Wochen zuvor, Mannheim, Freitag, 15:03

»Und?«, fragte Breitenbusch-Keese. »Haben Ihre Kollegen einen entscheidenden Hinweis übersehen?«

Die Bemerkung stellte nicht nur die Arbeit der Mannheimer in Frage, der sarkastische Tonfall ließ erahnen, dass sie auch Lena Bölls Anwesenheit nichts abgewinnen konnte. Hinter ihrem Rücken steckte sich Markus Klein zwei Finger in den Mund und machte durch das pantomimische Hochwürgen unsichtbarer Speisebrocken anschaulich klar, wie er die Bemerkung einordnete. Xaver Seibling, den gewöhnlich alle nur Ö nannten, schüttelte missbilligend den Kopf. Er war ausschließlich für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, und eine seiner Hauptaufgaben bestand darin, die Presse zu besänftigen und das Präsidium gegen Kritik von außen abzuschirmen. Die vergangenen Wochen dürften für ihn alles andere als langweilig gewesen sein.

Lena Böll lächelte. In den nächsten Wochen würde sie eng mit der SOKO zusammenarbeiten müssen. Den Mannheimern gleich zu Beginn einen Fehler zu unterstellen und die überhebliche Besserwisserin zu geben, kam daher überhaupt nicht in Frage. Sich mit Breitenbusch-Keese anzulegen, war weit weniger riskant. Natürlich war sie die zuständige Staatsanwältin und als solche nicht ohne Einfluss, aber wegen der ausbleibenden Ermittlungserfolge war auch die Staatsanwaltschaft angeschlagen. Sie selbst dagegen, die aus Übersee herbeizitierte Hoffnungsträgerin, galt vorerst als unantastbar. »Hat man Sie bei der Entscheidung, mich miteinzubeziehen, übergangen?«

Breitenbusch-Keeses Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Selbst aus einigen Metern Entfernung konnte es jeder erkennen. Mildenberger, der direkt neben ihr saß, knabberte nervös an seiner Unterlippe.

»Ja, das hat man in der Tat«, stieß die Staatsanwältin gereizt hervor. Ihre Stimme klang eine Spur zu schrill und zu laut. »Um ehrlich zu sein, ist es mir ein Rätsel, wie uns eine einzige Profilerin in dieser Angelegenheit weiterbringen soll, aber für Schröder scheinen Sie so eine Art Jeanne d’Arc der Kriminalistik zu sein, und für die Presse wohl auch.«

»Ich kann nur hoffen, das hat er nicht wirklich so gesagt.«

»Nicht wörtlich, aber man merkte jedem seiner Worte an, dass er genauso denkt.«

»Das beruhigt mich. Ich hatte nämlich bereits befürchtet, er sieht eine Art Köder in mir. Denn immerhin wurde Jeanne d’Arc für ihre Überzeugung verbrannt.« In der Peripherie ihres Gesichtsfelds hob Seibling erstaunt die Augenbrauen. »Dass Ihre Erwartungen in mich gering sind, beruhigt mich übrigens ebenfalls. Denn das erspart es mir, sie persönlich dämpfen zu müssen.« Sie hob die Stimme, so dass man sie selbst in der letzten Reihe deutlich verstehen konnte. »Ich habe keineswegs vor, mit den Mannheimern zu konkurrieren. Jedem, der mich von früher kennt, ist das längst völlig klar. Jeder, der mich eben erst kennengelernt hat, weiß es jetzt. Ich bin nur hier, weil ich hier sein muss. Mein Chef beim LKA ließ mir leider keine Wahl. Das hat nichts mit den hier Anwesenden zu tun. Auf meine Zeit in Los Angeles hatte ich mich seit Monaten gefreut. Niemand wird mir wohl unterstellen wollen, dass ich ernsthaft darauf scharf gewesen sein könnte, diese vorzeitig gegen eine Rückkehr ins Rhein-Neckar-Delta einzutauschen. Aber jetzt bin ich da. Unter Protest und unausgeschlafen und verdammt schlecht gelaunt, aber ich bin da. Also würde ich jetzt gern meinen Job erledigen. Sollte jemand etwas dagegen einzuwenden haben, so steht es ihm frei, Schröders Nummer zu wählen und sein Veto einzulegen.« Sie ließ ihren Blick über die Stuhlreihen streichen. »Gibt es dazu noch weiteren Diskussionsbedarf?«

Die Stille im Besprechungsraum wirkte inzwischen schmerzhaft intensiv und traf auf die Ohren wie ein durchdringendes Geräusch. Breitenbusch-Keese sah aus, als würde sie jeden Moment explodieren, und Mildenbergers Augen waren hilfesuchend zu der stuckverzierten Decke gerichtet, so als suchte er, der bekennende Atheist, im zweiten Stockwerk nach einem Gott.

Schließlich war es Krüger, der den Mut fand, das Schweigen zu durchbrechen. »Nun … wenn ich die Situation richtig deute, wohl eher nicht. Ich würde daher vorschlagen, du sagst uns offen, was du denkst … jetzt aber vielleicht eher im Hinblick auf den Fall.« Er grinste breit. »Natürlich nur, wenn du willst.«

Sie dachte: Das macht er wirklich gut.

»Gerne. Bevor ich mich zu diesem Fall äußere, möchte ich aber noch einen kurzen Prolog loswerden. Als Fallanalytikerin arbeite ich vorwiegend mit Wahrscheinlichkeiten sowie mit Ein- und Ausschlussverfahren. Das heißt, aufgrund bestimmter Kriterien schließe ich verschiedene Personengruppen aus und nehme dafür andere als potentiell verdächtig auf. Indem ich somit Schnittmengen bilde, reduziere ich schrittweise die Anzahl der in Frage kommenden Personen und erhalte allmählich ein hypothetisches Profil. Darin bin ich ziemlich gut. Was nicht unbedingt heißt, dass uns das weiterhelfen wird. Befänden wir uns gemeinsam mit dem Täter an Bord eines Flugzeugs, so wäre es hochgradig wahrscheinlich, dass der Kreis der Verdächtigen schon in dieser Sekunde so weit einzugrenzen wäre, dass wir uns den Kerl schnappen könnten. Die Realität sieht leider anders aus. Was an Bord eines Flugzeuges eindrucksvoll funktioniert, kann sich in einem städtischen Ballungsraum mit einer Million Einwohner als völlig wirkungslos erweisen. Es verhält sich ähnlich wie mit dem DNA-Test. Die DNA nützt mir nicht das Geringste, wenn ich es mit einer Million Verdächtiger zu tun bekomme. Andererseits kann ich natürlich selbst in einer Ballongondel keinen Mörder überführen, wenn ich nicht weiß, wonach ich suchen muss. Die größte Schwierigkeit beim Profiling besteht somit nicht unbedingt darin, zu wissen, wen man sucht, sondern darin, in etwa abschätzen zu können, wie viele Personen den betreffenden Kriterien entsprechen.«

Sie sah, wie sich Mildenberger entspannt zurücklehnte.

»Dass wir die Identität des Täters nicht kennen, ist derzeit in erster Linie ein quantitatives Problem. Was keineswegs heißt, dass wir nichts über ihn wüssten. Man weiß immer etwas! Selbst wenn man nichts weiß, ist das bereits ein brauchbares Indiz, denn ein sogenannter Spurenvermeider verfügt zweifellos über Kenntnisse, die ihn von der Gesamtpopulation abheben und die er irgendwo erworben haben muss.«

Breitenbusch-Keese schüttelte verärgert den Kopf. »Echt beruhigend, dass es zumindest eine Sache gibt, der wir uns absolut sicher sein können.« Sie schien sich noch immer nicht geschlagen geben zu wollen, aber Lena Böll sah keinen Grund, den Fehdehandschuh ein weiteres Mal aufzunehmen.

»Das Bild, das wir von ihm haben, wird mit der Zeit noch detaillierter werden. Er versucht, sich ein Image aufzubauen, will etwas inszenieren und sich eine eigene Bedeutung verleihen. Entwickelt Gewohnheiten. Will sich und uns etwas beweisen und fühlt sich sicher genug, um Spielchen mit seinen Verfolgern zu spielen. Das macht ihn vorhersehbar. Natürlich weiß auch ich nicht, wer der Kerl ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er Johanna van Ahsen an einem Sonntag ablegen wird, zu einer Uhrzeit, zu der die meisten Leute noch zu schlafen pflegen, vermutlich also übermorgen. Er wird sie waschen und kämmen und sie dann irgendwo in Szene setzen, erneut mit zugeklebtem Mund und mit gespreizten Beinen, und er wird erneut ihre Schamlippen schminken. An einem einsamen Ort, an dem er nicht mit Zeugen rechnen muss, mit einem festen Untergrund, um weder Fuß- noch Reifenspuren zu hinterlassen. Dass es ein Mann ist, steht natürlich zweifelsfrei fest, zwischen sechzehn und sechzig, denn er muss kräftig genug sein, um sechzig Kilogramm aus einem Kofferraum zu wuchten. Wegen des Führerscheins älter als achtzehn, und vermutlich älter als zwanzig wegen des großen und kostspieligen Wagens, denn er wird die Leichen wohl kaum in einem Kleinwagen abtransportieren. Vermutlich sogar älter als fünfundzwanzig, da ein jüngerer Mann sich nicht unbedingt Johanna van Ahsen aussuchen würde. Er ist gebildet und eloquent und er wirkt vertrauenswürdig genug, um eine Siebzehnjährige frühmorgens dazu zu bewegen, in sein Auto einzusteigen. Wahrscheinlich jünger als vierzig, denn auf eine Siebzehnjährige wirken ältere Männer, die sie anzusprechen versuchen, meist wie alte Lustmolche, mit denen man sich auf keinen Fall in den gleichen Wagen setzen sollte, und wenn überhaupt, dann bestimmt nicht nachts. Also zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Gewiss nicht abstoßend. Vielleicht sogar ausgesprochen gutaussehend. Ein Einzeltäter. Mehrere Täter schließe ich aus, wegen der zu eindeutigen individuellen Inszenierung. Ortskundig. Entweder er stammt aus der Gegend oder hat hier beruflich zu tun, oder er hat früher hier gewohnt. Er scheint regelmäßig auf den Mannheimer Morgen zugreifen zu können. Vielleicht ein Abonnent. Bezüglich seines Vorgehens eindeutig ein organisierter Tätertyp. Er handelt nicht aus dem Affekt heraus, sondern plant gründlich voraus. Wie einige von Ihnen vielleicht wissen, gibt es bezüglich der Täterpersönlichkeit voneinander abweichende Hypothesen. Das FBI stuft den organisierten Serientäter als eher intelligent und sozial unauffällig ein, die deutschen Hypothesen gehen von schwach begabten Männern aus schwierigen Elternhäusern aus. Trugen die Opfer Handys bei sich?«

»Ja«, antwortete Krüger. »Aber wir konnten sie weder finden noch orten.«

»Na schön. Dann schließe ich mich fürs Erste der amerikanischen Variante an. Ein intelligenter Täter also, eventuell ein Chemiker oder ein Pharmazeut, aber zumindest hat er eine weiterführende Schule besucht. Es ist wahrscheinlich, dass er erst dann aufhören wird, wenn wir ihn stoppen. Er legt ein erstaunliches Tempo an den Tag und hält nur kurze Pausen ein. Folglich steht er enorm unter Druck. Die gute Neuigkeit ist, dass intelligente Täter laut Statistik doppelt so schnell gefasst werden wie schwach begabte.« Sie lächelte müde. »Das liegt vermutlich daran, dass wir Fallanalytiker uns aufgrund der Parallelen besser in intelligente Gehirne hineinversetzen können.« Der Scherz wurde mit lautem Gelächter quittiert.

»Und seine Motivation?«, fragte Krüger. »Außer dass er Frauen hasst und seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen will?«

»Ich glaube nicht, dass er grundsätzlich alle Frauen hasst«, widersprach sie sanft.

»Ach nein?«, meldete sich Markus Klein zu Wort. »Dann möchte ich wirklich nicht wissen, was er wohl jemandem antun würde, den er weniger mag.«

»Momentan hat es den Anschein, als hätte er es in erster Linie auf schöne und erfolgreiche Frauen abgesehen«, setzte sie sich sachlich zur Wehr.

»Haben wir das nicht alle?«, setzte Klein kampflustig nach. Mildenberger ließ ein unwilliges Räuspern hören, aber einige der Anwesenden begannen dennoch zu kichern.

Derartige Situationen war sie gewohnt. Sie war klein. Lediglich eins vierundsechzig groß. Fünf Zentimeter weniger, und sie hätte die Aufnahmekriterien für die Polizeischule verfehlt. Und sie sah gut aus. Eine Kombination, die manche Männer zu ermutigen schien, in ihr keine ernstzunehmende Person, sondern einen zierlichen Appetithappen zu sehen. Offensichtlich hatte die Watsche für Breitenbusch-Keese nicht ausgereicht, um Klein eines Besseren zu belehren.

Sie lenkte ihren Blick direkt in seine Augen. »War das eben ein Argument oder eine Anmache?«

Er wurde umgehend rot. »Eigentlich nur eine Frage.«

»Sind Sie sich sicher? Auch kein Imponiergehabe?«

»Nein.« Markus Klein versuchte vergeblich, seine Verunsicherung zu verbergen.

»Stimmen Sie mir zu, wenn ich behaupte, eine attraktive Frau zu sein?«

Klein zögerte, entschied sich aber mangels brauchbarer Alternativen für die Wahrheit. »Ja, natürlich. Das ist nicht zu übersehen.«

»Und erfolgreich wohl auch?«

Kleins rechter Mundwinkel zuckte mehrmals nach oben, ein Tic, der vermutlich nur unter Stress auffällig wurde. Auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. In dem Raum war es stickig und heiß, und das Adrenalin erledigte den Rest. »Ich denke schon. Nach dem, was man so hört, sind Sie wirklich gut.«

Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse, wartete ab, bis das Schweigen schier unerträglich wurde und stellte die Tasse betont langsam auf die Tischplatte zurück.

»Als ich vorhin den Raum betrat, haben mehrere der hier anwesenden Männer jeden Zentimeter meines Körpers gescannt und mich ohne meine Einwilligung als Objekt für ihre sexuellen Phantasien funktionalisiert. Sie auch. Versuchen Sie gar nicht erst, es abzustreiten! Männer sind eben so. Nicht allzu schwer zu durchschauen. Wie ein offenes Buch mit einer einzigen Seite.« Katja Bleskjew, die den Rhabarberkuchen organisiert hatte, lachte auf. »Seit meiner Jugend bin ich daran gewöhnt, tagtäglich offensiv angestarrt zu werden. Man sollte daher meinen, dass eine derart vielbegehrte Frau ständig umworben und eingeladen würde. So ist es aber nicht. So war es noch nie. Ganz im Gegenteil. Schon während meiner Schulzeit prahlten meine weniger hübschen Klassenkameradinnen ständig mit ihren zahlreichen Verabredungen, an mich aber wagten sich nur wenige Jungs heran. Warum, glauben Sie, war und ist das so?«

Ihre Ausführungen schienen in ihrem Innern eine ungute Wirkung entfaltet zu haben, denn mit einem Mal fühlte sie sich elend und deprimiert. Als sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte, blieb es endlos lange still. Dann meldete sich Bleskjew zu Wort. »Sie haben Angst vor Ihnen.«

»Oha! Eine Leidensgefährtin. Und warum?«

»Sie haben Angst, Ihren Ansprüchen nicht genügen zu können.«

»Gut. Und weshalb?«

»Sie gehen davon aus, dass eine Frau wie Sie jeden Mann der Welt haben kann.«

»Genau«, erwiderte Lena Böll. »Die meisten Männer träumen davon, sich einmal im Leben mit einer Frau wie Angelina Jolie im Bett wiederzufinden. Aber die wenigsten Männer würden es wirklich wagen, die Jolie im Restaurant anzusprechen. Und genau das ist der Punkt, der unseren Täter zu quälen und zu beschäftigen scheint. Dieses Gefühl, einer schönen Frau niemals gerecht werden oder gegen eine schöne Frau niemals ankommen zu können. Nicht unter symmetrischen Bedingungen. Vielleicht hat er in seiner Jugend eine demütigende Erfahrung hinnehmen müssen, vielleicht hatte er eine erfolgreiche Schwester, gegen die er niemals ankommen konnte, vielleicht spielt sich dies aber auch alles nur in seiner Phantasie ab. Wenn er – wie ich vermute – gut aussieht, hat er vermutlich sexuelle Probleme. Jedenfalls wagt er sich nicht an attraktive Frauen heran.« Sie wandte sich an Klein. »Nur einmal angenommen, Sie wären ein Seelöwe und Sie würden dies alles mit anhören, was ginge Ihnen wohl momentan durch den Kopf?«

»Ein Seelöwe?« Klein sah sie an, als sei er schlagartig zu der Einsicht gelangt, sie hätte sich vor dem Meeting Drogen eingeworfen.

»Ja, ein Seelöwe. Meinetwegen auch Elch oder ein Haubentaucher.«

Klein schien zu erkennen, dass es ihr ernst war. Er dachte nach. »Ich würde denken: Wovon reden die bloß?«, antwortete er schließlich. »Ein Elch versucht es einfach. Auf gut Glück. Ohne sich durch irgendwelche Skrupel aufhalten zu lassen. Ob die Weibchen sein Verhalten gut finden oder ob er sich einen Korb einfängt, ist ihm scheißegal.«

Sie nickte ihm anerkennend zu. »Genau. Wir tun immer so, als sei Zurückhaltung und gegenseitiges Einverständnis in der Sexualität etwas Natürliches und alles andere unnachvollziehbar abnorm. So verhält es sich aber nicht. Im Tierreich werden die Weibchen nicht selten rücksichtslos vergewaltigt. Die Männchen befriedigen ihre sexuellen Bedürfnisse – eigennützig und ohne jede Empathie. Uns Menschen ist das fremd geworden, denn wir verhalten uns zivilisiert, aber in unseren Phantasien ist es immer noch präsent. Daran kann auch die Idee der romantischen Liebe nichts ändern, denn wie die Zivilisation ist die Liebe ein zerbrechliches Konstrukt. Die biologische Vorbestimmung aber nicht. Biologische Programme wird man einfach nicht los. Insofern beruht zivilisiertes Verhalten in erster Linie auf einem Aber. Ich würde diese Kellnerin gerne vögeln, jetzt gleich und ohne Hemmungen, aber … Wie gern würde ich diesem arroganten Arsch jetzt ordentlich was auf die Schnauze hauen, aber … Für manche Menschen allerdings spielt dieses ständige Aber keinerlei Rolle. Für sie sind die Grundsätze der Gesellschaft ohne Belang. Sie spielen nach völlig anderen Regeln. Und unser Täter ist einer von ihnen.«

Sie hielt kurz inne, nahm zwei Schluck aus der Kaffeetasse und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. Danach wandte sie sich erneut an Klein.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?«, wollte sie wissen.

»Vorgeführt«, brach es aus ihm heraus. Sein Mundwinkel zuckte erneut, und sein Kopf war purpurrot, was eindrücklich belegte, dass er die Wahrheit sagte.

»Sehr gut. Wie noch? Mache ich Sie wütend?«

Er zögerte, schien aber allmählich zu begreifen, in was er hineingeraten war. »Allerdings. Verdammt wütend sogar.«

»Warum? Weil ich gut aussehe und es auch weiß und ausspreche und weil ich intelligent bin und es Ihnen skrupellos demonstriere und weil ich eine überhebliche Kuh bin und Sie mich zwar irgendwie scharf finden, aber gleichzeitig auch ahnen, dass Sie niemals bei mir landen können?«

Klein starrte sie fassungslos an. »So etwas in der Art«, räumte er kleinlaut ein. Schräg hinter ihm kramte Mildenberger in seiner Hosentasche, brachte ein altertümliches Stofftaschentuch zum Vorschein und begann, sich sorgfältig den Schweiß abzutupfen.

Was war nur los mit ihr? Klein mochte ein chauvinistisches Großmaul sein, aber dass sie ihn derart an den Pranger stellte, hatte er gewiss nicht verdient. Warum konnte sie Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen und ihre verdammte Klappe halten? Schon in der Schule hatte sie sich ständig mit den Lehrern angelegt, und oft hatte ihr Vater beim Rektor vorsprechen müssen, um die von ihr hinterlassenen Trümmer wegzuräumen. Ein Schulausschluss war ihr wahrscheinlich nur deshalb erspart geblieben, weil ihr Vater drei Mal die Stelle wechselte und sie daher umziehen mussten, von Freiburg nach Dublin nach Buenos Aires nach Florenz. Noch vor einigen Wochen hätte sie Kleins Sticheleien vermutlich besser weggesteckt, aber seit der Sache mit Michael war sie noch reizbarer als sonst.

»Sehr gut. Verstehen Sie, auf was ich aus bin? Unser Täter fühlt sich vermutlich genauso wie Sie. Wütend. Gedemütigt. Er will nicht nur Sex. Er will Rache. Wäre unser Täter ein Soziopath, ginge er ähnlich vor wie ein Tier. Einem Soziopathen ist Mitgefühl fremd. Insofern kennt er weder Mitleid noch Reue noch Scham. Er nimmt sich, was er will – ohne Emotion. Stellt man sich ihm in den Weg, reagiert er aggressiv, und unter Umständen tötet er sogar. Eventuell auch sein Opfer, um das Risiko zu reduzieren. Jemand jedoch noch posthum zu demütigen, käme ihm nicht in den Sinn. Ein perverser sadistischer Täter dagegen braucht die Gewalt für die eigene sexuelle Befriedigung. Die Gewalt gegen das Opfer wird zu einem Teil des Geschlechtsakts, zum Katalysator der Erregung. Nach Abklingen der sexuellen Erregung verliert somit auch die darin eingebunden Gewalt schlagartig ihre Funktion. Unser Täter dagegen ist völlig anders. Er sucht sich gezielt attraktive und erfolgreiche Frauen aus, wobei er Erfolg – etwas vereinfacht – über Medienpräsenz definiert, demontiert ihre scheinbare Unerreichbarkeit, degradiert sie zu einem Objekt, das völlig seiner Kontrolle unterliegt und demütigt sie selbst noch nach ihrem Tod. Er wäscht und kämmt sie, um ihre Schönheit zur Geltung zu bringen, positioniert sie aber wie eine Hure an einem öffentlichen Ort – aus Rache und um es allen zu zeigen: Schaut her, wie schön sie ist! Und ich hatte sie dennoch, und sie war mir ohnmächtig ausgeliefert, und ich habe sie gefickt und es der Schlampe richtig gezeigt. Was ihn wütend werden lässt, ist ihre Beliebtheit und ihr Erfolg. Seine Taten sind daher nicht in erster Linie sexuell motiviert, sondern er nutzt die Vergewaltigung nur als Mittel der Erniedrigung, ähnlich wie ein Folterknecht, der einen politischen Gefangenen anal penetriert, um ihn zu erniedrigen und ihm seine Würde zu nehmen. Es geht ihm nur um die Macht.«

Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ergriff den Teller mit dem zweiten, noch unberührten Stück Kuchen, umrundete den Tisch und ging hinüber zu Markus Klein, der sie ängstlich musterte, so als rechne er damit, noch weitere Attacken hinnehmen zu müssen.

Was für eine verdammte Idiotin sie doch war!

»Mögen Sie Rhabarberkuchen?«, fragte sie freundlich. Klein nickte so vorsichtig, dass die angedeutete Bewegung kaum wahrzunehmen war. »Für Sie«, sagte Lena Böll, indem sie ihm den Teller überreichte, und ihre Stimme klang so warm, als sei Klein ihr bester Freund. »Als Wiedergutmachung. Nach dem, was ich Ihnen gerade zugemutet habe, muss ich auch abschließend dafür Sorge tragen, dass Sie eine andere Entwicklung nehmen werden als unser Täter.«

Über Kleins Gesicht breitete sich etwas aus, was nur schwer in Worte zu fassen war, was sich aber jedem der Anwesenden dauerhaft einprägen sollte, eine Mischung aus Erleichterung, Freude und einer Andeutung von Glück, und als er dankbar nach dem Teller griff, zweifelte in dem großen Besprechungszimmer niemand daran, dass er diesen Moment und dieses eine Stück Kuchen in seinem ganzen Leben niemals vergessen würde.