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In den vergangenen zwanzig Jahren war Marga Bleskjew meist schon gegen Mittag betrunken gewesen. In den seltenen Momenten, in denen sie bereit war, sich dies einzugestehen, führte sie für ihr Verhalten stets nur einen einzigen Grund an, ein mit der Zeit verblassendes Argument, mit dem sie zwei Fünftel ihres Lebens stur zu rechtfertigen versuchte: dass sie damals, vor zwei Jahrzehnten, von ihrem Mann verlassen worden sei, mit der Verantwortung für eine Tochter und ein zweites Mal schwanger, und dass sie sich von diesem Tag an habe ganz allein durchschlagen müssen. Weitere Gründe nannte sie nie. Manchmal, wenn der Alkoholspiegel zumindest so weit abgesunken war, dass ihrem Hirn die Freiheit blieb, Zweifel zu hegen, tauchte in ihr die Frage auf, ob diese Begründung wirklich ausreichte, und ob die jahrelangen Vorwürfe ihrer Töchter vielleicht doch mehr waren als bloße Undankbarkeit, sondern auch durchaus ihre Berechtigung hatten. Dann fühlte sie sich prompt elend, und wenn Marga Bleskjew sich elend fühlte, gab es für sie nur eine einzige denkbare Lösung: Sie betrank sich erneut.
Ihr Hausarzt Doktor Fleck hatte sie immer gewarnt, dass dies auf Dauer nicht gutgehen würde. Oft hatte er ihr kleine Zettel mit Listen von Blutwerten vor die Nase gehalten und ihr streng mit Leberzirrhose gedroht, aber trotz mancher Vorboten wie kleinen Einblutungen oder einer Gelbfärbung der Haut hatte ihr Körper durchgehalten und sich einfach nicht unterkriegen lassen. Im vergangenen Jahr war Fleck dann gestorben. Erst zweiundfünfzig Jahre alt, hatte man ihn tot in seiner Praxis aufgefunden, Herzinfarkt, vermutlich durch beruflichen Stress bedingt. In den seltenen Momenten, in denen ihr Verstand klar genug war, um nicht ständig nur um sich selbst zu kreisen, hatte sie sich gefragt, was ihm in den letzten Minuten seines Lebens durch den Kopf gegangen war. Dass er sich um seine Hundertschaften von Patienten weniger Gedanken hätte machen sollen? Dass er mehr Zeit hätte zu Hause verbringen müssen, bei seiner Frau und seinen Kindern und einer guten Flasche Wein? Seit seinem Tod hatte sie die Leberwerte kein einziges Mal mehr kontrollieren lassen und sie hatte auch nicht Flecks Nachfolger aufgesucht, einen jungen Schnösel mit fettiger Haut, der ihr sicherlich nichts Neues erzählen konnte und den sie vielleicht auch noch überleben würde.
Sie griff nach ihrem Wodkaglas, doch obwohl es bereits das dritte war, kamen ihre Hände nicht zu Ruhe. Verena war bereits früh nach Karlsruhe aufgebrochen und hatte ihr wie immer ein kleines Frühstück bereitgestellt, ein Brötchen mit selbstgemachter Erdbeermarmelade und Kaffee in der Thermoskanne. Sie würde es mühsam herunterwürgen, um dann irgendwann den Fernseher einzuschalten und auf dem Sofa einzuschlafen. Die Tür zur Veranda stand weit offen. Um mit Moses längere Spaziergänge zu unternehmen, fehlte ihr sowohl die Kraft als auch die Lust, und so ließ sie ihn meist hinaus in den Garten, von wo er irgendwann hechelnd zurückgetrottet kam. Sie dachte an ihren morgendlichen Streit mit Verena. Sie habe von all dem genug, hatte ihre Tochter geschrien, und sie würde bei nächster Gelegenheit ausziehen, trotz ihrer Schuldgefühle, sie allein zurückzulassen, aber sie könne das alles nicht länger ertragen.
Diese undankbare Ziege! Die sich nicht in sie hineinversetzen konnte. Die nicht hatte durchleben müssen, was sie durchlebt hatte. Diesen Schock, als alles kaputtgegangen war: ihre Beziehung, ihre Zukunftspläne, ihr scheinbares Glück. Diese Lähmung, die sie anschließend befallen hatte und die seither ihr Leben bestimmte. Natürlich trank sie viel, und natürlich musste sie auf Dauer damit aufhören. Das stritt sie nicht ab. Es zu leugnen, wäre auch wirklich zu lächerlich gewesen. Aber sie würde sich auf keinen Fall erpressen lassen. Eines Tages würde sie mit dem Trinken aufhören. Aber nicht jetzt. Noch war sie nicht so weit. Schon bald würde sie es sein. Und dann, an diesem Tag, würde sie sich vor ihren Töchtern aufbauen und sie höhnisch anlächeln, und die beiden würden sich dafür schämen, es ihr nicht mehr zugetraut und sie schon längst aufgegeben zu haben.
Sie nahm einen Schluck aus dem schweren Glas und starrte auf die offenstehende Terrassentür. Wenn Verena unbedingt gehen wollte, dann sollte sie eben gehen! Sie kam mit Sicherheit auch allein zurecht. Katja, ihre Älteste, hatte sie schon vor Jahren fallengelassen. Auch das hatte sie – wenn auch nur mühsam – mit der Zeit überstanden.
Draußen im Garten war ein kurzes Jaulen zu hören, so kurz, dass sie sich fragte, ob sie es tatsächlich gehört oder es sich nur eingebildet hatte. Ein erschrockenes, schmerzhaftes Winseln, das sie nicht einzuordnen wusste.
»Moses?«, rief sie laut, aber draußen blieb es still.
Auf den alten Schäferhund war gewöhnlich Verlass. Noch nie war er aus dem Garten ausgebüxt, und wenn man nach ihm rief, kam er sofort zurück. Dieses Mal aber blieb er verschwunden.
»Moses?«, rief sie erneut, aber der Hund schien ihren Ruf weiterhin zu ignorieren. »Verdammtes Mistvieh!«, fluchte sie laut, erhob sich mühsam aus dem Sessel und wankte zur Tür.
Schon an der Grenze zwischen Drinnen und Draußen war es drückend heiß. Irgendwo in der Ferne schnurrte ein Rasenmäher, und draußen auf der Straße fuhren Jugendliche mit ihren frisierten Mofas vorbei, was einen höllischen Lärm verursachte, der sicherlich selbst den dümmsten Polizisten misstrauisch werden ließ.
»Moses?«
Als sie ins Freie trat, sah sie ihn. Er lag mitten auf dem Rasen. Fast hätte man denken können, dass er schliefe, aber um ihn herum war das Gras voller Blut. In seinem Hals klaffte ein breiter roter Spalt, den selbst das Fell nicht zu verdecken vermochte. Während sie das Bild erschrocken einzuordnen versuchte, raste etwas auf sie zu. Etwas Breites, Dunkles, was aussah wie ein Brett. Noch bevor sie reagieren konnte, traf der Schlag mit voller Wucht ihr Gesicht. Sie torkelte rückwärts ins Haus und kämpfte erschrocken um ihr Gleichgewicht. In ihrer Mundhöhle kullerten Zähne über die Zunge, und sie hatte das Gefühl zu schielen. Dann zerplatzte die Welt in bunten Farben und von oben schob sich – wie der Vorhang in einem Theater – undurchdringliche Schwärze ins Bild. Über allem der Geschmack von Blut. Allein in der Dunkelheit, war sie überzeugt, bereits tot zu sein, doch obwohl sie sich sicher war, zu schweben und nicht etwa zu fallen, konnte sie spüren, wie sie hart auf dem Boden aufschlug, so hart, dass ihre Schulter knackte.
Als sie die Augenlider hochriss, stand ein Mann in ihrem Wohnzimmer. So als wäre er aus dem Nichts erschienen. Die Tür zur Veranda war zugeschoben, und aus den Lautsprechern der alten Stereoanlage dröhnte laute Musik. Sie hätte schwören können, erst eben in dieser Sekunde zu Boden gegangen zu sein. Aber wer hatte die Musik angestellt? War sie bewusstlos gewesen? Und wenn ja, wie lange? In ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, und die Haut über ihrem Gesicht fühlte sich an, als sei sie plötzlich geschrumpft, so dass ihre Fläche nicht mehr ausreichte, um die Muskeln zu bedecken, und als drohte sie jeden Moment zu reißen.
Sie dachte an den Hund. An seine durchtrennte Kehle. An das viele Blut, das die Halme um ihn herum dunkelrot gefärbt hatte.
Der Mann schaute sie an. Er sah nicht unsympathisch aus, ein Enddreißiger mit blondem Haar und breiten Schultern, der sie nachdenklich musterte. In seiner Rechten hielt er eine Pistole.
»Deine Tochter … wann kommt sie zurück?«, fragte er ruhig.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte sie gereizt zurück. »Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie mich geschlagen?«
Sie bemerkte verwundert, dass sie lispelte. In der oberen Zahnreihe verfing sich ihre Zunge in einer blutigen Lücke.
»Wann kommt sie zurück?«, wiederholte der Mann. In seiner Stimme lag mit einem Mal etwas Bedrohliches, ein gewalttätiger Unterton, der keinen Widerspruch duldete.
»Zwischen vier und fünf. Aber warum wollen Sie das wissen?«, erwiderte sie gequält. Die Musik aus den Boxen hämmerte lautstark auf sie ein, und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Sie drehte sich auf die linke Schulter und spuckte die ausgeschlagenen Zähne auf den Teppichboden.
»Das mit dem Hund tut mir leid«, erklärte der Mann. »Eigentlich mag ich Hunde. Aber es ging nicht anders.«
Vermutlich ein Einbrecher, dachte sie bei sich. Vermutlich sucht er nur nach Geld. Aber warum hatte er so nachdrücklich nach Verena gefragt? Was um alles in der Welt hatte ihre Tochter mit diesem gewalttätigen Schläger zu schaffen?
»Diese Bilder, die hier überall hängen … sind die von ihr?«
»Ja. Sie studiert Kunst. In Karlsruhe.«
»Die sind wirklich gut«, stellte er anerkennend fest.
Sie war verwirrt. Wieso wollte er das wissen? Sollte es etwa um die Gemälde gehen? Sie verwarf den Gedanken, noch bevor sie ihn zu Ende gedacht hatte. Ihr selbst fielen die Bilder kaum noch auf. Verena war zweifellos begabt, aber sie malte fast ausschließlich abstrakt, womit sie persönlich nichts anzufangen wusste. Die Trockenheit in ihrem Hals wurde unerträglich. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein.
»Könnte ich bitte etwas zu trinken haben?«, fragte sie leise.
Der Mann fixierte den Wohnzimmertisch und die halbleere Wodkaflasche. »Du bist Alkoholikerin, nicht wahr?«
»Nein, das bin ich nicht«, protestierte sie – wenig überzeugend. »Es ist nur so, dass ich momentan in einer … äh … persönlichen Krise stecke, aber das werde ich schon bald im Griff haben.« Ihr Blick fiel auf die Pistole. »Das Geld steckt in meinem Geldbeutel. Er liegt dort drüben auf der Kommode. Keine Sorge. Ich werde keinen Widerstand leisten. Sie können alles haben. Sie werden Ihre Waffe nicht brauchen.«
»Mein Vater war auch Alkoholiker.« Die Verachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Und natürlich hat er uns ständig den gleichen Scheiß erzählt wie du. Kein Problem, nur eine kurze Krise, ich werde schon bald mit dem Saufen aufhören, blablabla. Wenn ich dieses Geschwätz höre, könnte ich kotzen. Wegen dem Schnaps hat ihn meine Mutter irgendwann verlassen. Danach hat sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollen. Die einzige Erinnerung, die sie auf Dauer nicht loswerden konnte und die ihr immer wieder schmerzhaft in Erinnerung rief, dass sie sich mit meinem Alten eingelassen hatte, war ich. Als sie sich trennten, war ich gerade zwei Jahre alt und hatte von all dem nicht die blasseste Ahnung. Sie hat es mich dennoch immer spüren lassen: dass sie mich am liebsten auch zurückgelassen hätte. Gemeinsam mit ihm.«
Sie fragte sich, warum er sich nicht maskiert hatte. Sie würde ihn jederzeit problemlos wiedererkennen können. »Das klingt schlimm«, antwortete sie leise.
»Als sie dann nur ein Jahr später auf meinen Stiefvater traf und dieser sie prompt schwängerte, wurde alles noch schlimmer. Denn mit der Geburt meiner süßen und ach so perfekten Schwester sah sie in mir endgültig das, was ich für den Rest meiner Kindheit bleiben sollte: einen ungeliebten Bastard, mit dem sie nichts mehr anzufangen wusste. Als ich gegen diese Zurücksetzung schließlich aufbegehrte und aggressiv reagierte, gab sie mich irgendwann ins Heim. Und dort blieb ich dann auch, bis ich achtzehn war, während meine Stiefschwester zu Hause meinen Platz einnahm und Mutter und die lokale Presse mit Erfolgen im Tennis begeisterte.«
In diesem Moment begriff sie, wer er war. Und dass nicht sie es war, auf die seine Wut sich richtete, sondern dass er sich für Verena interessierte.
»O mein Gott!«, stieß sie entsetzt hervor. Ihr linkes Auge war inzwischen komplett zugeschwollen, und auch das rechte ließ sich nur noch mit Mühe offen halten.
»Ja, genau«, sagte er, als wäre er in der Lage, ihre Gedanken zu lesen. »Ich will gar kein Geld. Ich will deine Tochter.«
Indem er es sagte, griff er nach einem der geblümten Sofakissen und trat dicht an sie heran. Das darf nicht sein, redete sie sich ein. Das darf einfach nicht sein! Ich habe jahrelang nur gelitten. Mein Leben fängt doch gerade erst an!
Er drückte das Kissen von vorn gegen den Lauf der Pistole und hielt ihr beides vors Gesicht. »Sorry. Es ist nichts Persönliches. So wie mit dem Hund. Kollateralschaden sozusagen.«
Wenn sie das hier überleben würde, würde sie nie mehr trinken, schwor sie sich selbst. Nie mehr! Bei allem, was ihr lieb war!
Sie hörte nicht einmal mehr den Knall.