11:09
Als Lena Böll den Vernehmungsraum betrat, ging ein Strahlen über Golds Gesicht. Sie nickte ihm zögernd zu. Ihr letztes Treffen lag Jahre zurück. Damals hatte er den Tod seiner Frau gerächt und auf bestialische Weise drei Serben getötet. Zumindest nahm sie das an. Man hatte ihm am Ende nichts nachweisen können, aber sie war am Tatort gewesen und hatte die Männer gesehen. Wer so etwas tat, war zu allem fähig. Seit damals schien Gold sich verändert zu haben, aber wenn schon sie den Anblick der Leichen nicht mehr loswerden konnte, dann mit Sicherheit auch nicht er.
»Hallo, Gold«, sagte sie, während sie sich auf einen der Stühle setzte.
»Hallo, Böll«, gab er freundlich zurück. »Schön, Sie mal wieder aus der Nähe zu sehen.«
Früher hätte sie ihm diese Bemerkung übelgenommen. Damals hatte er sie immer gemustert, als fragte er sich, wie viel er pro Stunde für sie einfordern konnte. Der Blick eines eiskalten Geschäftsmannes. Früher war sie für ihn nicht mehr gewesen als hübsches verkäufliches Fleisch. Jetzt aber schien er in ihr etwas anderes zu sehen, denn er betrachtete sie mit wohlwollendem Respekt.
Kurz nach zehn Uhr hatte er gemeinsam mit seinem Anwalt das Polizeipräsidium betreten, im Erdgeschoss an der Information seinen Namen genannt und seelenruhig erklärt, kooperieren zu wollen. Der Beamte am Informationsschalter war fassungslos gewesen. So wie alle anderen auch. Seit Tagen wurde bundesweit nach Gold gesucht. Sein Erscheinungsbild war extrem auffällig, so dass er mehr hervorstach als sein unscheinbarer Freund, und da beide gemeinsam geflüchtet waren, war es erfolgversprechender gewesen, sich auf Gold zu konzentrieren.
Der Anwalt war ein smarter Bursche namens König, der neben Gold wie ein Hänfling wirkte, sich aber von der Situation nicht einschüchtern ließ.
»Immer, wenn wir uns treffen, ist jemand tot«, sagte Böll.
»Das ist wahr«, stimmte Gold ihr zu. »Aber ich glaube, inzwischen liegt das weniger an meinem als an Ihrem Job.«
Vermutlich hatte er recht. Vielleicht traf es ja wirklich zu, was man sich erzählte: dass er seit Jahren ein friedliches Leben führte, während sie noch immer der Spur des Todes folgte.
»Sie haben in Speyer einen Süßwarenladen eröffnet. Warum ausgerechnet Süßigkeiten?«
»Ich war eben schon immer ein Leckermäulchen«, antwortete er amüsiert. »Nein, im Ernst: Hätte ich eine Kneipe gepachtet, so hätten alle gedacht, das wäre nur Tarnung, und ständig wären irgendwelche Knackis vorbeigekommen, um über die alten Zeiten zu plaudern, sich von mir einladen zu lassen oder mir krumme Geschäfte vorzuschlagen. So etwas Peinliches wie ein Süßigkeitenladen konnte dagegen nur bedeuten, dass mich das Leben gebrochen hatte und dass ich es mit dem Ausstieg wirklich ernst meinte.«
Mit einem Mal sah er traurig aus. Man hätte ihn fast schon bemitleiden können, aber da sie seine Akte kannte, war sie dagegen immun.
»Sie und Ihr Freund haben uns ganz schön auf Trab gehalten«, sagte sie streng.
Bis jetzt hatte Gold seine Verbindung zu Romberg noch nicht offiziell eingestanden. Sie hoffte, dass ihm sein Anwalt nicht vorschnell ins Wort fallen würde, doch König verzog keine Miene. Offensichtlich hatte Gold ihm detaillierte Anweisungen erteilt und ihn angewiesen, sich zurückzuhalten.
»Das lag bestimmt nicht in unserer Absicht«, versicherte Gold. »Aber zuletzt gerieten die Ereignisse ein wenig … außer Kontrolle.« Sein Blick streifte beiläufig den großen Einwegspiegel. Dass dahinter Zuschauer standen, schien ihn nicht zu stören. »Darf man hier rauchen?«
»Manche schon«, antwortete sie.
Wenige Sekunden, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, öffnete sich die Tür.
»Hallo, Gold«, sagte Mildenberger, trat in den Raum und stellte behutsam einen Aschenbecher auf den Tisch.
Gold grinste breit. »Vielen Dank! Ich überlege gerade, was wohl passiert, wenn ich noch zusätzlich um ein Glas Wasser bitte? Bringt mir das dann der Innenminister?«
Mildenberger ignorierte den Scherz und zog sich wortlos zurück. Anwalt Königs Gesichtsmuskeln spannten sich sichtbar an.
»Wie geht es Max Romberg?«, fragte Böll. »Wurde er schwer verletzt?«
Bis vor wenigen Tagen hatte sie befürchtet, Romberg könnte es nicht geschafft haben. Dann aber, am Freitag, hatte er gegen Abend seinen Bruder angerufen und ihm versichert, dass es ihm deutlich besser ginge. Achim Rombergs Telefon wurde abgehört, und so vergingen nur wenige Minuten, bis die SOKO davon erfuhr. Was Romberg sagte, klang zuversichtlich. Dass Achim sich keine Sorgen machen müsse. Dass er ihm einen Betrag von zweihunderttausend Euro überwiesen habe, welchen er beim Pokern gewonnen hatte. Und dass er sich demnächst nochmals melden würde. Der Anruf kam aus Polen.
»Keine Sorge«, antwortete Gold. »Romberg geht es gut. Mag sein, dass ich eure Ermittlungen ein wenig behindert habe. Aber er ist mein Freund. Mir blieb keine andere Wahl.«
»Die Heckler & Koch haben Sie ihm ebenfalls besorgt, nehme ich an?«
König öffnete den Mund, aber Gold kam ihm zuvor. »Da liegen Sie leider falsch. Ich habe ihm lediglich gezeigt, wie man eine Pistole benutzt. Am Tag vor der Schießerei. Auf einem Schießstand in Speyer. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch der Meinung, er würde von russischen Zockern bedroht, die er beim Pokern über den Tisch gezogen hatte. Um was es wirklich ging, erfuhr ich erst später. Genaugenommen erst während der Schießerei. Als nämlich Carmen Mingus bei mir anrief und mir mitteilte, dass Romberg angeschossen wurde und sich in höchster Gefahr befand. Erst da wurde mir schlagartig klar, dass es hier um wesentlich mehr ging als um Poker.«
»Und dann sind Sie zu Lörs’ Haus gefahren und haben ihn dort abgeholt.«
»Ja.«
»Und anschließend haben Sie Carola Lauks Leiche abtransportiert. Verhalten Sie sich Freunden gegenüber immer so loyal?«
»Nein, nicht immer. Aber ich stand in seiner Schuld. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, erstmals in meinem verkorksten Leben eindeutig auf der Seite der Guten zu stehen.« Bevor er weitersprach, streifte sein Blick prüfend ihr Gesicht. »Also fuhren wir zu ihm nach Hause, um die Blutung zu stillen. Er war kaum noch ansprechbar, aber er bestand darauf, dass ich die Leiche aus der Tiefkühltruhe holte und sie kämmte und … Sie wissen schon.«
»Und dann?«
»Dann fuhren wir los. Zu einem Arzt, der mir in der Vergangenheit schon einmal weitergeholfen hatte. Er hat Romberg operiert und dafür gesorgt, dass er überlebt.«
»Und wo ist Romberg jetzt?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir haben uns kurz darauf getrennt. Aber ich habe seine Handynummer. Für den Fall, dass Sie ihn anrufen möchten.«
Sie glaubte zuerst, Gold nähme sie auf den Arm. »Ist das Ihr Ernst?«
»Klar.« Gold grinste breit. »Manchmal laufen die Dinge im Leben eben anders ab, als man es sich im Voraus ausgemalt hat. Kurz bevor ich hier hereinmarschiert bin, habe ich übrigens beim ›Stern‹ angerufen und ihnen die Exklusivrechte für die Story angeboten. Das war Rombergs Idee. Als kleiner Dank, um mich über die Unannehmlichkeiten hinwegzutrösten. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?«
»Nein, nein. Das wird bestimmt unglaublich spannend«, erwiderte sie bissig.
Seit Kurt Lörs’ Tod waren die Medien wie verrückt hinter dieser Story her. Gold würde ein Vermögen verdienen. Dass Lörs die Frauen ermordet hatte und dass es sich um einen Einzeltäter handelte, stand inzwischen völlig außer Zweifel. In seinem Haus wurde eine Vielzahl von Spuren gefunden, die den ermordeten Frauen zugeordnet werden konnten, daneben auch ein Elektroschocker, ein Vorrat Chloroform sowie die für seine Herstellung erforderlichen Chemikalien. Auch die in Sankt Sebastian gefundene DNA stimmte mit der seinen überein. Aber schon bald waren alle nicht mehr an Lörs, sondern nur noch an Nummer Zwei interessiert, so dass die eigentlichen Morde in den Hintergrund rückten. Und auch die Bemühungen der SOKO, die zur Lösung des Falls anscheinend nur wenig beigetragen hatte. Als dann aber Lena Böll der staunenden Presse schon bald darauf Max Rombergs Namen präsentierte und als weiterhin das Original des von ihm verfassten Briefes auftauchte, wurde nachträglich deutlich, dass Böll und die anderen Beamten auf den Ablauf der Ereignisse durchaus Einfluss genommen hatten. In welcher Form, begriffen glücklicherweise nur die wenigsten. Schröder begriff es durchaus. Natürlich war er wütend. Aber auch unverkennbar stolz. Mira Breitenbusch-Keese, die erkennen musste, dass man sie gezielt ausgebootet hatte, war ebenfalls gekränkt, aber auch klug genug, sich in ihren Reaktionen zurückzuhalten und an dem Erfolg schweigend teilzuhaben.
»Die Nummer?«, fragte Lena Böll leise.
Gold griff in die Tasche seines Hemdes, brachte einen zerknitterten Zettel zum Vorschein und schob ihn quer über die Tischplatte, bis er ihre Fingerspitzen berührte.
»Bis gleich«, sagte sie und erhob sich von ihrem Stuhl.
Draußen warteten Mildenberger, Klein und Krüger auf sie. Sie hatten das Gespräch durch die Einwegscheibe beobachtet und sahen angespannt aus. Katja Bleskjew fehlte. Sie hatte sich eine Woche frei genommen, um sich um Verena zu kümmern und um das Begräbnis ihrer Mutter zu organisieren.
»Glauben Sie ihm?«, fragte Mildenberger.
»Das meiste schon. Dass er behauptet, ihm nicht die Waffe besorgt zu haben, natürlich nicht.«
Mildenberger nickte. Seitdem klar war, dass Nummer Zwei noch lebte, wirkte er entspannt und extrem erleichtert, dass am Ende alles doch noch gutgegangen war.
»Rufst du ihn jetzt an?«, wollte Krüger wissen.
»Ja. Aber zuerst geben wir Leo Bescheid.«
Klein eilte davon. Erst als er Minuten später zurückkehrte und erst als klar war, dass der Anruf verfolgt und aufgezeichnet werden würde, griff sie nach dem Zettel. Während sie die Nummer wählte, schlug ihr das Herz bis zum Hals.
Auf der anderen Seite wurde umgehend abgenommen.
»Romberg.«
»Böll. Kripo Mannheim. Guten Tag, Herr Romberg. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«
»Ja, danke. Über das Schlimmste bin ich hinweg. Aber da Sie meine Handynummer nicht kennen würden, ohne zuvor mit Gold gesprochen zu haben, wissen Sie das ja bereits.« Wie sie es erwartet hatte, klang seine Stimme sympathisch. In seine Worte mischten sich lautstark merkwürdige Geräusche, die sie an das aufgeregte Gackern von Hühnern erinnerten.
»Jedenfalls freut es uns, zu hören, dass Sie heil davongekommen sind. Sie haben uns zwar ziemlich auf Trab gehalten und einiges durcheinandergeworfen. Aber letztendlich – das muss ich zugeben – haben Sie uns auch durchaus weitergeholfen.«
»Habe ich das?« Seine Stimme klang plötzlich bitter. »Leider kam ich trotz allem zu spät. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass er schon so früh wieder zuschlagen könnte. Hätte ich das geahnt, hätte ich Sie mit Sicherheit angerufen. Aber ich habe es nicht geahnt! Außerdem war ich mir unsicher, ob ich mich nicht doch getäuscht hatte. Wie geht es dem Mädchen?«
»Den Umständen entsprechend gut. Sie spricht ständig von Ihnen. Sie hat sich auch nicht von uns kleinkriegen lassen und Ihnen einen vollen Tag Vorsprung gewährt. Das sagt wohl alles, denke ich.«
»Wahrscheinlich ist sie mir nur deswegen dankbar, weil sie noch immer nicht die Zusammenhänge durchschaut. Weil sie nicht ahnt, dass ihre Mutter noch leben würde, wenn ich mein Wissen nicht über Tage zurückgehalten hätte. Und Sie? Halten Sie mich ebenfalls für schuldig?«
Lena Böll dachte nach. Die Antwort auf diese Frage war extrem kompliziert. »Wo sind Sie gerade?«
»Wieso? Wollen Sie mich verhaften?«
»Nein. Ich denke nicht. Ich möchte Sie einfach nur kennenlernen. Um mir über einige Details des Falles abschließend klarzuwerden. Ich bin Fallanalytikerin. Schon vergessen? Mir einen Typen wie Sie durch die Lappen gehen zu lassen, wäre absolut unverzeihlich.«
Als er weitersprach, hörte sie, dass er lächelte. »Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Das dürfen Sie mir glauben.«
»Ja, ich weiß.«
»Es war reiner Zufall, und eines ergab das andere.«
»Ja, das weiß ich ebenfalls.«
»Es ist merkwürdig. Lörs mag ein brutales Schwein gewesen sein. Aber ich bekomme seinen Gesichtsausdruck im Augenblick des Todes nicht mehr aus dem Kopf. Seit Tagen träume ich nicht mehr von meiner Tochter, sondern nur noch von ihm.« Sie hatte das Gefühl, dass er sich einen Rat erwartete, doch sie dachte an Hoffmann und schwieg. Schließlich fuhr er fort: »Eigentlich wollte ich Sie nur sprechen, um Ihnen zu versichern, dass Gold und Mingus keine Schuld trifft. Auf der Suche nach dem Mörder traf ich Gold zufällig in Speyer und erzählte ihm eine Geschichte von ein paar Russen, die ich angeblich beim Pokern ausgenommen hätte. Ich bat ihn, mir eine Waffe zu besorgen, aber anstatt zu liefern, ging er prompt zu Carmen Mingus, und diese bestellte mich zu einem Termin ein und fragte mir besorgt Löcher in den Bauch. Als sie schließlich begriff, dass ich Nummer Zwei sein musste, versuchte sie hartnäckig, mir die Sache auszureden. Ich bat sie um ein wenig Zeit, und was die Polizei betrifft, so hielt sie sich daran. Aber sie informierte den guten Gold, der zum Finale auch prompt zur Stelle war und mich von Lörs’ Haus aus in Sicherheit brachte. Ich hoffe, die beiden werden wegen der Sache keinen Ärger bekommen?«
Hatte er gerade den guten Gold gesagt?
»Nein, vermutlich nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Vermutlich wird aus dem guten Gold auf seine späten Tage noch ein leuchtender Held.«
Romberg lachte. »Ein Gespräch mit Ihnen würde mir vermutlich guttun«, sagte er schließlich. »Aber nur Sie und ich!«
Durch das offene Fenster drang das Blöken einer Vuvuzela an ihr Ohr. Heute Abend spielte Deutschland gegen Spanien, das mit Spannung erwartete Halbfinale. Fast die gesamte SOKO wollte sich in einem Biergarten treffen, um sich das Spiel gemeinsam anzuschauen. Als Schlussstrich unter den Fall und als Abschiedsritual. Schon tags darauf würde sie packen und zurück nach Stuttgart fahren. Ihre Arbeit in Mannheim war getan.
»In Ordnung«, versprach sie – eine Spur zu laut. Mildenberger zog erstaunt die Augenbrauen nach oben.
»Na schön. Ich werde darüber nachdenken. Aber Ihre Anreise zu dem Treffen dürfte sich ein wenig aufwendig gestalten. Ich rufe Sie in den nächsten Tagen an.« Dann legte er auf.
Während sie noch grübelte, was seine letzte Bemerkung zu bedeuten haben könnte, riss Leonhardt die Tür auf und rief ein einziges Wort in den Raum, das sie alle entgeistert verstummen ließ.
»Thailand.«