07:11
Als Romberg den Deckel der Tiefkühltruhe anhob, schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen, und die Luft, die seit vier Jahren in hermetischer Dunkelheit eingeschlossen gewesen war, strömte in den Raum. Zu Zeiten der BSE-Krise hatten er und Maren ihr Fleisch auf einem vierzig Kilometer entfernten Öko-Hof eingekauft. Um Fahrzeit einzusparen, hatten sie sich bei dem Bauern ganze Schafe besorgt, sie in Stücke zerlegt eingefroren und bei Bedarf wieder aufgetaut. Auch das Obst und Gemüse aus dem Garten hatten sie Jahr für Jahr in der Truhe verstaut. Maren hatte immer viel Wert auf gesunde Ernährung gelegt. Er anfangs weniger. Als sie sich kennenlernten, hatte er sich überwiegend von Fastfood ernährt. Dosen-Ravioli, in Plastik eingeschweißte Frikadellen, Dinge, die Maren nie angerührt hätte. Mit den Jahren jedoch hatte er sich ihren Vorstellungen mehr und mehr angepasst, ohne Murren, denn Maren war eine hervorragende Köchin gewesen. Nach ihrem Tod hatte er die Truhe eine Zeitlang weiterhin genutzt, aber da er selten kochte, war er bald in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen. Irgendwann war es ihm sinnlos vorgekommen, für ein paar Tüten Tiefkühlkost und ein paar Becher Eiscreme Strom zu verbrauchen. Also hatte er die Truhe leergeräumt und den Stecker gezogen, eine bittere Entscheidung, die ihm nicht leichtgefallen war. Sie war ein weiteres Eingeständnis gewesen, einer von vielen Schlussstrichen unter seinem bisherigen Leben. Damals hatte er nicht damit gerechnet, dass er das Gerät jemals wieder in Betrieb nehmen würde. Wiederholt hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein Inserat aufzugeben, um den sperrigen Kasten endlich loszuwerden. Jetzt war er froh, dass er sich nie dazu hatte überwinden können. Die Truhe war riesig und zu seiner Beruhigung auch groß genug, um Carolas Körper aufnehmen zu können. Fraglich war nur, ob sie nach so langer Zeit noch immer ihren Dienst verrichten würde. Er schloss den Deckel und beugte sich nach vorn, bis seine Stirn die kühle Kellerwand berührte. Weit unten in dem Zwischenraum zwischen Truhe und Beton konnte er ein weißes Kabel erkennen. Er drehte sich leicht zur Seite, steckte die Hand in den schmalen Spalt und ertastete sich ohne Hast einen Weg nach unten. Seine Fingerspitzen durchstießen mehrere Spinnennetze. Sekundenlang konnte er deutlich spüren, wie dünne Beine eilig über seine Hand trippelten. Widerstrebend streckte er seinen Arm so weit aus, wie er nur konnte, bekam das Kabel zu fassen und zog es aus dem Spalt. Nachdem er es sorgfältig von Staub und Spinnweben gesäubert hatte, steckte er den Stecker in die neben der Truhe angebrachte Verteilerdose. Augenblicklich war aus dem Inneren der Truhe ein leises Brummen zu vernehmen.
»Na also. Geht doch!«
Nachdenklich musterte er die Ansammlung von Knöpfen an der Oberseite des Deckels und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was diese zu bedeuten hatten. Nach kurzem Suchen fand er die Taste für die Supergefrierfunktion, mit der man die Temperatur möglichst rasch absenken konnte. Als er sie drückte, begann ein grünes Licht zu blinken. Mittels einer der Pfeiltasten wählte er als Zieltemperatur minus achtzehn Grad. Dann öffnete er erneut den Deckel.
Es war niemand gekommen.
Niemand hatte die Tür eingetreten und ihn zu Boden geworfen, niemand hatte sich dem Haus genähert, niemand hatte angerufen. Gegen sieben Uhr war ihm schlagartig klargeworden, was dies bedeutete: dass seine wahnwitzige Aktion völlig unbemerkt geblieben war, dass es keine Zeugen gab, die sein Tun beobachtet hatten, und dass somit auch niemand mehr kommen würde, um das Mädchen zu holen, und dass es schwül und heiß war und dass er daher dringend etwas unternehmen musste.
Was hatte er nur getan?
Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Carmen Mingus anzurufen und ihr alles zu beichten. Aber dann begriff er, dass er sie damit unter Druck setzen und in seine ausweglose Situation miteinbeziehen würde. Also verwarf er die Idee. Soweit er nichts übersah, blieben ihm derzeit nur drei Möglichkeiten.
Er könnte sich mit beträchtlicher Verspätung bei der Polizei melden. Das würde mit Sicherheit in einem Fiasko enden. Was soll das heißen, Sie haben nichts mit der Sache zu tun? Wollen Sie etwa ernsthaft behaupten, Sie hätten die Tote nur zufällig gefunden? Um sie dann nackt in den Kofferraum Ihres Wagens zu packen, sie anschließend zu sich nach Hause zu transportieren und ihr ein hübsches Sommerkleid anzuziehen? Halten Sie uns für völlig bescheuert? Glauben Sie, wir halten Sie für unschuldig, nur weil Sie uns anrufen und uns diesen unglaublichen Mist erzählen? Den weiteren Verlauf der Vernehmung wollte er sich gar nicht erst ausmalen.
Eine weitere Möglichkeit bestand darin, Carolas Körper wegzuschaffen und ihn irgendwo loszuwerden. Vielleicht sogar an derselben Stelle, an der er sie vor einer Stunde aufgefunden hatte. Aber dafür war es inzwischen zu spät. Erst vor einigen Minuten war draußen ein weiterer Wagen vorbeigefahren, und die Wahrscheinlichkeit, bei einer solchen Aktion unentdeckt zu bleiben, sank von Minute zu Minute ins Bodenlose. Außerdem hatte er überall Spuren hinterlassen, und mit Sicherheit war an Carolas Körper jede Menge DNA nachzuweisen, die ihm früher oder später das Genick brechen würde.
Übrig blieb somit nur Option Nummer Drei: Er musste das Mädchen bei sich behalten. Zumindest vorübergehend. Ihm fielen die Gesichter der Eltern ein. Bei ihrem Fernsehappell. Wahrscheinlich bangten sie immer noch um Carolas Leben. Dieses Gefühl kannte er nur zu gut. Diese Ungewissheit. Nicht zu wissen, ob man hoffen oder sich fallen lassen soll. Die Unmöglichkeit, zu trauern und loszulassen. Trauer, das heißt immer auch, den anderen aufzugeben und zu akzeptieren, dass er niemals wiederkehren wird. Ohne die Leiche und ohne Gewissheit bleibt immer ein Schatten. Hatte man vielleicht zu früh resigniert? Hatte man den anderen vorzeitig im Stich gelassen? Carolas Eltern über das Schicksal ihrer Tochter im Unklaren zu lassen, war grausam. Aber darauf konnte er momentan keine Rücksicht nehmen. Dafür würde er irgendwann später eine Lösung finden müssen. Jetzt war er es, der für alles Weitere Sorge zu tragen hatte.
Die größte Gefahr lag in der Hitze. Sie beschleunigte den Verwesungsprozess enorm. Was das bedeutete, wusste er nur zu gut. Sie zu begraben, kam nicht in Frage. Also blieb nur die Tiefkühltruhe. Er hatte keine andere Wahl. Unentschlossen musterte er die weiße Innenverkleidung. Sie wirkte erstaunlich sauber, und er konnte sich dunkel daran erinnern, die Truhe am Ende noch einmal gründlich mit Essig ausgewaschen zu haben. Keine Spur von Schimmelbefall. Dennoch war ihm der Gedanke, Carola dort aufzubewahren, unerträglich. Sie würde doch frieren.
Er schloss den Deckel, stieg über die Kellertreppe ins Erdgeschoss und ging hinauf in den ersten Stock. Vor der Tür mit der Aufschrift Kein Zutritt für Erwachsene zögerte er kurz, dann griff er zitternd nach der Klinke und drückte sie behutsam nach unten. Wie immer war er erstaunt, das Zimmer leer vorzufinden. Seit Jahren hatte diesen Raum niemand betreten, niemand außer ihm selbst, aber immer wenn er die Tür öffnete, war da dieses Gefühl von Hoffnung, dass es sich dieses Mal anders verhalten könnte, dass sich Laura an ihrem Schreibtisch zu ihm umdrehen und ihn erfreut anlächeln und aufstehen und irgendetwas sagen würde, nur dieses eine Mal, aber auch jetzt blieb er mit seiner Erwartung allein, und die Enttäuschung in seinem Innern ließ sich von der Vernunft nicht trösten, und seine Schultern wurden schwer.
Wenn er durch den Türrahmen trat, war es stets so, als durchschritte er eine Schleuse und beträte ein Bild. Zwar schien alles unverändert real zu sein: das Anastacia-Poster, die auf der karierten Tagesdecke aufgereihten Kuscheltiere, der große Globus, den sie sich zum elften Geburtstag gewünscht hatte, daneben ein Buch, das Antworten auf alle typischen Mädchenfragen lieferte, am Boden der Bauernhof aus Holz und die Koppel, in der ein Dutzend Schleich-Pferde auf dem dicken Teppich graste – seit sechs Jahren schon, so als sei die Zeit stehen geblieben, und jedes Mal war er gerührt angesichts dieses Nebeneinanders von Kindheit und Jugend und des sich andeutenden Aufbruchs in ein Leben, in dem sie niemals ankommen würde. Aber dennoch wirkte alles auch merkwürdig fremd, war nicht mehr das Gleiche, alles nur eine Kopie, überzogen mit einer Lasur, die sich nicht mehr abkratzen ließ.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte er in ihrem Zimmer alles so belassen, wie er es vorgefunden hatte. Aus Angst, weitere Erinnerungen zu tilgen, hatte er jede auch noch so kleine Veränderung vermieden. Alles sollte so bleiben, wie Laura es hinterlassen hatte. Würde sie in diesem Moment zurückkehren, so wäre alles unverändert und sie würde sich zurechtfinden, als wäre sie niemals weggewesen.
Papa!
Ihr Schrei ging ihm durch Mark und Bein. Er hätte länger durchhalten müssen. Zwei Minuten länger. Vielleicht auch drei. Er starrte auf seine linke Hand. Auf die zwei Stummel, die früher Finger gewesen waren. Wie oft hatte er sich gefragt, ob er es mit zehn Fingern vielleicht doch hätte schaffen können.
Er würde das alles nicht durchstehen.
Verzweifelt ließ er sich auf das Bett fallen. Dann brach es aus ihm heraus, und er weinte und schrie, so laut, dass er fürchtete, man könnte ihn draußen auf der Straße hören. Als er die Luft tief in die Nasenlöcher sog, glaubte er plötzlich, Laura riechen zu können, so als hätte die Tagesdecke über Jahre ein paar Moleküle konserviert, und er schloss die Augen und blieb wimmernd liegen, und es dauerte Minuten, bis er die Kraft hatte, sie wieder zu öffnen. Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt saß Lauras Hase, ein lustiger Geselle mit einem karierten T-Shirt und verschiedenfarbigen Ohren, das eine dunkelblau, das andere rosa. Das dunkelblaue geknickt. Der Hase schaute ihn nachdenklich an. Romberg setzte sich langsam auf und rieb sich die Tränen aus den Augen. Laura hatte das Leid der Welt stets in sich aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Kaum ein Bettler, dem sie nicht etwas Geld in den Hut geworfen hatte, kaum ein Tier, das sie nicht hatte retten oder gesund pflegen wollen. Irgendwo in seinem Innern nickte sie ihm aufmunternd zu. Er dachte an Carola Lauk, die noch immer in der Küche lag. Plötzlich wusste er genau, was er zu tun hatte.
»Ich brauche deine Decke, Schatz«, erklärte er gerührt. »Du bekommst sie so bald wie möglich zurück.«
Dann schlug er den karierten Überwurf zurück, zog die Daunendecke hervor, legte sie nachlässig zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Bevor er das Zimmer verließ, blieb er noch einmal stehen, zögerte kurz und griff nach dem Hasen.
»Damit sie sich nicht alleine fühlt«, sagte er sanft, dann warf er einen letzten Blick auf das Bett und durchschritt die Schleuse zurück in den Flur. Draußen in der Normalität wirkten die Farben hell und real und die Stille nicht länger unwirklich schwer. Selbst die Temperatur stieg spürbar an.