10:09
In der blauen Plastikbox lagen an die hundert Briefe. Daneben mehrere Prospekte und eine vereinzelte Postkarte. Allesamt an Sebastian und Anna Lauk adressiert. Ein bizarres Gemisch aus Anteilnahme, Häme und Geltungssucht. Eine Lawine aus Papier und Worten, der sich die Eltern täglich stellen mussten – teils rührend, teils kränkend, teils gezielt darauf aus, die Empfänger zu zerbrechen. Seitdem der Mörder erstmals mit den Lauks Kontakt aufgenommen hatte, wurde ihre Post automatisch umgeleitet und an die Kripo ausgeliefert. Als man den Eltern dies vorgeschlagen hatte, hatten sie nur zögernd eingewilligt, und nur unter der Bedingung, dass die Briefe nicht von wechselnden Beamten gesichtet würden, sondern von einer einzigen Person, die sie kannten und der sie vertrauten.
Lena Böll zog sich Handschuhe über, griff sich ein Dutzend Briefe und verteilte den Packen von links nach rechts auf der Schreibtischplatte. Ein Kuvert war gelb, die anderen weiß. Einige der Adressen waren getippt, die meisten mit der Hand geschrieben. Keiner der Umschläge erregte auf den ersten Blick ihr Interesse. Wie immer würde sie die Briefe aufmerksam prüfen und drei Kategorien zuordnen: Privates, Mitleid und Dreck. Dann würde sie die Stapel mit Gummis bündeln und zurück in die blaue Kiste legen. Anschließend würde sie einen Polizeibeamten damit beauftragen, die Box abzuholen und an die Lauks auszuliefern. Carolas Eltern würden den privaten Stapel lesen und vielleicht auch jene Briefe, die Anteilnahme auszudrücken versuchten. Den dritten Stapel aber würden sie beiseitelegen. Der dritte Stapel war nicht zu ertragen.
Sie griff nach der Schere und öffnete vorsichtig den ersten Umschlag. Schon die Einleitung ließ erahnen, welcher Kategorie er zuzuordnen war. Der Verfasser, eine Frau, riet den Eltern, ihr eigenes Leben zu überdenken und sich kritisch zu fragen, ob sie denn fromm und demütig gelebt hätten, so wie Gott, der Allmächtige, es den Menschen aufgetragen habe, und natürlich kam sie zu dem Schluss, dass den Lauks fatale Fehler unterlaufen sein mussten, denn nur so war es zu erklären, dass der Herr ihnen ein derart grausames Schicksal trotz seiner Milde nicht ersparen konnte.
Lena Böll verzog angewidert das Gesicht und legte das Schreiben beiseite, an jene Stelle, die der Rubrik Dreck zugedacht war. Welche Schlüsse würde diese blöde Kuh wohl ziehen, wenn sie selbst entführt, vergewaltigt und brutal getötet würde? Auch eine Lösung, mit den Unstimmigkeiten des Lebens klarzukommen und die eigenen Ängste abzuwehren: Indem man sich einzureden versuchte, in allem, was geschähe, läge ein tieferer Sinn und über dem eigenen Schicksal wachte ein interessierter und bestechlicher Gott. Lena Bölls Blick krallte sich müde in die Wand und bohrte sich weit durch sie hindurch. Sie selbst hatte den Glauben an die Lenkbarkeit des Lebens schon früh verloren. Damals, als ihre beste Freundin ihr berichtete, dass etwas mit ihrem Blutbild nicht stimmte. Zwei Wochen später hatte sie bereits alle ihre Haare verloren. Sechs Monate später war sie tot. Seither sah Lena Böll im Leben nicht mehr als einen Zufallsgenerator. Dem Leben waren die Menschen egal. Viele versuchten sich armselig einzureden, der Verlauf der eigenen Zukunft sei von der Ernährung abhängig, von der Menge der Bewegung und ihrer inneren Einstellung. So als würden sich Ameisen in einem Garten der Illusion hingeben, den auf sie herabsinkenden Fuß durch die Kraft ihrer Gedanken steuern und aufhalten zu können. Natürlich war das lächerlich. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie wütend Dutzende von Ameisen zertrat. Nur um sich die Beliebigkeit des Todes nochmals ins Bewusstsein zu rufen. In Momenten wie diesen war auch sie ein Serienkiller. Voller Wut auf die Naivität ihrer Mitmenschen und deren Glauben, bedeutsam und unantastbar zu sein. Den Einwohnern vieler Länder waren derartige Gedanken unbekannt. Sie waren sich ihrer Chancenlosigkeit von Geburt an bewusst. In den sogenannten zivilisierten Ländern verhielt es sich anders. Dort fürchtete man sich vor Banalitäten. Vor Pestiziden und Sonnenbrand, vor Handys und Geschmacksverstärkern. War es Menschen wie diesen nicht fast schon zu wünschen, gelegentlich von einem Raubtier bedroht zu werden?
Sie erschrak. So etwas durfte sie auf keinen Fall denken! Eilig griff sie erneut in die Kiste. Bevor sie den nächsten Brief las, würde sie erst einmal sämtliche Umschläge kontrollieren. Vielleicht stach ihr ja etwas ins Auge. Etwas, was sich aus der Masse der Schreiben abzuheben schien. Doch auch der zweite Packen ließ sie unberührt. Ebenso wie der dritte.
Während sie sich zur Seite drehte, um nach den nächsten Umschlägen zu greifen, ertönte die Melodie ihres Handys. Vermutlich Michael, dachte sie. Seit gestern waren auf ihrer Mailbox an die zwanzig Nachrichten eingelaufen, teils flehend, teils drohend, dann wieder sachlich und ernüchternd. Seit Wochen habe er keine Sicherheitskopie mehr erstellt, hatte er geklagt, und ohne den Computer sei er nichts. Sie hatte ihm nicht geantwortet. Vier Mal hatte er sie persönlich erreicht. Sie hatte jedes Mal wortlos aufgelegt. Beim ersten Mal hatte sie sich erbärmlich gefühlt. Beim vierten Mal aber hatte sie leise gelacht. Widerwillig schaute sie auf das Display. Es war die Nummer von Schröder. Sie seufzte. Er rief sicherlich nicht an, um Hallo zu sagen.
»Böll«, sagte sie – überflüssigerweise.
»Ich habe Sie heute schon einmal angerufen«, eröffnete er barsch.
»Ich weiß. Um sechs Uhr morgens.«
»Sie sind nicht rangegangen«, setzte er nach.
»Stimmt«, antwortete sie ruhig. »Wenn man dermaßen früh angerufen wird, handelt es sich entweder um einen Notfall oder um einen aggressiven Akt, und im Falle eines Notfalls hätten sich schon kurz darauf die Mannheimer gemeldet.«
»Sind Sie auf Streit aus?«, blaffte er sie an.
»Nicht unbedingt. Aber auch nicht auf Unterwerfung.« Sie trug es ihm immer noch nach, dass er sie aus Los Angeles abberufen hatte. Wenn er sich weiterhin einbildete, jederzeit über sie verfügen zu können, hatte er sich getäuscht.
Er holte hörbar Luft. Dann redete er wütend auf sie ein. Was denn in Mannheim los sei? Ob sie noch alle bei Sinnen wären? Welcher Teufel sie geritten hätte, die Ermittlungsresultate an die Presse weiterzugeben? Ob sie vielleicht bereits planten, ihre Ergebnisse zukünftig in Form einer Reality-Soap zu präsentieren? Dass er sich wohl glücklich schätzen dürfte, dass sie den Informanten beim Zugriff nur verletzt und nicht gleich erschossen hätten.
Um seine Macht zu schwächen, zündete sie sich eine Zigarette an und hielt ihr Feuerzeug so dicht vor das Handy, dass er das Ratschen des Feuersteins unmöglich überhören konnte. Sie sog den Qualm tief in ihre Lungen und stieß ihn geräuschvoll wieder aus. Während Schröder unablässig weiterredete, schaltete sie auf Lautsprecher und verteilte einen weiteren Stapel breitflächig auf der Tischplatte, so dass sie jeden Umschlag einzeln begutachten konnte.
Das vierte Kuvert von links war irgendwie anders. VERZEIHUNG! ES TUT MIR LEID! stand in großen Druckbuchstaben neben der Adresse, in zittriger Schrift, so als sei der Verfasser emotional aufgewühlt gewesen. Verzeihung? Das klang nicht nach dem üblichen Mitleidsgejammer. Als sie den Umschlag aufschlitzte, stieg ihr Qualm in die Augen. Sie blinzelte.
»He, Böll? Sind Sie noch da?«
Offensichtlich hatte Schröder, ohne dass sie es bemerkt hatte, seinen Monolog inzwischen abgeschlossen und erwartete sich nunmehr eine Reaktion.
»Ja. Darf ich zu alldem jetzt endlich auch etwas sagen?«, fragte sie schnippisch in den Hörer. Schröder ging ihr zunehmend auf die Nerven.
»Ich bitte sogar darum«, knurrte er verärgert zurück.
Liebe Frau Lauk! Lieber Herr Lauk! begann der Brief.
»Erstens«, sagte Böll, »habe ich mit dem Verschwinden der Leiche nicht das Geringste zu tun. Insofern bin ich auch nicht für die Komplikationen verantwortlich, die aus dem Verschwinden entstanden sind, entstehen und eventuell noch entstehen werden.«
Sie hörte ihn heftig atmen und war sich nicht sicher, ob es seine Wut war oder die Tatsache, dass ihm sein Redeschwall in den letzten Minuten kaum Gelegenheit gelassen hatte, sich ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen.
»Zweitens habe ich die Informationen nicht direkt an die Presse weitergegeben, sondern nur an die Eltern, mit der ausdrücklichen Bitte, diese vorerst noch vertraulich zu behandeln. Dass dies nicht klappen würde, war zu befürchten, aber es war das Risiko wert. Alternativ hätte ich die Infos natürlich auch gleich an die Presse weiterleiten können. Was den Ablauf nur geringfügig verändert hätte. Es hätte uns lediglich der Möglichkeit beraubt, den Kontakt mit Nummer Eins zu intensivieren.«
Während sie sprach, überflog sie den Text des auseinandergefalteten Schreibens. Mit jeder Zeile schlug ihr Herz schneller und hämmerte wild gegen die Innenseite der Rippen. So als wollte es heraus. Der Brief änderte alles.
»Nummer Eins, Nummer Zwei«, maulte Schröder. »Wer hat sich bloß diesen Scheiß ausgedacht? Da bekommt man ja Pickel im Hirn.«
Sie lugte gespannt in den Umschlag. In dem Brief war von einer Haarsträhne die Rede, die sie tatsächlich auch fand. Als sie weitersprach, hatte sie Mühe, ihre Stimme neutral klingen zu lassen.
»Drittens: Als Sie mich aus Los Angeles abkommandierten, war der Fall völlig festgefahren und van Ahsen so gut wie tot. Carola Lauks Entführung verschaffte uns keinerlei zusätzliche Hinweise. Im Gegenteil. Es stand daher zu befürchten, dass das Morden noch ewig so weitergehen könnte. Ich sollte Bewegung in die Ermittlungen bringen, und ich denke, das habe ich auch getan.«
»Ja, das haben Sie zweifellos. Allerdings hatte ich da eher an eine Aufwärtsbewegung gedacht.«
»Ich werde ihn kriegen«, erwiderte sie gereizt. »Und das wissen Sie genau! Wenn er sich jetzt nicht zurückzieht, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Wir haben sein Profil und inzwischen auch seine DNA. Das Einzige, was uns derzeit noch fehlt, ist irgendein Hinweis, der die Anzahl der Verdächtigen von einer Million auf eine überschaubare Teilmenge reduziert. Auf eine bestimmte Region zum Beispiel. Oder einen bestimmten Ort. Nur noch ein einziger winziger Hinweis. Dann machen wir zur Not eine Reihenuntersuchung und schnappen uns das Schwein.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr! Und was erzählen Sie der Presse über Carola Lauk? Und über den dubiosen Leichendieb? Dass sich die Öffentlichkeit noch wird gedulden müssen, da wir leider keinen Schimmer haben, wo die Leiche des Mädchens steckt?«
Nachdem sie den Brief sorgfältig zusammengefaltet hatte, steckte sie ihn zurück in den Umschlag. »Stehen Sie politisch unter Druck?«, fragte sie sanft. Ihr Pulsschlag hatte sich inzwischen wieder weitgehend normalisiert.
»Natürlich stehe ich unter Druck. Aber nicht annähernd so sehr wie Sie!«
Einen Moment lang war sie versucht, ihm zu sagen, dass sie gerade bester Dinge war, aber sie verkniff sich den Triumph. »Ich muss jetzt los«, erklärte sie knapp.
»Sie müssen was?«
»Los.«
»Sie haben hoffentlich nicht vor, jetzt aufzulegen? Das wagen Sie nicht!«
Warum ging er immer davon aus, dass man ihn wie selbstverständlich zu fürchten hatte? Schröders Macht beruhte allein auf dieser Furcht. Wenn man sich nicht beeindrucken ließ, wirkte er wie ein zahnloser brüllender Löwe.
»Tut mir leid, Chef. Es ist wirklich dringend. Vertrauen Sie mir! Ich mag ein renitentes Biest sein, aber so wie es aussieht, rette ich wohl auch dieses Mal Ihren Kopf. Sobald ich mehr weiß, rufe ich Sie an.«
»Bö…«, sagte er noch, dann drückte sie den Knopf.
Natürlich würde er jetzt toben, so laut, dass man es in Stuttgart noch drei Büros weiter hören konnte. Aber das spielte momentan keine Rolle. Von dem Brief durfte er vorerst nichts wissen. Sie brauchte auch weiterhin freie Hand. Würde sie Schröder von dem Schreiben erzählen, so würde er mit Sicherheit versuchen, das Ruder zu übernehmen und ihr Anweisungen zu erteilen. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Es war ihr Fall! Und sie hatte bereits einen Plan.
Sie atmete mehrmals tief durch.
Der Brief änderte alles.
Sie dachte an Carola Lauk. Die irgendwo in der Dunkelheit einer Tiefkühltruhe lag, weich gebettet auf einer Schicht aus Decken und Kissen. Wie Schneewittchen. In einem Sommerkleid. In ihrem Arm ein Kuscheltier.