11:05
Das Haus, in dessen Nähe er den Wagen eingeparkt hatte, war seine letzte Chance. Die Wände waren in einem zarten Grünton gestrichen, und der Vorgarten, der es von der Straße trennte, wirkte sorgfältig gepflegt. Selbst der hüfthohe Jägerzaun sah aus, als sei er erst unlängst gestrichen worden. Bürgerliche Harmlosigkeit pur! Konnte das wirklich die richtige Adresse sein? Oder hatte er etwas Entscheidendes übersehen?
Im Autoradio wurden die aktuellen Staumeldungen verlesen, aber seine Gedanken kreisten gehetzt um die Elf-Uhr-Nachrichten. Offensichtlich hatte der Täter eine weitere Frau entführt. Die Schwester einer Polizeibeamtin. Vermutlich befand sie sich schon seit Stunden in seiner Gewalt. Und was das Schlimmste war: Er hatte die Mutter des Opfers getötet.
Warum schon heute? Warum so früh?
War es denkbar, dass die Polizei bluffte? Um ihn aus der Reserve zu locken?
Nein, das war einfach zu absurd!
Romberg hatte Mühe, nicht die Nerven zu verlieren. Aus der Ferne drang das Geräusch der Wellen in seine Ohren, und ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, eine Chilischote mitzunehmen.
Eine Frau tot und eine andere in der Hand des Mörders!
Er hatte versagt! Und er konnte nichts mehr dagegen tun.
Nachdenklich musterte er das Haus. Sein Einbruch in das Haus der fetten Frau und ihres von Schmerzen geplagten Mannes hatte ihn nur insofern weitergebracht, dass er die beiden sicher ausschließen konnte. Nirgendwo ein Hinweis auf ein Verbrechen. Stattdessen ärztliche Atteste und starke Schmerzmittel, welche belegten, dass der Hausherr nicht simulierte und dass er daher die Morde unmöglich begangen haben konnte. Falls Rombergs Erinnerungen an das Kennzeichen zutrafen und falls die Liste vollständig war, blieb somit nur noch eine einzige Adresse übrig. Waren seine Überlegungen aber falsch, würde er dort nichts weiter vorfinden als spießige Normalität. Dann wäre die von seinen Erinnerungen gelegte Spur urplötzlich eine Sackgasse und er völlig frei von Schuld, denn dann gäbe es da nichts, und es wäre auch nie etwas gewesen, was er der Polizei mitteilen konnte.
Aber was, wenn er recht hatte? Dann befände sich im Innern des Gebäudes eine junge Frau, die verzweifelt auf Hilfe hoffte. Die vielleicht gerade jetzt gefoltert und vergewaltigt wurde.
Er musste die Polizei anrufen! Gleich jetzt!
Jede Minute, die er weiterhin abwartete, machte alles nur noch schlimmer. Allein einzudringen war viel zu riskant. Damit würde er das Leben des Opfers gefährden. Das war eine Sache für Profis. Für ein Sondereinsatzkommando.
Im selben Moment klingelte sein Handy. Er schaute auf das Display, erkannte die Nummer und drückte den grünen Knopf.
»Nett, dass Sie anrufen«, sagte er leise.
»Haben Sie die Nachrichten gehört?«, fragte Carmen Mingus streng.
»Ja.«
»Und? Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich denke, ich werde die Polizei anrufen«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Sie denken?« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. Sie schien unter extremem Stress zu stehen. »Hören Sie, Max! Ich kann nicht länger warten. Verstehen Sie? Wenn Sie nicht anrufen, werde ich es tun. Sie lassen mir keine Wahl! Wo stecken Sie überhaupt?«
Er zögerte kurz. »Es tut mir leid.«
»Was?«
»Alles. Dass ich Sie angelogen habe. Die Sache mit Gold. Dass ich erneut versagt habe. Die Entführung. Der Tod dieser Frau. Ich …«
»Schon gut! Sie dürfen auf keinen Fall in Panik geraten! Also heraus mit der Sprache! Wo stecken Sie gerade?«
»Falls ich mich nicht in allem getäuscht haben sollte, genau vor seinem Haus.«
»O mein Gott! Sind Sie denn völlig verrückt geworden? Sind Sie sich sicher?«
»Nicht hundertprozentig. Und genau darin liegt das Problem.«
Dann brach es aus ihm heraus, und er erzählte ihr hastig und ohne sie zu Wort kommen zu lassen vom vergangenen Sonntagmorgen, Carola Lauk, dem Kennzeichen und von Manfred Golds Liste.
»Sie müssen die Polizei anrufen!«, sagte sie – so wie er hörbar außer Atem.
»Ja, ich weiß. Als Sie mich anriefen, wollte ich gerade die Nummer wählen.«
Noch bevor sie antworten konnte, öffnete sich mitten in der grünen Vorderfront des Hauses die Tür. Der Mann, der ins Freie trat, war groß und blond. Wie das Gebäude, das er bewohnte, sah er freundlich und harmlos aus. Wie jemand, dem derart grausame Verbrechen niemals zuzutrauen wären. Aber gleichzeitig gab es da auch etwas, was diesen Eindruck widerlegte, ein Detail, das Rombergs Puls schlagartig ansteigen ließ.
»Verdammt!«
Er kannte den Mann.
Es war der Mann auf dem Video. Der gemächliche Jogger, der tags zuvor zwei Mal an seinem Haus vorübergelaufen war. Oder sahen sich die beiden nur verblüffend ähnlich?
»Was ist los?«, fragte Carmen Mingus besorgt.
»Er kommt gerade raus.«
»Wer?«
»Der Mörder.«
Der Mann öffnete das kleine Eingangstor, trat auf die Straße und ging mit eiligen Schritten davon.
Wo geht er hin?, fragte sich Romberg verblüfft. Schon hoffte er, dass sich ihm die Gelegenheit böte, in Abwesenheit des Blonden in das Haus einzubrechen und sich ohne Risiko Klarheit zu verschaffen. Doch bereits nach etwa fünfzig Metern blieb der Mann stehen, genau vor einem Zigarettenautomaten, wo er prüfend das Sortiment begutachtete.
»Was tut er?«, wollte Carmen Mingus wissen.
»Er holt sich Zigaretten.« Der Mann trug Jeans, T-Shirt und Sandalen. Keine Möglichkeit, eine Waffe zu verstecken. »Momentan ist er unbewaffnet.«
»Tun Sie es nicht!«, beschwor ihn Carmen Mingus. Ihre Stimme klang schrill.
Der Mann hatte inzwischen gefunden, was er suchte, und begann, den Automaten mit Münzen zu füttern.
Er darf auf keinen Fall zurück ins Haus, schoss es Romberg durch den Kopf. Sollte da drin tatsächlich eine Frau sein, musste er um jeden Preis verhindern, dass er zu ihr zurückkehren konnte. Wenn er sich mit seiner Geisel im Haus verschanzte, konnte selbst eine Sondereinheit scheitern. Gerade jetzt trug er keine Waffe. Eine einmalige Chance!
»Ich brauche dreißig Minuten. Wenn ich mich bis dahin nicht bei Ihnen gemeldet habe, können Sie die Polizei anrufen. Bitte! Nur noch weitere dreißig Minuten!«
War er es wirklich? Die Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Video war in der Tat frappierend. Aber er musste sich absolut sicher sein. Wenn er irrtümlich einen Unschuldigen tötete, würde ihn das endgültig zerbrechen.
»Das ist völlig unmöglich!«, schrie sie in die Leitung.
»Bitte!«, sagte er erneut. Dann nannte er ihr die Adresse und legte hastig auf.
Der Mann bückte sich, nahm sich eine Zigarettenpackung aus dem Fach und richtete sich wieder auf. Romberg stieg aus dem Wagen, legte sich den Riemen seiner Umhängetasche über die rechte Schulter und überquerte ohne Hast die Straße. Mit der linken Hand hielt er sich weiterhin das Handy ans Ohr. Gleichzeitig ließ er die rechte Hand in das Innere seiner Tasche gleiten und suchte nach der Waffe. Auf der anderen Straßenseite angekommen, wandte er sich nach links. Sie liefen nun frontal aufeinander zu. Der Blonde schaute ihn misstrauisch an.
»Der Film soll echt gut sein«, sprach Romberg laut in das Handy.
Die Belanglosigkeit der Bemerkung schien den Mann zu beruhigen. Er nickte Romberg freundlich zu. Seine Nase war deutlich geschwollen und dunkelblau verfärbt. So als hätte er sich erst kürzlich geprügelt.
»Ja, genau! Mit Leonardo DiCaprio.«
Als sie schon fast auf gleicher Höhe waren, zog Romberg die Pistole aus der Tasche. Die Mimik des Mannes wurde starr, und er blieb abrupt stehen.
»Eine falsche Bewegung und du bist tot«, sagte Romberg – erstaunt über die Kälte in seiner Stimme.
Der Mann starrte entsetzt auf die Waffe »Was soll das? Sind Sie verrückt geworden?«
Romberg steckte das Handy in die linke Hosentasche. »Ich bin wegen einer gemeinsamen Bekannten hier«, stellte er sachlich fest. »Carola Lauk. Der Name ist Ihnen bekannt, nehme ich an.«
Aus dem Gesicht des Mannes war mit einem Mal jegliche Farbe gewichen. »Natürlich. Wem nicht? Die Nachrichten sprechen seit Tagen von ihr. Aber ich verstehe nicht. Was habe ich damit zu tun?«
Romberg verspürte den übermächtigen Wunsch, sich umzuschauen und zu prüfen, ob sie von irgendjemandem beobachtet wurden. Aber er ließ den Mann nicht aus den Augen. Er senkte die Pistole so weit ab, dass sie wieder in der Stofftasche verschwand, aber immer noch auf den Mann gerichtet war.
»Ich bin Nummer Zwei.«
Die Verblüffung seines Gegenübers wirkte absolut echt. Eine Mischung aus Bewunderung und Fassungslosigkeit. »Wow! Aber …« Er schien nur zögernd zu begreifen. »Aber Sie denken doch nicht ernsthaft, ich … Nein … oder doch?«
»Ich glaube schon.«
»Sie halten mich für Nummer Eins? Sind Sie denn völlig von Sinnen? Wieso?«
»Was ist mit Ihrer Nase passiert?«
Der Blonde zögerte kurz. »Mit meiner Nase. Ach das. Eine Auseinandersetzung mit einem Betrunkenen. Beim Public Viewing.«
»Wir sollten ins Haus gehen.«
»Um was zu tun?«
Wenn er tatsächlich Nummer Eins war, dann spielte er seine Rolle extrem überzeugend.
»Hausbegehung. Sollten Sie tatsächlich unschuldig sein und sollten wir im Haus nichts Verdächtiges finden, dann werden wir umgehend die Polizei verständigen, und Sie können mich wegen Nötigung verklagen. Versprochen! Sollten wir aber das vorfinden, was ich vermute, dann wird die Mordserie hier und jetzt enden. Auf keinen Fall aber werde ich zulassen, dass Sie nochmals Ihr Haus betreten, ohne das zuvor geklärt zu haben.«
»Sie machen einen furchtbaren Fehler«, versicherte ihm der Mann.
»Mag sein«, sagte Romberg. »Aber an diesem Punkt gibt es für uns beide längst kein Zurück mehr. Wenn Sie unschuldig sind und kooperieren, wird Ihnen nichts geschehen. Sollten Sie aber versuchen, mich hereinzulegen, werde ich, ohne zu zögern, schießen. Wie ist Ihr Name?«
»Lörs. Kurt Lörs.«
»Okay, Kurt. Wir werden jetzt beide gemeinsam zur Haustür gehen. Schön langsam, unauffällig und ohne hektische Bewegungen. Meinen Sie, das werden Sie schaffen?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Leider nein.«
Er dachte an die drei Abschiedsbriefe, welche er auf seinem Esstisch zurückgelassen hatte. Anscheinend hatte er sich zu viele Sorgen gemacht. Alles lief erstaunlich glatt. Dass ihm Nummer Eins unbewaffnet vor den Lauf tapsen würde, hatte er nicht erwartet. Kurt Lörs drehte sich vorsichtig um und lief dann langsam vor ihm her, zu dem kleinen Gartentor und quer durch den Vorgarten bis vor die verglaste Eingangstür.
»Der Schlüssel ist in meiner Hosentasche«, sagte Lörs.
»Mit Daumen und Zeigefinger«, befahl Romberg barsch.
Lörs gehorchte und brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein. In spätestens zwanzig Minuten würde Carmen Mingus die Polizei informieren. Falls sie sich an seine Vorgaben hielt. Falls nicht, so waren die ersten Streifenwagen bereits unterwegs.
Lörs’ Hände zitterten, und es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, den passenden Schlüssel ins Schloss zu stecken. Da er die Tür nicht abgeschlossen hatte, reichte eine halbe Umdrehung aus. Ein leises Knacken war zu hören, und die Tür schwang auf. Lörs blieb zögernd stehen.
»Weiter!«, fuhr Romberg ihn an.
»Ich mache mir gleich vor Angst in die Hosen«, entschuldigte sich Lörs. »Die ganze Zeit warte ich nur darauf, dass sich versehentlich ein Schuss löst und meine Eingeweide zerreißt.«
Er will herausfinden, ob ich die Waffe entsichert habe, dachte Romberg.
»Keine Sorge! Die Waffe ist nicht mehr gesichert, aber noch habe ich meine Finger bestens unter Kontrolle. Also los! Gehen Sie ins Haus!«
Lörs trat ins Innere des Hauses. Dann ging alles sehr schnell. Während er den linken Fuß auf den Boden aufsetzte, trat er mit dem rechten rückwärts gegen die Tür. Noch bevor Romberg realisierte, was vor sich ging, schlug die verglaste Fläche auch schon hart gegen die Umhängetasche. Er verkrampfte die Finger, um keinen Schuss auszulösen. Als die Tür ins Schloss zu fallen drohte, warf er sich mit aller Wucht dagegen.
Verflucht!
Als die Tür laut gegen die Wand des Flurs knallte, sah er Lörs rennen. Er riss die Waffe aus der Tasche und legte an, zögerte aber kurz, so dass es Lörs gelang, sich abzuducken und durch eine Türöffnung zu huschen. Als Romberg endlich den Abzug betätigte, war nur noch Lörs Hintern zu sehen. Der Knall war ohrenbetäubend. Die Kugel schlug in ein Ölbild ein, welches auf der Stirnseite des Flurs die Wand bedeckte.
Der durch den Knall hervorgerufene Schock war gewaltig, aber Romberg stemmte sich innerlich dagegen an und rannte los.
Er hatte es vermasselt! Er hatte es tatsächlich vermasselt!
Wenn er Lörs nicht stoppte, bevor er das Mädchen erreichte, würde er sie töten oder sie zumindest als Geisel nehmen. In den Nachrichten war davon die Rede gewesen, dass der Mörder bei Johanna van Ahsen eine Waffe gefunden hatte. Romberg blieb kurz vor der Türöffnung stehen, lauschte, schob – wie es ihm Gold gezeigt hatte – mit einer schnellen Bewegung Kopf und Schultern zur Seite und suchte sofort wieder Deckung. Für Sekundenbruchteile sah er Lörs, der mit gestreckten Armen in seine Richtung zeigte. Noch während sein Oberkörper in die ursprüngliche Position zurückschnellte, brachte ein lauter Knall die Luft zum Beben. Splitter flogen umher, und dort, wo sich eben noch Rombergs Kopf befunden hatte, klaffte im Holz des Türrahmens eine eindrucksvolle Kerbe.
Romberg ließ sich in die Hocke fallen, streckte die abgeknickte Hand weit nach vorn und schoss zwei Mal blind um die Ecke. Erst als er die Hand bereits wieder zurückgezogen hatte, schoss auch Lörs. Die Kugel schlug hart in den Verputz ein, aus dem sich ein großer Brocken löste und krachend zu Boden fiel.
Romberg sprang wieder hoch in den Stand, machte einen entschlossenen Seitwärtsschritt nach links und versuchte, die Arme durchzustrecken. Gold hatte ihn gewarnt, dass diese Haltung unter extremem Stress aufgrund der Anspannung der Armmuskulatur kaum möglich sei. Als er sah, dass Lörs versuchte, auf allen vieren krabbelnd eine Tür zu erreichen, schoss er erneut. Die Kugel verfehlte ihr Ziel nur knapp und schlug in eine an der Wand stehende Kommode ein.
Mit einem lauten Aufschrei warf Lörs sich herum, ließ sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen fallen und zielte sitzend auf Romberg, der es gerade noch schaffte, sich hinter die Wand zu flüchten. Lörs schoss drei Mal, und auch Romberg schob erneut die Hand nach vorn und gab in rascher Folge vier Schüsse ab. Dann wurde es still.
Er holte schwitzend Luft. Lörs war kein harmloser Unschuldiger. Lörs war zweifellos Nummer Eins.
Romberg dachte an die Tür. Vermutlich führt sie nach unten in den Keller.
Verflucht!
Reiß dich zusammen!, schwor er sich ein, schnappte nochmals nach Luft und lugte vorsichtig um die Ecke.
Die Tür, vor der Kurt Lörs eben noch gesessen hatte, stand weit offen. Der weißlackierte Rahmen war blutverschmiert. Lörs selbst war verschwunden.
Durch die Fenster wehte eine salzige Brise in den Flur. Romberg konnte deutlich das Rauschen der Wellen hören.
Lörs war unterwegs zu dem Mädchen.