21:05

Stundenlang hatten sie gespannt auf eine Reaktion gewartet, aber die von Lena Böll verschickten Botschaften waren bis zum Abend unbeantwortet geblieben. Um halb sieben hatte sich der Täter noch immer nicht gemeldet, so dass Krüger beschloss, den Großteil der SOKO nach Hause zu schicken. Als Reaktion auf die sich überschlagenden Ereignisse hatte Mildenberger am Nachmittag angeordnet, Lena Böll weitere sechs Beamte zu bewilligen. Diese waren ausschließlich auf die Kommunikation mit dem Täter und die daraus resultierenden Chancen konzentriert. Sie hatten eine Liste von zwanzig Orten erstellt, an denen der Mörder theoretisch auftauchen konnte, belebte Plätze oder Verkehrsknotenpunkte, die es ihm möglich machen würden, rasch wieder abzutauchen. Für jeden dieser Orte hatten sie ein detailliertes Szenario entworfen und Maßnahmen, mit deren Hilfe sie die Fluchtwege möglichst schnell abriegeln konnten. An manchen Orten war dies schlicht unmöglich. Ab sofort stand ihnen jedoch ein Hubschrauber zur Verfügung, der mit einer Kamera ausgestattet war und der ihnen die Möglichkeit bieten würde, die jeweilige Situation von oben herab zu filmen und nachträglich auszuwerten.

Für Lena Böll stand bereits fest, dass sie im Kommissariat nächtigen würde. Es würde nicht die erste Nacht sein, die sie auf einem Klappbett in dem Gebäude verbrachte. Auch Krüger, Leonhardt, Müller und Klein wollten gemeinsam mit ihr die Stellung halten. Momentan gab es nichts mehr zu tun, daher beschloss sie, sich eine Pause zu gönnen. Ständig von anderen Menschen umgeben zu sein, machte sie allmählich nervös.

»Was dagegen, wenn ich noch irgendwo essen gehe?«, fragte sie müde in die Runde. »Ich habe Hunger wie ein Bär. So wie es aussieht, wird er sich heute eh nicht mehr melden, und in spätestens zwei Stunden bin ich wieder da.« Die anderen hatten sich vor einer halben Stunde mehrere Pizzen vorbeibringen lassen. Die großen quadratischen Kartons lagen aufgeklappt im Gemeinschaftsraum verstreut.

»Etwa allein?«, wollte Krüger misstrauisch wissen, und das etwa ließ unschwer erkennen, dass er ihren Vorschlag keineswegs gutheißen konnte.

Sie verdrehte genervt die Augen. »Verdammt. Hört endlich auf, ständig so zu tun, als schwebte ich in akuter Gefahr! Er wird sich nicht an mich heranwagen. Und falls doch, dann werde ich ihn töten. Das tue ich immer. Schon vergessen?«

Klein lachte lauthals auf, aber Krüger verzog keine Miene. »Schon klar. Aber Klein wird dich dennoch begleiten.«

»Wieso? Er hat erst vor wenigen Minuten eine riesige Pizza Diavolo verschlungen. Wenn er noch etwas isst, wird er platzen.«

»Egal. Er kommt trotzdem mit.«

Sie schaute hinüber zu Klein, dem die Situation unangenehm war und der mit einem Schulterzucken vorsorglich Abbitte leistete. »Also, richtig satt bin ich eigentlich noch nicht.«

Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Na schön. Warum nicht? Die Abwechslung wird mir guttun. Schließlich liegt mein letztes Date schon Monate zurück.« Klein öffnete erschrocken den Mund. »Aber vorher kurz zur Toilette gehen darf ich hoffentlich allein.«

»Aber klar doch«, erwiderte Krüger in bewusst gönnerhaftem Ton. »Ich nehme die Tür mit dem H.«

Sie traten beide gemeinsam auf den Flur und gingen ein paar Schritte schweigend nebeneinanderher. Während Krüger nach der Türklinke der Männertoilette griff, öffnete Lena Böll die Tür der Frauentoilette. Ohne zu zögern, schritt sie über die Schwelle, zog die Tür hinter sich ins Schloss und zählte leise bis drei. Als sie die Tür wieder aufstieß, war Krüger verschwunden. Mit weit ausladenden Schritten durchquerte sie den Korridor und betrat das gegenüberliegende Büro. An einem der Garderobenhaken hingen ihr Blazer und ihre große Umhängetasche. Eilig nahm sie beides an sich, verließ rasch den Raum und lief hinüber zur Treppe. Sie übersprang die ersten zwei Stufen und schaffte es gerade noch, unter das Niveau des Flurbodens abzutauchen, als sich die Toilettentür wieder öffnete. Vorsichtig schlich sie nach unten. Wenig später verließ sie das Gebäude, wandte sich nach links und sprintete los. Einfach lächerlich! War sie jetzt schon so weit, dass sie vor ihren eigenen Kollegen davonlaufen musste?

Sie kam etwa zweihundert Meter weit, dann ertönte gedämpfte Tangomusik. Lächelnd griff sie nach dem Handy.

»Sehr witzig«, knurrte ihr Krüger ins Ohr.

»Ich kann sie orten, wenn du willst«, hörte sie Leonhardt im Hintergrund flüstern, aber Krüger schüttelte hörbar den Kopf.

»Das hab ich gehört«, lachte sie ins Handy, »aber ich lasse es trotzdem angeschaltet. Falls sich etwas tun sollte, könnt ihr mich jederzeit anrufen. Aber bitte nicht alle fünf Minuten, nur um euch davon zu überzeugen, dass ich noch immer am Leben bin.«

»Hahaha«, sagte Krüger. »Und wo beliebt die Dame zu speisen?«

»Netter Versuch«, sagte sie noch, dann legte sie auf.

Sie entschied sich für ein italienisches Restaurant in der Nähe des Paradeplatzes, das sie schon nach wenigen Minuten erreichte. Ein schwacher Wind trug den Geruch der Schokoladenfabrik in die Stadt, und in den Quadraten duftete es nach warmem Kakao. Als sie das Lokal betrat, starrten alle sie an. Mehr noch, als sie es gewohnt war. An mindestens vier der Tische wurde sie schon im Hereinkommen erkannt. Inzwischen war sie in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund. Schon das allein würde es dem Täter schwermachen, unbemerkt an sie heranzukommen.

Auch der Kellner hatte sie umgehend erspäht. Als er den Mund öffnete, fürchtete sie schon, er würde sie lauthals bei ihrem Namen rufen, aber im letzten Moment besann er sich eines Besseren und trat stattdessen lächelnd an sie heran.

»Ein Tisch für eine Person?«, fragte er augenzwinkernd. »Oder wird gleich noch ein glücklicher Mann erscheinen, der den Abend an Ihrem Tisch verbringen darf?« Seine Ohren standen fast waagrecht ab, was ihm das Aussehen eines schelmischen Waldelfs verlieh.

»Nein, Vito, ich bin allein. Sollte aber in der nächsten Stunde ein gutaussehender Single durch diese Tür treten, kannst du ihn mir gerne gegenübersetzen.«

»Oha! Sie sind also tatsächlich auf der Suche?«

»Ja. Seit meiner Pubertät. Aber ich treffe immer nur Arschlöcher.«

»Capisco. Vielleicht sollten Sie Ihre Auswahlkriterien ändern.«

»Gut möglich. Und wie?«

Er grinste. »Konzentrieren Sie sich verstärkt auf Italiener.«

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte sie lachend, während sie sich an den ihr zugewiesenen Tisch setzte.

Ob Leo tatsächlich versuchte, sie zu orten? Zuzutrauen war es ihm schon. So lange der Täter sich nicht meldete, würde er sich im Kommissariat eh nur langweilen. Herauszufinden, wo sie sich aufhielt, war für ihn ein unterhaltsamer Zeitvertreib.

Sie bestellte sich eine Karaffe Wasser und ein Glas Primitivo und überließ Vito die Auswahl des Essens. Er empfahl ihr Tagliatelle mit Pilzen und Pecorinokäse. Als sie zustimmte, verschwand er umgehend in Richtung Küche. Sie schaute sich um. Nur noch ein einziger freier Tisch. Mit einem Reserviert-Schild blockiert. Durch die Lampen mit den dunkelgelben Schirmen wurde der Raum in ein angenehmes Licht getaucht. Rechts von ihr zeigte ein großer Wandteppich den Paradeplatz mit der Grupello-Pyramide zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts. Vito hatte ihr die Darstellung vor Wochen bis ins kleinste Detail erklärt. Von ihm wusste sie auch, dass das Haus, in dem sie sich gerade aufhielt, als eines von wenigen Gebäuden die Bombenangriffe überstanden hatte, weswegen es sich noch weitgehend im Originalzustand befand. Sie lehnte sich erschöpft zurück. Die letzten Wochen hatten sie eine Menge Energie gekostet, und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Morgen früh würde sie mit Carola Lauks Eltern sprechen müssen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie den beiden beibringen sollte, dass die Leiche ihrer Tochter dem Anschein nach von einem Unbekannten verschleppt worden war. Warum um alles in der Welt hatte er das getan? Was genau hatte er vor? Der Fall wurde ihr allmählich zu viel. Sie kamen einfach nicht voran. Wenn es so weiterging, war es nur eine Frage der Zeit, bis Breitenbusch-Keese, die Presse und vielleicht sogar Schröder ihren Kopf fordern würden.

Dennoch, so sehr sie ihr eigenes Handeln in den letzten Wochen auch kritisch hinterfragte, ihr wollten keine Fehler einfallen, die zu dem desolaten Verlauf ursächlich beigetragen hätten. Trotz der ausbleibenden Fahndungserfolge schien sie alles richtig gemacht zu haben. Das galt allerdings auch für den Täter, und ein Täter, der keinerlei Fehler beging, war schwer zu fassen. Es schien unmöglich zu sein, ihn ausfindig zu machen, aber trotzdem gab es da jemandem, der ihm in die Quere gekommen war, und das beunruhigte mit Sicherheit nicht nur die Kripo, sondern noch um einiges mehr auch ihn.

Der große Unbekannte. In der SOKO nannten sie ihn nur noch Nummer Zwei. Und Carolas Mörder war nun plötzlich zu Nummer Eins mutiert. Um Missverständnisse zu vermeiden und die beiden Männer sicher auseinanderhalten zu können.

Nummer Zwei. Er kümmerte sich einen Dreck um die Regeln. So wie Nummer Eins. Und so wie sie selbst.

»Schwere Gedanken?« Von ihr unbemerkt war Vito an den Tisch herangetreten. In seiner Hand ein Teller mit köstlich duftenden Tagliatelle.

»Ja. Leider.«

»Über die Dreckskerle in Ihrem Leben?«

»Nein, über den Fall.«

»Ich verstehe. Üble Sache, das Ganze. Ich hoffe, Sie werden diesen Mistkerl bald fassen. Meine Tochter traut sich kaum noch aus dem Haus.«

Vitos Tochter war gewiss keine Schönheit, doch Lena Böll verzichtete darauf, ihm zu versichern, dass er sich keinerlei Sorgen machen musste. Stattdessen stach sie mit der Gabel in die Nudeln und wickelte ein kleines Knäuel auf die Zinken. Gerade als sie die warme Kugel auf ihre Zunge schob, öffnete sich die Eingangstür, und ein Paar betrat lachend den Raum. Ihr Blick fiel auf das Gesicht des Mannes, und sie erstarrte, als habe man sie mit flüssigem Stickstoff übergossen. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!

»Alles in Ordnung, Signora?«, fragte Vito überrascht.

Sie antwortete ihm mit vollem Mund. »Nicht unbedingt. So wie es aussieht, hat einer der erwähnten Dreckskerle gerade den Raum betreten.«

Noch bevor Vito etwas erwidern konnte, hatte Michael sie bereits entdeckt. »Mein Gott, Lena!«, rief er quer durch den Raum. »Ich dachte schon, unsere Wege würden sich niemals kreuzen.«

Das wäre mir auch um einiges lieber gewesen, dachte Böll.

Die Frau an seiner Seite war dürr und hübsch. Mehr nicht. Ende zwanzig. Sie trug ein kurzes Sommerkleid, das ihre Beine vorteilhaft zur Geltung brachte, und musterte ihre Vorgängerin mit Argwohn.

Lena Bölls Puls schlug wie wild. Wie sehr sie diesen Moment gefürchtet hatte! Und gleichzeitig herbeigesehnt. Sie und Michael gemeinsam in einem Raum. Die Möglichkeit einer Aussprache. Über das, was geschehen war. Über das, was er ihr angetan hatte. Aber nun war er in Begleitung, und eine Aussprache schien völlig unmöglich. Michael hatte immer sehr vorausschauend gehandelt. Insofern gab sie sich erst gar nicht der Hoffnung hin, dass er nicht reserviert haben könnte. Sie dachte an das Schild auf der Decke des Nebentisches. Die beiden würden genau neben ihr sitzen! Es sei denn, sie überlegten es sich anders und ergriffen gleich jetzt die Flucht. Sie jedenfalls würde nicht vorzeitig gehen! Dieses Mal nicht. Und sie war vorbereitet. Besser, als Michael es sich in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte.

»Sieht so aus, als hätten wir den Tisch neben dir reserviert«, stellte er nachdenklich fest. »Falls dich das stören sollte, können wir aber gerne woanders essen.« Da war er wieder, sein gönnerhafter Ton, der sie schon so oft hatte wütend werden lassen. Und darin verborgen die Frage: Bist du schon über mich hinweg, oder tut es dir immer noch weh? Würde sie ihn jetzt bitten zu gehen, so wäre das für ihn ein Triumph, von dem er noch lange zehren könnte.

Die Dürre streckte ihr mit verkniffenem Lächeln die Rechte entgegen und quälte sich ein freundliches »Hallo« über die Lippen. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Also … nicht von Michael … das nicht … ich meine … im Fernsehen und in den Zeitungen.«

Der Schmerz in ihrem Inneren war kaum zu ertragen.

Nicht von Michael, das nicht! Im Fernsehen und in den Zeitungen.

Die dürre Schlampe wollte Krieg? Den konnte sie haben.

Sie dachte an ihre Dienstwaffe, die verborgen durch den Blazer im hinteren Teil ihres Gürtels steckte. Was, wenn sie jetzt einfach nach ihr greifen und durchdrehen würde? Was, wenn sie sie ihrer Nachfolgerin genau vors Gesicht hielte? »O mein Gott! Bitte nicht!«, würde die Dürre jammern, aber natürlich würde sie ihrem Flehen keine Beachtung schenken und ihr mitten in die Stirn schießen. Danach würde sie den Lauf auf Michael richten, was seine Frage, ob sie über ihn hinweg sei, unmissverständlich beantworten würde, aber das Gefühl des Triumphs bliebe dennoch aus, und dann würde sie ihm zwischen die Beine schießen, und während er sich blutend am Boden wälzte, würden sich Vitos Gäste schreiend unter die Tische ducken, und sie würde langsam auf ihn zugehen und verächtlich auf ihn hinabblicken, und minutenlang würde sie einfach nur dastehen, um ihn zappeln und jammern und leiden zu sehen, und dann würde sie ihn mit einem Kopfschuss aus ihrem Leben katapultieren, so wie sie Hoffmann aus dem Fenster katapultiert hatte – endgültig – für immer.

Vermutlich hatte Mildenberger recht. Sie war eine tickende Zeitbombe. Vermutlich hatte sie Hoffmann damals gezielt getötet und es sich im Nachhinein nur nicht mehr eingestehen wollen.

Aber Michael und seine Schlampe waren es nicht wert.

Die Entscheidung in ihrem Kopf fiel innerhalb einer einzigen Sekunde. Wie ein einstudierter Reflex. Wie eine automatisierte Selbstverteidigungstechnik, die tausendfach eingeübt worden war und nun problemlos abgerufen werden konnte.

»Hallo«, erwiderte Lena Böll. »Sie müssen Bianca sein.«

In der Peripherie ihres Gesichtsfeldes nahm sie wahr, wie Michaels Gesicht erstarrte. Die Dürre, die sich bis dahin noch in einer überlegenen Position gewähnt hatte, schüttelte irritiert den Kopf.

»Bianca? Wieso Bianca? Mein Name ist Nina.«

»Nina?« Lena Böll gab sich verwirrt. »Aber … ich verstehe … nun … wie dem auch sei … freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie griff nach ihrer Hand.

»Gleichfalls«, gab Nina misstrauisch zurück.

»Es stört dich also nicht?«, wollte Michael wissen. Er kaute angespannt an der Unterlippe. Die Sorge in seinem Blick war nicht zu übersehen.

»Nein, kein Problem. Solange du nicht versuchst, weiterhin deine Unschuld zu beteuern.« Sie lächelte Nina freundlich an. »Im ersten Moment dachte ich, Sie seien eine andere.«

»Eine andere?«

»Ja. Der Trennungsgrund. Da ich mich aber getäuscht habe, habe ich nichts gegen Ihre Anwesenheit einzuwenden. Ganz im Gegenteil.«

»Aber ich bin der Trennungsgrund«, protestierte Nina laut. Im Restaurant wurde es schlagartig still. Sie wandte sich an Michael. »Wovon zum Teufel redet sie eigentlich?«

Er versuchte es mit einem intellektuellen Totstellreflex. »Keine Ahnung.« Typisch für ihn.

Lena Böll heuchelte Empörung. »Keine Ahnung? Bianca? Bianca Drexler? Lange Rötterstraße vier?«

»Was soll das?«, fuhr Michael sie an. »Schnüffelst du mir nach?«

»Anscheinend nicht. Sonst müsste mir ja klar sein, dass ich mich irre und dass Bianca Drexler überhaupt nicht existiert.«

Spätestens morgen würde Nina im Telefonbuch blättern und feststellen, dass Lena Böll den Namen nicht einfach nur erfunden hatte. Sie würde sich auch davon überzeugen können, dass die Adresse mit Lenas Anschuldigung übereinstimmte. In ihrem Gesicht war unschwer zu erkennen, dass sie bereits erste Schlussfolgerungen zog. Michael sah es auch.

»Ich denke, wir sollten von hier verschwinden«, schlug er Nina vor. »Das wird sonst übel enden.«

»Sorry, das konnte ich wirklich nicht ahnen«, entschuldigte sich Lena Böll.

»Was konnten Sie nicht ahnen?«, fragte Nina, die offensichtlich nicht die Schnellste war.

»Das fragen Sie ihn wohl besser selbst«, wich sie aus.

Michael stapfte wütend zur Tür. »Also, ihr beide könnt euer Frauengespräch gern noch ein Weilchen fortsetzen. Aber was mich betrifft: Ich gehe jetzt!«

Nina schaute ihm unentschlossen nach. Eine Sekunde lang schien sie zu zögern, ob sie ihm folgen oder noch eine weitere Frage stellen sollte, aber dann nickte sie Lena Böll missmutig zu und stolzierte auf ihren High Heels zur Tür.

»Ciao«, rief ihr Vito von der Theke aus nach, aber sein Gruß blieb unerwidert.

Als Lena Böll wieder Platz nahm, kam er mit ernster Miene auf sie zu. »Alles klar?«

»Ja.«

»Die Tagliatelle dürften inzwischen kalt sein. Soll ich Ihnen neue bringen lassen?«

»Nein, danke. Lauwarm ist bei dieser mörderischen Hitze vermutlich nicht einmal schlecht.«

Er grinste sie verunsichert an. »Dieses Gespräch eben … haben Sie … äh … gewonnen?«

Sie dachte nach. »Schwierige Frage. Ich glaube, wenn man mit seinem Ex streitet und gewinnt, ist darin immer auch eine Niederlage enthalten. Er mag ein Idiot sein, aber immerhin auch ein Teil von mir selbst. Das ist ein wenig so, als würde man sich in den eigenen Fuß schießen. Natürlich trifft man, aber es tut auch verdammt weh.«

Sie wusste nicht, warum sie das ausgerechnet einem italienischen Kellner erzählte, und Vito wusste es offensichtlich auch nicht, denn er zog sich mit einem knappen »Capisco« verlegen zurück. Auch die anderen Gäste schauten betreten beiseite.

Während sie sich ein Knäuel kalter Tagliatelle in den Mund stopfte, entstand in ihrem Kopf ein Gefühl des Triumphs, das sie nur zögernd zulassen konnte. Eigentlich musste ihr das, was sie getan hatte, peinlich sein. Stattdessen empfand sie Genugtuung. Spiele ohne Regeln. Vielleicht hatte Mildenberger recht. Vielleicht war sie völlig außer Kontrolle. Dennoch: Die Guten gewannen nie. Es sei denn, sie gewährten sich die Freiheit, eine Zeitlang böse zu sein.

Als sich damals der Verdacht verdichtet hatte, dass Michael sie betrog, hatte sie gequält von Eifersucht seinen Computer präpariert. Hatte eine Keylogger-Software installiert, die von außen unsichtbar jeden Tastenanschlag aufzeichnete und in einer versteckten Datei ablegte. Sie war sich vorgekommen wie eine Wahnsinnige, aber damals war sie von Eifersucht und Misstrauen zerfressen gewesen, völlig von der Rolle und absolut skrupellos. Einer jener Momente, in der man das Aber beiseitelegt und alle anderen Hemmungen auch.

Schon wenige Tage später kannte sie die meisten seiner Passwörter. Von da an konnte sie sich auf seinem Computer frei bewegen. Von einem Kollegen beim LKA ließ sie sich erklären, wie man sich in einen anderen Computer einloggt, ohne Spuren zu hinterlassen. Er besorgte ihr sogar ein Programm, mit der sie eine derartige Verbindung selbst herstellen konnte. Seither hatte sie uneingeschränkten Zugang zu Michaels System. Ohne dass er davon wusste. Dass er seinen Computer nie ausschaltete, um auch unterwegs darauf zugreifen zu können, machte es ihr leicht. Auch in den letzten Wochen hatte sie sich wiederholt bei ihm eingeklinkt, sein E-Mails gelesen und seine Aktivitäten bei Facebook verfolgt.

Nichts, worauf man stolz sein konnte, aber darauf kam es am Ende nicht an. Auch Michael hatte sie über Monate betrogen. Hatte hartnäckig behauptet, dass da nichts sei. In Wirklichkeit aber hatte er sie sogar mit zwei Frauen gleichzeitig hintergangen, mit Bianca Drexler und Nina Wissembach, von der sie ebenfalls die Adresse und die Telefonnummer kannte. Mit Bianca Drexler hatte er schon Wochen später Schluss gemacht. Mit Nina Wissembach dagegen schien es ihm ernst zu sein. Diese Beziehung zu zerstören, war sicher brutal. Aber hatten die beiden etwas anderes verdient?

Neid. Rache. Eifersucht. Niedrige Beweggründe. Noch gab es ein Zurück. Noch hatte sie den entscheidenden Schritt nicht getan.

Natürlich würde Nina darauf bestehen, seine E-Mails lesen zu dürfen. Und natürlich würde er zustimmen. Würde ihr eingestehen, sie am Anfang betrogen, aber schon bald mit Bianca gebrochen zu haben. Die E-Mails an Bianca Drexler hatte er längst gelöscht. Wie so oft würde es ihm gelingen, sich aus der Schlinge herauszuwinden.

Falls sie das zuließe. Nicht von Michael. Im Fernsehen und in den Zeitungen. Was bildete diese dürre Kuh sich ein?

Sie öffnete ihre Umhängetasche, zog den kleinen Acer-Laptop heraus, stellte ihn vor sich auf den Tisch und drückte die Starttaste. Während sich das System hochbootete, suchte sie Vitos Blick. Dieser eilte umgehend herbei.

»Irgendeinen Wunsch?«

»Könnte ich mich von hier aus über eine drahtlose Verbindung ins Internet einloggen? Das wäre toll.«

»Aber natürlich, Signora Commissario«, antwortete er begeistert, so als hätte sie ihn gerade zu ihrem persönlichen Assistenten ernannt. »Ich bin sofort zurück.«

Schön und bekannt zu sein, hatte zuweilen auch Vorteile. Was sie gleich tun würde, war extrem hinterhältig. Aber immerhin besser, als die beiden mit Kugeln zu durchlöchern.

Vito kehrte zurück und überreichte ihr den Zettel mit dem Einstiegscode. »Aber bitte nicht weitersagen.«

»Natürlich nicht. Mille Grazie.«

Während er sich entfernte, startete sie das Hilfsprogramm, das auf ihrer Festplatte ein künstliches Laufwerk mit einer neuen IP-Adresse kreierte. Dies gab ihr die Möglichkeit, sich durchs Internet zu bewegen, ohne dass ihre Aktivitäten zurückverfolgt werden konnten. Im selben Moment, in dem sie das Programm schloss, würde sich das Laufwerk samt IP-Adresse in Luft auflösen, als hätte es nie existiert. Anschließend stellte sie die Verbindung zu Michaels Computer her.

Bevor sie sein Anwenderkonto öffnete, griff sie nach ihrem Rotweinglas und trank es in einem Zug leer. Der Gedanke, welches Chaos sie in seinem Leben gleich anrichten würde, tat ihr gut. Nina würde Michael niemals glauben, dass er tatsächlich sein eigenes Passwort vergessen hatte. Stattdessen würde sie annehmen, dass er ihr den Zugang zu seinem Computer bewusst vorenthielt. Und dass es nur einen plausiblen Grund gab, der dieses Verhalten erklären konnte.

Wie gern hätte sie Michaels Gesicht gesehen, wenn sich ihm schlagartig der Verdacht aufdrängte, dass hinter all dem nur sie stecken konnte und dass er sie wohl gewaltig unterschätzt hatte und dass sie ihn tatsächlich überwachte. Eine Ahnung, die er nie wieder würde abschütteln können. Wahrscheinlich würde er stundenlang die Wohnung durchwühlen und nach versteckten Mikrophonen suchen.

Primitivo 2010, dachte sie, doch dann entschied sie sich, sicherzugehen, und tippte 0102 ovitimirP ein.

Schönen Tag noch, dachte sie, aber jenseits der Genugtuung verdichtete sich in ihrem Innern ernüchternd die Erkenntnis, wie sinnlos und traurig das alles war.