Wochen zuvor, Mannheim, Freitag, 13:59

Als sie die Tür des Besprechungszimmers öffnete, war sie völlig entspannt. Der Raum lag im ersten Stock. Sie war die Stufen dennoch langsam hinaufgestiegen, um bei ihrer Ankunft nicht außer Atem zu sein. Den schweren Koffer und die Reisetasche hatte sie in einem Schließfach im Bahnhof zurückgelassen. Was auch immer gleich passieren würde, so wollte sie auf jeden Fall noch heute einen Zug nach Stuttgart nehmen, um ihren Wagen abzuholen und zu Hause einige Dinge zu regeln. Zu Hause? Seit der Trennung von Michael schien ihre Wohnung kontaminiert zu sein. Dieser verdammte Schweinehund! Noch im Hinausgehen hatte er sie angelogen. Du begehst einen furchtbaren Fehler, hatte er ihr versichert, und dass ihr Misstrauen und ihre Eifersucht völlig unbegründet seien, im naiven Vertrauen auf seinen Passwortschutz und nicht ahnend, dass sie jede seiner E-Mails mehrfach gelesen hatte. Während er weiterhin stur seine Unschuld beteuerte, hatte sie jeglichen Respekt vor ihm verloren. Am Ende hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie sich über Jahre in ihm getäuscht hatte, aber in den Abendstunden hatte sie dennoch ein Gefühl der Melancholie empfunden, das sie diesem Dreckskerl längst nicht mehr zubilligen wollte. Insofern war Los Angeles auch eine Flucht gewesen, bunt und laut und weit genug entfernt, um alles lächerlich klein erscheinen zu lassen. Aber dann hatte Schröder angerufen, und jetzt war sie zurück, und verrückterweise fand sie sich sogar in Mannheim wieder, in jener Stadt, in der sie Michael kennengelernt hatte, in der er seit über zehn Jahren arbeitete und in der er inzwischen wieder eine Wohnung bezogen hatte.

Der Raum war brechend voll. Etwa dreißig Personen, die rochen wie hundert. Unter ihnen viele bekannte Gesichter, unter anderem Franz Mildenberger, seines Zeichens Polizeipräsident, Roland Wechters, der zuständige Gerichtsmediziner, Xaver Seibling, der Pressesprecher, und Florian Krüger, der sie so schnell erspähte, dass ihr nicht mehr genügend Zeit blieb, um über die Schwelle zu treten.

»Meine Damen und Herren. Darf ich vorstellen: Hauptkommissarin Lena Böll vom LKA Stuttgart.« Er sprach es aus, als würde er ein Bankett eröffnen, in einem unangebracht feierlichen Tonfall, und dabei strahlte er über das ganze Gesicht, so als hätte er sie tagtäglich vermisst. Sie wusste, dass er sie damals gemocht hatte und dass er vielleicht ein wenig verliebt gewesen war, aber die überschwängliche Freude in seinem Gesicht nach mehr als zwei Jahren Pause kam dennoch unerwartet. Sie lächelte irritiert zurück.

Während sie im Türrahmen stehen blieb, schabten Dutzende von Stuhlbeinen lautstark über das mitgenommene Parkett. Was folgte, war sie längst gewohnt. Interessierte Männerblicke, die wie Würmer über ihren Körper glitten, vom Gesicht nach unten bis hinab zu den Beinen und dann zurück über die Brüste bis hinauf in ihr Gesicht. Die nur kurz die Narbe streiften und dann hungrig zu den Lippen krochen. Dazwischen die Gesichter der Frauen, denen die Reaktion der Männer nicht entging und die sie misstrauisch musterten. Diejenigen, die sie von früher kannten, lächelten sie freundlich an, die Neuen aber verfingen sich verblüfft in ihrer Fassade und drangen nicht zu ihr durch.

Sechs Neue. Zwei Frauen, vier Männer. Die ältere der Frauen trug Designerklamotten. Vermutlich die zuständige Staatsanwältin. Die anderen fünf waren dem Anschein nach Bullen, einer von ihnen bereits deutlich über vierzig, die anderen noch in den Zwanzigern: Frischlinge. Nur ein Teil der Beamten gehörte der Mordkommission an, die anderen arbeiteten gewöhnlich in anderen Dezernaten. Was bei der Bildung einer SOKO nicht unüblich war, da keine Abteilung über genügend Leute verfügte, um zwanzig oder dreißig Ermittler zu stellen.

»Hallo, Florian. Erfreut, dich zu sehen.« Die Besprechung hatte offensichtlich bereits begonnen. Worüber sie sich insgeheim ärgerte. Nach einer Reise von mehreren tausend Kilometern war sie exakt eine Minute zu früh eingetroffen, ein Detail, auf das sie durchaus stolz sein konnte, und nun eröffneten diese Idioten die Sitzung tatsächlich zu früh und gaben ihr das Gefühl, unpünktlich zu sein. Indem sie eine Verbeugung andeutete, drehte sie sich in Richtung des Polizeipräsidenten. »Hallo, Chef.« Sie nickte mehreren Anwesenden verschwörerisch zu und schenkte Wechters ein vielsagendes Lächeln. Dann wandte sie sich erneut an Krüger. »Ich habe erst vor eineinhalb Stunden ausgecheckt. Dort, wo ich herkomme, ist es jetzt drei Uhr morgens. Ein starker Kaffee wäre daher nicht zu verachten. Könnte ich mich vielleicht irgendwo hinsetzen, bevor ich kollabiere?«

»Hier vorne.« Krüger deutete auf den freien Stuhl an seiner Seite.

»Verstehe. Frontalunterricht«, erwiderte sie schnippisch, denn die beiden Stühle standen abgeschirmt hinter einem Tisch und waren auf die Mitte des Raumes ausgerichtet. Einen Moment lang war sie unsicher, wie sie dorthin gelangen sollte, doch dann rückten die ersten Stühle beiseite und vor ihr tat sich ein Durchgang auf, durch den sie wie Moses durch das Rote Meer geradewegs hindurchschreiten konnte. Der Schweißgeruch war gewöhnungsbedürftig. Als sie Krüger erreichte, zögerte sie kurz, ob sie ihn umarmen oder ihm die Hand reichen sollte. Sie entschied sich für Letzteres. Er war unrasiert und blass und seine Hand war feucht. Dem äußeren Anschein nach hatte er seit Tagen kein Auge zugetan.

»Meine Güte«, sagte sie leise. »Kaum lässt man dich zwei Jahre allein, schon siehst du dreißig Jahre älter aus.« Krüger war immer ein fanatischer Sportler gewesen. An die zwei Meter groß. Durchtrainiert. Ohne ein Gramm Fett am Körper. Jetzt aber wirkte er fast schon ausgemergelt.

Er grinste breit, doch die Art, wie er ihre Hand drückte, schien nicht zu seiner Mimik passen zu wollen. »Ich weiß. Zu viele Überstunden in letzter Zeit. Aber ich gebe mich immer noch der Hoffnung hin, der Verfall sei reversibel.« Jemand lachte.

Als sie sich erschöpft auf die Sitzfläche fallen ließ, schob sich eine Hand in ihr Gesichtsfeld und stellte eine Kaffeetasse vor ihr ab. Es war Mildenberger. Er trug ein graues Hemd, und unter seinen Armen hatten sich handtellergroße Schweißflecken gebildet. »Noch immer mit Milch, aber ohne Zucker, nehme ich an.«

»Ja, bestens. Vielen Dank.«

Wie Krüger so war auch er unverkennbar froh, sie zu sehen. Ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Aufgrund seiner Körperfülle wirkte Mildenberger ruhig und gemütlich und wurde daher oft unterschätzt. In Wirklichkeit aber verfügte er über einen scharfen Verstand und genügend Selbstbewusstsein, um sich die Argumente seiner Mitarbeiter in Ruhe anzuhören und um notfalls von seiner eigenen Meinung abrücken zu können. Ein angenehmer Chef, der sie mehrmals gerügt, sie aber nie am Denken gehindert hatte.

»Schröder hat mir erzählt, dass Sie wegen uns vorzeitig aus Los Angeles zurückkehren mussten. Ich kann mir vorstellen, was Ihre Zeit beim FBI und beim LAPD für Sie bedeutet haben muss. Ich kann nur hoffen, dass Sie uns das nicht ewig nachtragen werden.« Die Selbstverständlichkeit, mit der er das Los Angeles Police Department zum LAPD abkürzte, wirkte derart routiniert, als hätte er es geübt.

»Der loyale Gefolgsmann verwirklicht nicht seine eigene Existenz, sondern die seines Fürsten«, zitierte sie sarkastisch, und als Mildenberger sie argwöhnisch musterte, fügte sie schmunzelnd hinzu: »Yamamoto. Der Weg des Samurai.«

»Das klingt ziemlich bitter«, stellte er verunsichert fest. An seiner Stirn widersetzten sich mehrere große Schweißtropfen trotzig der Schwerkraft, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nachgeben würden.

»Geben Sie mir eine Woche! Dann werde ich Mannheim wieder aus tiefstem Herzen lieben. Momentan allerdings hätte ich nichts dagegen, wenn mitten auf dem Marktplatz ein Vulkan ausbräche und die Stadt in Schutt und Asche legen würde.«

Mildenberger biss sich demonstrativ auf die Unterlippe. »So etwas Ähnliches hatte ich bereits befürchtet. Als ich Schröder anrief, um Sie als Unterstützung anzufordern, konnte ich wirklich nicht ahnen, was ich damit anrichten würde. Uns war nur klar, dass wir einen Profiler benötigten. Ihr Kollege hatte kurz zuvor einen Unfall erlitten. Somit fiel die Wahl zwangsläufig auf Sie.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich säße mit Sicherheit auch hier, wenn Rössler das Skateboard verfehlt hätte. Schröder ist schlau. Zu schlau, als dass er es riskieren würde, die Erwartungen der Öffentlichkeit zu enttäuschen. Ich hoffe nur, allen Beteiligten ist klar, dass auch ich keine Wunder vollbringen kann.«

»Keine Sorge. Sollte man Sie unter Druck zu setzen versuchen, werde ich mich schützend vor Sie stellen. Und wie Sie unschwer erkennen können, bin ich um einiges breiter als Sie.« Sein Blick fiel auf die Narbe auf ihrer linken Wange und sie ahnte, was ihm durch den Kopf ging. »Hatten Sie unterwegs ein wenig Zeit, sich in die Fälle einzuarbeiten, oder sollen wir sie nochmals gemeinsam durchgehen?« Den letzten Satz sprach er so laut aus, dass jeder ihn hören konnte.

»Beides«, erwiderte sie und griff eilig nach ihrer Kaffeetasse. »Wenn Sie mir vielleicht vorher noch kurz die sechs Neuen vorstellen könnten?«

»Natürlich«, sagte Mildenberger. Indem er nacheinander auf die ihr unbekannten Gesichter deutete, nannte er in rascher Folge Aufgabenbereiche und Namen. Wie sie vermutet hatte, arbeiteten fünf von ihnen für die Kripo, Gesicht Nummer sechs dagegen gehörte der zuständigen Staatsanwältin Mira Breitbusch-Keese, ein Name, bei dessen Nennung Mildenbergers Mundwinkel zuckten, ein Name wie eine Strafe. Als sie Lena Böll zulächelte, war zu sehen, dass sie sich die Freundlichkeit bewusst abringen musste. Der ältere Mann hieß Markus Klein. Sein Haar war bereits völlig ergraut und ging an einigen Stellen ins Weiße über. Er trug ein schwarzes Hemd und eine Brille mit dicken schwarzen Rändern, was ihm den Look eines exzentrischen Künstlers verlieh. Was er vorher getan und was ihn nach Mannheim verschlagen hatte, erfuhr sie nicht.

»In Ordnung«, sagte Krüger, nachdem Mildenberger zum Ende gekommen war. »Dann fasse ich jetzt also noch einmal kurz zusammen, was wir bisher haben.«

Ein junger Polizist, der – wie Lena Böll Minuten zuvor erfahren hatte – Müller hieß, drückte eilig auf den Schalter des Beamers. Augenblicklich verfärbte sich die weiße Leinwand ockerfarben und verwandelte sich in die mit Symbolen übersäte Oberfläche von Krügers Laptop. Als Bildschirmhintergrund hatte er das Monument Valley gewählt. Krüger liebte die Wüste. Vor ein paar Jahren war er sogar den Badwater Ultra gelaufen. Zweihundertfünfzehn Kilometer durch die Gluthölle des Death Valley. Der Cursor huschte an den oberen Bildschirmrand, zu einem leuchtend gelben Blitz, und auf der Leinwand erschien das Bild einer schönen jungen Frau.

»Martina Arnold, zwanzig Jahre alt. Zog vor einem Jahr nach Mannheim, um Psychologie zu studieren. Lebte zuvor mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in Worms. Zum Zeitpunkt ihrer Entführung teilte sie sich mit drei weiteren Studentinnen eine Altbauwohnung in der Neckarstadt. Kein fester Freund. Drei Monate nach ihrer Ankunft in Mannheim war sie kurzzeitig mit einem Kommilitonen liiert, der aber für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi vorweisen konnte. Neben ihrem Studium war sie politisch beim Bund für Umwelt- und Naturschutz engagiert. Kurz vor ihrem Tod wurde sie vom Mannheimer Morgen interviewt. Wegen der bevorstehenden Artenschutzkonferenz in Katar. Der Artikel und ein Bild von ihr wurden im Lokalteil abgedruckt. Gut möglich, dass der Täter erst dadurch auf sie aufmerksam wurde. Sie wurde zuletzt am sechsundzwanzigsten März gesehen. Gegen siebzehn Uhr in der Nähe des Strandbads. Der Täter hat sie vermutlich beim Joggen am Rheinufer überrascht, wo genau, ließ sich leider nicht nachvollziehen. Bei der Obduktion fanden sich in ihrem Nacken zwei winzige Verbrennungen. Nach Ansicht von Doktor Wechters handelt es sich dabei eindeutig um Strommarken. Das heißt, sie wurde mit einem Elektroschocker attackiert.«

Daher der Blitz, dachte Böll.

»Anschließend blieb sie zwei Tage verschwunden und wurde am Achtundzwanzigsten um acht Uhr morgens von einem Spaziergänger auf einem Parkplatz bei Walldorf gefunden.«

Das nächste Bild zeigte den Auffindeort. Die Frau lag auf dem Rücken, völlig nackt, die Beine weit gespreizt, auf eine Weise, die unmöglich zufällig entstanden sein konnte. Um sie herum Dutzende von Spurenziffern. An ihrer Kehle klaffte eine spindelförmige Wunde, in deren Tiefe Muskeln und Sehnen zu erkennen waren. Dennoch fand sich an der Leiche kaum Blut.

Lena Böll hatte das Bild bereits im Flugzeug gesehen. Trotz des Fensterplatzes und obwohl sie den Laptop so weit wie nur möglich zur Seite gedreht hatte, war es ihrem Sitznachbarn dennoch gelungen, einen Blick zu erhaschen. »Oh my god«, hatte er gestöhnt und sie entsetzt angestarrt. Sie hatte nur bedauernd mit den Schultern gezuckt.

Ihr war klar, dass jede ihrer Regungen von den Anwesenden genau beobachtet wurde. Besonders von den Neuen. »Er hat sie gewaschen und gekämmt«, stellte sie nüchtern fest. »Hat sich das beim zweiten Opfer wiederholt?«

In der Peripherie ihres Gesichtsfeldes redete Mildenberger auf einen der Frischlinge ein, Katja Bleskjew, eine drahtige Blondine mit gepierctem Nasenflügel und einer punkig gestylten Kurzhaarfrisur. Sie trug ein olivgrünes Trägerhemd, und ihre Oberarmmuskulatur ließ unschwer erkennen, dass sie regelmäßig Sport trieb. Die Frau nickte, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ betont selbstbewusst den Raum.

»Ja«, antwortete Krüger. »Zu Beginn war unklar, ob es sich tatsächlich um den gleichen Täter handelte. Erst als die Kriminaltechniker nachweisen konnten, dass beide Frauen mit dem gleichen Duschgel gesäubert wurden, waren wir uns unserer Sache allmählich sicher. Nach ihrer Ermordung wurde sie gründlich gebadet. Selbst in der Scheide und im Darm wurde Seifenlösung nachgewiesen.«

Als sie die Kaffeetasse zum Mund führte, wechselte Krüger zum nächsten Bild. Es zeigte eine Großaufnahme des rechten Handgelenks, an dem ein bläulich verfärbter Streifen zu erkennen war.

»An der Leiche waren Spuren einer Fesselung zu erkennen. Sie ist zweifellos wiederholt vergewaltigt worden, aber direkt am Körper fanden sich weder Sperma noch anderes Zellmaterial. Dafür wurden in der näheren Umgebung des Fundortes mehrere Zigarettenkippen sichergestellt, die allerdings unterschiedliche DNA aufwiesen – was natürlich nicht ausschließt, dass eine von ihnen dennoch vom Täter stammen könnte. An den abgeschürften Stellen konnten wir mikroskopische Faserspuren nachweisen, Fragmente eines rot-weiß geflochtenen Polyesterseils, die uns aber ebenfalls nicht weiterbrachten.«

Krüger wollte bereits zum nächsten Bild wechseln, aber Lena Böll kam ihm mit einer Frage zuvor. »Da ist etwas, was ich nicht verstehe. Mit dem Elektroschocker konnte er zwar kurzfristig ihre Muskulatur ausschalten und sie somit kampfunfähig machen, aber betäuben konnte er sie auf diese Weise kaum.«

»Völlig korrekt«, meldete sich Roland Wechters zu Wort und sprang dynamisch wie ein Springball vom Stuhl auf die Sohlen seiner Birkenstock-Sandalen. Seine Leinenhose und sein weites Hemd waren eindrucksvoll zerknittert, so als hätte er in der vergangenen Nacht in voller Bekleidung geschlafen, angesichts der Hitze ein eher abwegiger Gedanke, aber sie wusste, dass er gelegentlich im Institut übernachtete, auf einem Feldbett allerdings, und nicht etwa auf einem der Obduktionstische, wie böse Zungen behaupteten. »Er hat sie mit dem Schocker außer Gefecht gesetzt und sie anschließend mit Chloroform betäubt. In ihrem Körper waren Spuren von Trichlormethan nachzuweisen, und es fanden sich Druckstellen und eine auffällige Hautreizung an Mund und Nase.«

Krüger drückte mehrfach auf die Return-Taste und die Leinwand zeigte Martina Arnolds Mund. Dicht über der Oberlippe waren deutlich eine Rötung und ein blauer Fleck zu erkennen.

Lena Böll streichelte nachdenklich den Rand ihrer Kaffeetasse. »Da Chloroform nicht für jedermann zugänglich ist, wäre es möglich, dass der Täter über einen Berechtigungsschein verfügt. Oder dass er das Chloroform selbst herstellen kann. Das heißt, er gehört entweder einer autorisierten Berufsgruppe an, oder er verfügt über die erforderlichen chemischen Grundkenntnisse, um es zu Hause zu produzieren.«

Krüger nickte ihr anerkennend zu. »Stimmt genau. Insofern sahen wir in dem Chloroform auch unsere am meisten versprechende Chance. Wir kontrollierten Apotheken und Großhandel auf entsprechende Einkäufe und überprüften Hunderte von Kunden, leider ohne Erfolg. Derzeit müssen wir davon ausgehen, dass er das Chloroform vermutlich selbst produziert. Vielleicht ist er Chemiker, vielleicht Apotheker. Vielleicht hat er sich sein Wissen aber auch einfach per Internet angeeignet.«

Die Blondine, die auf Mildenbergers Anweisung nach draußen verschwunden war, betrat erneut den Raum und bahnte sich einen Weg durch die Stuhlreihen, wodurch eine erhebliche Unruhe entstand. Als sie den Tisch erreicht hatte, stellte sie lächelnd einen Teller vor ihr ab. »Anti-Jetlag-Nahrung«, sagte sie freundlich. Auf dem Teller drängten sich zwei Stück Rhabarberkuchen, mit Streuseln so groß wie Haselnüsse. Daneben lag eine zierliche Gabel.

»Wow!«, stieß Lena Böll verblüfft hervor. »Mein Lieblingskuchen!« Mildenberger war wirklich ein Schatz.

»Auch in puncto Elektroschocker kamen wir am Ende nicht weiter«, fuhr Krüger grinsend fort. »Womöglich hat er sich das Gerät schon vor geraumer Zeit besorgt. Vielleicht sogar außerhalb des Landes.«

Er drückte erneut einen Knopf, und ein weiteres Szenario tat sich auf. Wiederum eine Schönheit, dieses Mal brünett. Sie saß nackt auf einer Bank, fast schon kunstvoll in Szene gesetzt, erneut mit gespreizten Beinen. Der Schambereich war zusätzlich mit Lippenstift geschminkt, um ihn gezielt hervorzuheben. Interessanterweise hatte der Täter beim zweiten Opfer die Tötungsmethode gewechselt. Der Mund war komplett mit Klebeband versiegelt.

»Zwei Monate später griff sich der Täter das nächste Opfer, erneut in Mannheim, Amelie Weisser, eine Siebzehnjährige, auf dem Nachhauseweg von der Diskothek. Als sie auf den Täter traf, war sie allein und zu Fuß unterwegs. Nach Aussage von Zeugen war sie beim Verlassen der Disco stark angetrunken, so stark, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Gegen zwei Uhr morgens war sie mit ihrem Freund aneinandergeraten, als dieser mit einer anderen flirtete. Den Freund haben wir natürlich eingehend überprüft. Da er aber Amelies Abgang prompt dazu benutzte, um seine neue Flamme auf dem Männerklo zu vögeln, verfügt er über ein eindrucksvolles Alibi. Die Strecke von der Diskothek bis zur Wohnung der Eltern beträgt etwa zwei Kilometer. Das Opfer kam aber niemals dort an, so dass schnell klarwurde, dass der Abgreifort irgendwo zwischen diesen beiden Punkten liegen musste. Wir setzten daher Hunde ein, und in der Tat, nach etwa der Hälfte der Strecke verlor sich ihre Spur. Was bedeutet, dass sie unterwegs in einen Wagen eingestiegen sein muss. Wahrscheinlich sogar freiwillig. Zumindest fanden sich keine Hinweise, die auf einen Kampf hindeuteten. Und wie bereits gesagt, sie war stark alkoholisiert. Wochenlang fehlte jede Spur von ihr, dann saß sie nackt auf einer Bank, in einem Waldstück bei Weinheim, wo sie an einem Sonntagmorgen gegen neun Uhr morgens aufgefunden wurde. Im Gegensatz zum ersten Opfer wurde Amelie Weisser erstickt. Daher auch unsere anfänglichen Zweifel, ob dieser Mord dem gleichen Täter zuzuordnen wäre. Aber mit der Zeit fanden sich zahlreiche Parallelen: Das Duschgel, Strommarken, das Muster der Fesselung, der Nachweis von Polyesterfasern. Dazu insgesamt vier Haare, die eindeutig nicht von der Toten stammten, zwei davon mit Wurzel, so dass wir DNA sichern konnten. Wie sich allerdings schon bald herausstellte, war jedes dieser Haare einer anderen Person zuzuordnen.« Er griff nach seinem Wasserglas und trank es in einem Zug leer. Dann fuhr er fort: »Wenige Wochen vor ihrem Verschwinden hatte Amelie in den deutschen Turnmeisterschaften den ersten Platz belegt. Sie galt als extrem talentiert, und ihr wurden sogar Chancen eingeräumt, in zwei Jahren an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Ihr Bild war daher in verschiedenen Zeitungen abgebildet gewesen. Der Täter konnte logischerweise nicht ahnen, dass ihr Freund sie ausgerechnet am Tatabend sitzenlassen würde, aber wir gehen dennoch davon aus, dass es keine Zufallsbegegnung war, sondern dass sie gezielt ausgesucht wurde. Natürlich haben wir auch sämtliche Besucher der Diskothek überprüft. Über vierhundert Personen. Aber das führte uns bislang nicht weiter.«

Während Krüger die restlichen Bilder durchlaufen ließ, schob sich Lena Böll ein großes Stück Kuchen in den Mund. Es war nicht zu übersehen, dass der Täter sich seit der ersten Tat weiterentwickelt hatte und dass er seine eigenen Phantasien zunehmend in ein Bild zu kleiden versuchte. Sie wandte sich an Wechters. »Waren an den Nasenflügeln Druckstellen nachzuweisen?«

Wechters nickte. »Deine Vermutung trifft zu. Er hat ihr am Ende einfach die Nase zugehalten. Beim ersten Mord hatte er dem Opfer nicht nur die Luftröhre, sondern auch die rechte Halsschlagader durchtrennt. Ein Anfängerfehler. Was das heißt, kann man sich unschwer vorstellen. Vielleicht war er geschockt. Vielleicht auch überrascht, als ihm klarwurde, dass er die ganze Sauerei irgendwie wieder loswerden musste. Es dürfte Stunden gedauert haben, das Blut aufzuwischen und die Spuren zu beseitigen. Es sei denn, er verfügt über ein eigenes Schlachthaus oder einen Raum, zu dem niemand jemals Zugang hat.«

»Natürlich hast du recht«, sagte sie mit vollem Mund. »Aber ich glaube nicht, dass er die Methode ausschließlich aus praktischen Überlegungen gewechselt hat.«

»Sondern?«, fragte Wechters zurück.

»Er versucht, seine Phantasien zu befriedigen. Das Durchschneiden der Kehle war dazu nicht geeignet. Wahrscheinlich hat es ihn abgestoßen. Er experimentiert noch. Und er entwickelt sich weiter. Es geht ihm um Kontrolle. Die Methode mit dem Klebeband ist dafür geradezu ideal. Er kann sein Opfer bestrafen, wann immer er will, er kann es quälen, ihm die Luft zum Atmen nehmen und dann wieder Gnade walten lassen. Schon ein kleiner Druck seiner Fingerkuppen entscheidet über Leben und Tod. Das erregt ihn. Gut möglich, dass sie auch im Moment ihres Todes noch ein letztes Mal vergewaltigt worden ist. Schwer zu sagen, ob er diese Tötungsart beibehalten wird, aber es würde mich wundern, wenn er zu seiner ersten Methode zurückkehren würde.«

Wechters verzog keine Miene, aber die Frischlinge starrten sie mit offenem Mund an.

»Wenige Tage später hat er dann Johanna van Ahsen entführt«, unterbrach Krüger die Stille. »Aus ihrem Haus in Feudenheim. Wie er das angestellt hat, ist uns bis heute nicht klar. Nach Aussage Ihres Bruders wurde sie vor Jahren von einem Stalker bedroht und war daher im Besitz einer Schusswaffe. Eine Walther P22. Da wir die Pistole nicht fanden, müssen wir davon ausgehen, dass der Täter sie an sich genommen hat. Wie bei den beiden anderen Fällen fanden wir keine verwertbaren Spuren. Was keineswegs heißt, dass wir nichts gefunden hätten.« Das Bild, das die Leinwand färbte, zeigte einen kleinen gepflegten Vorgarten und eine dunkelgrün gestrichene Haustür. Auf dem Weg, der zur Tür führte, standen dicht aneinandergedrängt an die dreißig Spurenziffern. »In unmittelbarer Nähe der Haustür stieß die SPUSI auf zwölf Zigarettenstummel. Weiterhin auf drei verschiedene Kaugummis, zahlreiche Fasern und Fussel sowie auf mehrere Haare, darunter auch ein Hundehaar. Bei jedem der Objekte fand sich eine andere DNA. Wir sind uns sicher, dass sie der Täter bewusst zurückgelassen hat, um uns in die Irre zu führen. Er fand das wohl witzig, wir natürlich weniger.«

»Was für eine Art von Hund?«

»Das haben wir uns natürlich auch gefragt. Nach Ansicht unserer Experten stammt das Haar von einem Jack-Russell-Terrier, einer Hunderasse, die sich leider großer Beliebtheit erfreut. Allein in Mannheim gibt es Hunderte davon. Wir haben dennoch versucht, die Dateien der Hundesteuerzahler mit unseren Sexualstraftätern abzugleichen, sind aber nur auf zwei Übereinstimmungen gestoßen, die beide ein Alibi vorweisen konnten. Selbstverständlich dachten wir nicht, dass der Täter so dumm sein könnte, am Tatort ein Haar seines eigenen Hundes zurückzulassen. Wahrscheinlich hat er es irgendwo aufgesammelt, um es uns später als Beweismittel zu präsentieren. Trotzdem wäre es hochinteressant, zu wissen, wo er dieses Haar aufgetrieben hat.« Er ließ kurz seinen Kopf kreisen, und das Knacken, das die Bewegung auslöste, war bis in die letzte Reihe zu vernehmen. »Letztendlich sind unsere Ergebnisse ernüchternd. Sämtliche Zeugenaussagen und Spuren haben sich irgendwann als Sackgassen entpuppt, ebenso die Befragung der üblichen Verdächtigen. Bislang scheint ihn niemand bei seinem Treiben beobachtet zu haben, und alles, was wir gegenwärtig tun können, ist warten.«

Lena Böll stellte ihre Kaffeetasse auf die Tischplatte zurück. Als sie den Blick hob, waren die Augen der Anwesenden nicht mehr auf Krüger, sondern ausnahmslos auf sie gerichtet. Sie seufzte.

»Ich hätte in L.A. bleiben sollen.«