Nachmittags

Gegen fünfzehn Uhr dreißig wurde die Übertragung der Pressekonferenz abgebrochen. In einer kurzen Pause wurde auf eine politische Sendung hingewiesen, die sich am Abend ausführlich mit der Wahl des Bundespräsidenten beschäftigen würde. Anschließend trat ein Mann mit Kochschürze vor die Kamera und versprach Romberg, ihm alles Nötige beizubringen, um beim nächsten Grillfest einen hervorragenden Kartoffelsalat zuzubereiten. Der Gedanke an glühende Grillkohle schien die Temperaturen im Innern des Hauses noch zusätzlich ansteigen zu lassen. Während der dickliche Koch die notwendigen Zutaten präsentierte, griff Romberg nach der Fernbedienung und checkte aus.

Danach ging er zum Computer und schrieb unmittelbar nacheinander drei Briefe. An Achim, an Carmen Mingus und an Gold. Während er den Brief an seinen Bruder formulierte, stiegen ihm mehrmals Tränen in die Augen, aber er ließ sich davon nicht aufhalten, sondern tippte unentwegt weiter, bis er das Schreiben mit dem Wort Danke zum Abschluss gebracht hatte.

Die Briefe legte er gut sichtbar auf den Küchentisch. Anschließend ging er zu der wurmstichigen Kommode im Flur und holte das Buch, das er schon vor Wochen bei E-Bay ersteigert und das er sich eigentlich für Achims Geburtstag aufgespart hatte. Melvilles »Moby Dick« in einer wunderschönen Pop-up-Version. Sein Bruder sammelte seit Jahren Aufklappbücher. Er verfügte über eine Sammlung von rund dreihundert Bänden, und wenn Romberg ihn besuchte, nahm er sich meist die Zeit, einige der Bücher durchzublättern. Romberg legte »Moby Dick« direkt neben den Brief.

Was tust du da eigentlich?, würde Maren jetzt fragen, aber sie schwieg.

Man kann nie wissen, dachte er bei sich, behielt es aber ebenfalls für sich.

Etwas abseits auf dem Küchentisch lag sein Portemonnaie. Während er noch über die Briefe nachdachte, zog er seine Kreditkarte aus dem Fach und kehrte zurück zu seinem Schreibtisch, wo er sich in das Pokerprogramm einloggte und viertausend Euro überwies.

Du musst völlig verrückt sein, dachte er, aber irgendetwas in seinem Innern war darauf aus, die Kontrolle zu verlieren.

Nachdem die Transaktion abgeschlossen war, wählte er einen Tisch mit einem Big Blind von fünfzig Dollar und setzte sich an den einzigen freien Platz. Es war ein Tisch mit sechs Spielern, ein für seine Verhältnisse extrem teurer Tisch. Gewöhnlich spielte er an Tischen, an die man maximal hundert Dollar mitnehmen durfte, jetzt aber lagen neben seinem virtuellen Alter Ego stolze zweitausend. An solchen Tischen saßen fast nur Profis, die vom Pokerspiel zu leben versuchten, harte Jungs, die jeden üblen Trick kannten und sich mit Analysesoftware Vorteile verschafften. Aber irgendwie verspürte er das Bedürfnis, sich Klarheit zu verschaffen. Über das Glück.

So als wollte der Server seine Erwartungen dämpfen, wurden ihm erst einmal eine Vier und eine Sieben zugeteilt. Einer der Spieler, der sich Mamba1978 nannte, ging schon vor dem Flop all-in, und Romberg stieg umgehend aus.

Draußen war wieder einmal der Klang einer Vuvuzela zu hören. Er fragte sich, ob es immer die Gleiche war oder ob sich gleich mehrere seiner Nachbarn mit den nervtötenden Plastikröhren ausgestattet hatten. Während das Spiel weiterlief, beugte er sich nach vorn, zog die Kamera von der Fensterbank und steckte das USB-Kabel in eine der Anschlussbuchsen des Computers. Seitdem ihm Achim die Kamera ausgeliehen hatte, war diese ununterbrochen auf die Straße gerichtet. Er verkleinerte das Pokerprogramm auf halbe Bildschirmgröße und öffnete links daneben ein zweites Fenster, in dem er die letzte Videoaufnahme startete. Gleichzeitig behielt er die Straße im Auge. Dass er oft mehrere Dinge gleichzeitig tat, hatte Maren oft genervt, aber mit der Zeit hatte sie sich damit arrangiert.

In den nächsten Spielen wurden die Karten nicht besser, was es Romberg ermöglichte, sich auf die Straße und das Video zu konzentrieren. Das Warten machte ihn allmählich verrückt. Er musste unbedingt verhindern, dass ihm der Täter doch noch zuvorkam und eine weitere Frau entführte. Um ein Haar wäre es fast schon geschehen, und trotz Golds Hilfe würde es unglaublich knapp werden. Aber was sollte er tun, wenn er den Mörder gestellt hatte? Auf was genau war er eigentlich aus?

Auf dem Video fuhr ein roter Golf vorbei und kurz darauf ein weißer BMW. Der Server teilte ihm neue Karten zu, zwei Damen, ein erfreulich starkes Anfangsblatt. Alle checkten, und Romberg erhöhte um fünfhundert Dollar. Zwei der Spieler gingen mit. Als der Flop ausgeteilt wurde, erschien eine weitere Dame, daneben ein Ass und eine Drei. Romberg ging all-in, und ein Spieler namens JackD14, der vermutlich ein Ass hielt, blieb im Spiel.

Auf dem Videofilm erschien ein alter Mann auf einem Fahrrad, der eine Schirmmütze trug. Als Romberg wieder zum Pokertisch schaute, sah er, dass er gewonnen hatte. Der Alte mit der Schirmmütze verschwand aus dem Bild, und der Server teilte erneut aus: ein Ass und eine Zehn, beide in Karo. Mamba1978 schob bereits vor dem Flop fünftausend Dollar in die Mitte, so dass die anderen Spieler beeindruckt ausstiegen, doch Romberg, der nichts auf der Hand hielt als eine vage Möglichkeit, ging trotzig mit. Da nur noch zwei Spieler übriggeblieben waren, wurden die Karten der höheren Spannung wegen aufgedeckt. Mamba1978 hielt zwei Könige, doch schon der Turn schenkte Romberg sein zweites Ass. Auch der River machte es für die Mamba nicht besser, was Romberg den Sieg und einen Pot von siebentausendachthundert Dollar bescherte. So viel hatte er noch nie gewonnen. Zusammen mit den zweitausendsechshundert Dollar, die noch auf seinem Spielerkonto schlummerten, machte das weit über zehntausend. Er beschloss, zu einem teureren Tisch zu wechseln.

Du bist völlig außer Kontrolle, dachte er. Offensichtlich war er gerade dabei, alle Brücken hinter sich abzubrechen und sich bewusst zu ruinieren. Das Gefühl tat ihm gut.

Das Video zeigte inzwischen einen Jogger. Er lief betont langsam, so dass ihm die Zeit blieb, seinen Blick neugierig über die Häuser schweifen zu lassen. Einen Moment lang schaute er in Richtung des Fensters und der Kamera und traf genau auf Rombergs Blick, so dass er erschrocken zusammenzuckte. Der Mann sah sympathisch aus, ein blonder Typ mit breiten Schultern, der gemütlich vorübertrottete.

Die ersten Karten, welche Romberg an dem neuen Tisch zugeteilt wurden, taugten nicht viel, so dass er sich dazu entschloss zu passen. Stattdessen ließ er den Videofilm rückwärts laufen und beobachtete nochmals den Mann. Konnte er das sein? War es nicht geradezu logisch, dass er zu Fuß kommen würde und nicht etwa mit dem Wagen? Andererseits war es nur ein Mann. Mehr nicht. Männer Ende Dreißig, die in der Hitze langsam liefen und nicht stier nach vorne starrten, gab es viele.

Romberg erhielt ein Kreuz Ass und eine Kreuz Vier. Obwohl ein gewisser DagobertDRich sofort um zweitausend Dollar erhöhte, ging er mit. Erneut die vage Möglichkeit eines Flushs. Als das Telefon klingelte, zögerte er kurz, ob er abnehmen sollte, aber dann erkannte er Achims Nummer und drückte auf die grüne Taste.

»Hallo, Bruderherz!«, sagte er sanft.

Achim, offensichtlich irritiert durch den zärtlichen Ton in seiner Stimme, zögerte kurz. »Äh … hallo, Max!«

Der Flop lieferte Romberg zwei weitere Kreuz, doch auch ein zusätzliches Ass, DagobertDRich checkte, aber ein anderer Spieler namens Kuku123 ging all-in.

Harte Jungs, dachte Romberg und bewegte den Cursor zum Call-Button. Weitere achttausend Dollar auf die fünfzigprozentige Chance eines Flushs war ein harter Brocken, aber das war ihm egal. DagobertDRich schien derselben Meinung zu sein, denn auch er zahlte den Betrag und blieb somit im Spiel.

»Pokerst du?«, wollte Achim wissen.

»Ja«, gab Romberg zu, »aber nach dieser Runde kann ich gerne eine kurze Pause einlegen.«

Wahrscheinlich bin ich eh gleich pleite, dachte er bei sich. DagobertDRich hatte erst gecheckt und dann doch noch mehrere Tausend Dollar bezahlt. Was bedeutete, dass er auf keinen Fall chancenlos sein konnte. Auf dem Video fuhr ein weißer Smart vorbei, und der Turn brachte einen Karo König.

»Und? Gewinnst du?«

»Das werde ich gleich wissen.«

»Von welchem Betrag reden wir denn gerade?«

»Siebzig Dollar«, log Romberg.

»Wow. Na, dafür warte ich doch gerne«, sagte Achim.

Der River brachte eine Herz Sieben, was Romberg zum sicheren Sieger machte. Erst als das Geld seinem Konto gutgeschrieben wurde, begriff er, dass er tatsächlich gewonnen hatte.

»Bingo!«, stieß er überrascht hervor. »Ich habe gewonnen.«

Zu verlieren schien fast noch schwieriger zu sein als zu gewinnen. Sein Konto war inzwischen auf rund dreißigtausend Dollar angestiegen. Er drückte zitternd auf die Pause-Taste.

»Glückwunsch«, sagte Achim lachend. »Bewegst du dich denn inzwischen im Plus oder immer noch in den Miesen?«

»Etwa achthundert Euro im Plus«, log Romberg erneut.

Im linken Fenster erschien ein schwarzer Passat, doch als er auf Standbild schaltete, erkannte er das MA auf dem Kennzeichen und ließ die Aufnahme weiterlaufen. Im rechten Fenster saß sein virtuelles Alter Ego und verfolgte teilnahmslos das Treiben der Spieler.

Achim schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Nicht schlecht. Vielleicht wirst du ja eines Tages doch noch reich. Was würdest du dann tun?«

Eine Frage, die durchaus auch Carmen Mingus hätte stellen können. Eine gute Frage! Würde das Geld etwas ändern? Oder würde er so weitermachen wie bisher? Eingemauert in den Wänden seines Hauses. Zwischen all seinen Erinnerungen? Er dachte an die Briefe. An sein Testament in dreifacher Ausfertigung.

»Keine Ahnung«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Wie sähe es denn mit dir aus? Könntest du denn Geld gebrauchen?«

Achim lachte ein bitteres Lachen. »Nun ja. Ich zahle seit acht Jahren ein Haus ab, in dem ich mich inzwischen nicht mehr wohl fühle, und reibe mich in einem Job auf, in dem ich keinen Sinn mehr sehe. Was wohl ja bedeutet.«

Es sollte witzig klingen, aber Romberg verspürte dennoch den Impuls, Achim in den Arm zu nehmen und ihn an sich zu drücken. Schon mit vierzehn Jahren hatte Achim davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Mit fünfundzwanzig hatte er in einem kleinen Verlag einen Roman veröffentlicht, der gute Kritiken erhalten hatte, von dem er aber nicht hatte leben können. Dann hatte ihm irgendwann die Zeit gefehlt, und er hatte das Schreiben zermürbt aufgegeben.

»Achim?«

»Ja?«

»Ich bin wirklich froh, dich zum Bruder zu haben. Das war ich schon immer.« Auf der anderen Seite der Leitung hörte er ein leises Schlucken. Draußen auf der Straße fuhren in rascher Folge vier Wagen vorbei, aber keiner erfüllte Rombergs Bedingungen. »Was du nach der Sache in Thailand für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen. Und ich will, dass du das weißt.«

»Ich hätte gern mehr getan. Viel mehr. Ich hätte dich gern aus der Hölle herausgezogen. Aber das war leider nicht möglich.«

»Einmal schon. Du hast mich sogar herausgeprügelt.«

Achim simulierte ein Lachen. »Ja. Aber nicht aus der Hölle.«

Einige Sekunden lang schwiegen beide. Als Achim weitersprach, klang seine Stimme besorgt. »Ist mit dir alles in Ordnung? Das klingt irgendwie nach Abschied.«

»Ja, alles bestens. Mach dir keine Sorgen! Es war mir nur ein Bedürfnis, dir das endlich einmal gesagt zu haben.«

Während Achim vermutlich noch überlegte, ob er ihm diese Antwort auch wirklich abnehmen konnte, kehrte der Jogger zurück. Erneut huschte sein Blick über die Häuser, und erneute hatte Romberg kurz den Eindruck, direkt angeschaut zu werden.

»Wie läuft es eigentlich mit deiner Herzallerliebsten? Hast du sie gefunden?«

»Ja«, antwortete Romberg. »Wir sind sogar verabredet. Für morgen Abend.«

»Echt? Super! Wie hast du sie gefunden? Mit Hilfe meiner Kamera?«

»Ja. Auch dafür nochmals danke. Ich werde sie dir in den nächsten Tagen zurückbringen. Bleibt es bei unserer Verabredung? Für das Spiel gegen Argentinien?«

»Aber sicher. Tut mir leid, ich muss los. Holst du mich am Samstag ab?«

»Ja, kein Problem. Tschüs, Bruderherz.«

»Tschüss, Max. Und noch viel Erfolg mit den Karten.« Dann legte er auf.

Romberg schaute auf den Computer. Die Videoaufnahme war inzwischen bis zum Ende durchgelaufen, und im rechten Fenster saß er noch immer bewegungslos und wartete auf sich selbst.

Würde er Achim wiedersehen? Oder lief es momentan darauf hinaus, dass er in den nächsten Tagen sterben würde? Aber erst musste er Nummer Eins erledigen! In seinen Vorstellungen geschah es immer gleichzeitig. Er schoss auf den Mörder und der Mörder auf ihn. Und beide Kugeln trafen. Danach war nichts mehr. Nur noch Frieden und Stille.

Er stellte die Kamera zurück auf die Fensterbank und startete eine neue Aufnahme. Dann stand er auf, ging hinunter in den Keller und öffnete den Deckel der Tiefkühltruhe. Carola Lauk sah aus wie immer. So als sei sie bis vor wenigen Minuten noch am Leben gewesen. Der bekiffte Hase schaute Romberg an.

»Ich habe deinen Eltern Bescheid gesagt«, sagte er leise. »Und es wurde auch in der Pressekonferenz erwähnt. Es weiß also jetzt jeder Bescheid.« Er holte tief Luft. »Dass du nicht nackt in einem Waldstück gefunden wurdest, sondern dass du ein tolles Kleid trägst und dich nicht verstecken musst, und das mit dem Kuscheltier wissen sie auch.«

Die Kälte aus der Truhe kroch wie ein unsichtbares Wesen an ihn heran und ließ ihn frösteln. »Du wurdest sogar mit Schneewittchen verglichen. Ein starkes Bild. Ein Bild, das bleiben wird. Es wird das Bild, das er zurücklassen wollte, nachhaltig auslöschen.«

Carola Lauk schwieg. Auch Maren und Laura sagten kein Wort.

Es war alles gesagt. Zu Achim. Zu Carola Lauk. Und in den Briefen auf dem Tisch. Er würde schon bald zu dem Schießstand fahren. Dort würde Manfred Gold ihm beibringen, wie man tötet und überlebt. Aber war das überhaupt nötig? Er konnte immer noch Lena Böll anrufen.

Er verließ den Keller, kehrte zurück zum Schreibtisch und starrte auf das geöffnete Pokerspiel. Dann erweckte er sich selbst zum Leben und wechselte mit vierzigtausend Dollar zu einem teureren Tisch.