hatte sich dieser über Wochen nur noch in Begleitung seiner Eltern aus dem Haus gewagt. Soweit Verena sich erinnern konnte, hatte es danach nie wieder ein Schüler riskiert, Katja in die Quere zu kommen.
Bereits mit elf Jahren hatte Katja auf der Geburtstagsfeier ihrer Tante verkündet, später einmal Polizistin werden zu wollen, und obwohl es sicherlich viele Kinder gab, die für eine solche Idee milde belächelt worden wären, hatte bei den Bleskjews niemand daran gezweifelt, dass sie diesen Plan eines Tages in die Tat umsetzen würde.
Was Kraft und Mut betraf, war Katja für Verena immer ein unerreichbares Vorbild gewesen. Also hatte sie sich in der Familie ihre eigene Nische gesucht und sich eifrig in den Schulstoff vertieft. Den Rang der Klassenbesten hatte sie sich über Jahre nicht nehmen lassen. Am Ende hatte sie ein hervorragendes Abitur vorweisen können. Sie war nicht wirklich schön, aber hübsch genug, um bemerkt zu werden, nicht von allen Jungs, aber der Andrang reichte immerhin aus, um eine Auswahl treffen zu können und um sich nicht mit dem erstbesten Verehrer zufriedengeben zu müssen. Sie spielte hervorragend Klavier, war eine brillante Zeichnerin und verfügte über ein beeindruckendes Allgemeinwissen, mit dem ihre ältere Schwester nicht mithalten konnte.
Als es ihr gelang, in die Kunsthochschule in Karlsruhe aufgenommen zu werden, war sie unglaublich stolz gewesen, und schließlich hatte sie sich mit der Rollenverteilung abgefunden: Katja als burschikose Heldin und sie selbst als feinfühlige Kreative. Seitdem Katja aber mit Lena Böll zusammenarbeitete und einen der gefährlichsten Verbrecher der Gegend jagte, verspürte sie in ihrem Inneren zuweilen ein altbekanntes Gefühl des Neids. Jedoch meist nur kurz, denn Katja hatte sie ihre Überlegenheit nie spüren lassen und immer zu ihr gehalten.
Als es kurz vor acht Uhr an der Haustür klingelte, war Verena daher froh, dass es Katja doch noch geschafft hatte, sich im Kommissariat loszueisen. Trotz der schwülen Hitze hatten sie sich zum Laufen verabredet, aber ihr war klargewesen, dass neue Entwicklungen in dem Fall durchaus dazu führen konnten, dass ihr Treffen im letzten Moment doch noch platzte. Moses, ihr Schäferhund, rannte schwanzwedelnd in den Flur. Als sie die Haustür öffnete, trug Katja bereits Laufkleidung und schien froh zu sein, ihren Job für einige Stunden hinter sich lassen zu können.
»Ciao, Bella!«, sagte Katja und lächelte sie freundlich an. »Ich bin spät dran, aber vor halb acht kam ich leider nicht weg. Ist Mama da?«
Verena nickte. »Ja. Sie liegt wie üblich betrunken auf der Couch.«
»Verstehe«, sagte Katja, die sich offensichtlich vorgenommen hatte, das Haus nicht zu betreten. »Und du? Bist du so weit?«
»So gut wie. Ich muss mir nur noch die Schuhe anziehen.« Katja wirkte müde und erschöpft, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Bist du dir wirklich sicher, dass es um diese Zeit im Wald nicht doch zu gefährlich ist?«
»Keine Sorge. Zum einen sind wir beide zu zweit, und ich trage beim Laufen meine Waffe bei mir. Zweitens sucht sich der Mörder seine Opfer aus der Tageszeitung aus. Und drittens ist da noch Moses, der uns im Ernstfall heroisch verteidigen würde.«
Bei der Erwähnung seines Namens begann der Hund prompt zu kläffen. Verena lachte. Wie immer hatte Katja recht.
Draußen auf der Straße rollte ein schwarzer Kombi vorbei. Der Fahrer schien nach einer bestimmten Adresse zu suchen, denn er fuhr im Schritttempo und schaute sich prüfend um. Bevor der Wagen wieder aus dem Rechteck der Türöffnung verschwand, fiel Verenas Blick auf das Gesicht des Fahrers, doch sein Blick wich ihr aus. Irgendwo in der Ferne war das nervtötende Trompeten einer Vuvuzela zu hören.
»Ich bin und bleibe eben ein Angsthase«, sagte sie lachend.
»So lange wir den Kerl noch nicht haben, kann Vorsicht nicht schaden. Also komm bloß nicht auf die Idee, irgendwann allein loszulaufen!« Katjas Blick wurde ernst. »So wie es aussieht, wird er schon bald wieder zuschlagen.«
»Wirklich? Aber das letzte Opfer wurde doch bisher noch nicht gefunden?«
»Trotzdem«, sagte Katja. »Aber behalte das bitte für dich!«
»Okay«, sagte Verena. Ihr war plötzlich mulmig zumute, aber in Katjas Nähe fühlte sie sich sicher, und so wischte sie ihre Angst beiseite und griff nach den Schuhen.
Sie würden zehn Kilometer laufen. Wie immer.
Zu diesem Zeitpunkt war sie noch überzeugt, dass sich Vorsicht auszahlte und dass man sein Leben durch die richtige Einstellung verlässlich in günstige Bahnen lenken konnte.
Schon bald würde sie begreifen, wie lächerlich dies war.
Sie konnte nicht ahnen, dass der Mann, den alle fürchteten wie ein gefährliches Raubtier, sie soeben gefunden hatte und dass es ausgerechnet Katja gewesen war, die ihn nichtsahnend zu ihr geführt hatte.
Bis vor ihre Tür.