06:23
Selbst im Erdgeschoss des Hauses war es drückend heiß. In der Küche goss er Apfelsaft in ein Glas, füllte es bis zum Rand mit Mineralwasser auf und trank es in einem Zug leer. Sofort schwitzte er noch mehr. Er war völlig außer Atem. Unmittelbar über seinem Steißbein ein Schmerz, als hätte man ihm einen Nagel zwischen die Wirbel getrieben. Carola Lauk wog keine sechzig Kilo, aber während er sie aus dem Kofferraum gezerrt und auf seine Schultern gewuchtet hatte, war ihm schmerzhaft klargeworden, dass sein untrainierter Körper ihm diesen Kraftakt nicht vergeben würde. Hinter den Schläfen pochte laut hörbar sein Puls, und sein Magen krampfte sich zusammen, als wollte er sich übergeben.
Durch die Lamellen der Jalousie hindurch spähte er hinaus auf die Straße, wo noch immer niemand zu sehen war. Falls ihn in der vergangenen halben Stunde jemand beobachtet haben sollte, so hätte der Augenzeuge inzwischen die Polizei verständigt, und in Kürze würde sich eine schwerbewaffnete Spezialeinheit aufmachen, um das Haus zu stürmen. Sie würden mit einem Transporter kommen, diesen in sicherer Entfernung parken und die letzten zweihundert Meter zu Fuß bewältigen. Schwer bewaffnet und durch schusssichere Westen geschützt würden sie sich anschleichen und lautlos an die Außenwände gepresst eine günstige Gelegenheit abwarten. Vermutlich würden sie ein Endoskop einsetzen, vielleicht auch eine Wärmebildkamera, auf jeden Fall aber Tränengas. Und natürlich auch Schockgranaten, die einen Knall hervorriefen, der derart laut war, dass er alle Gedanken übertönte, so dass man nicht mehr auf sie zugreifen konnte und nur noch blöde und wie gelähmt reagierte. Dies alles mit dem Ziel, jegliche Gegenwehr auszuschließen und ihn möglichst rasch kampfunfähig zu machen. Der Mann, den sie suchten, galt als gefährlich. Sie würden daher nicht zögern, ihre Schusswaffen einzusetzen. Er tat also gut daran, keinerlei Widerstand zu leisten und einen ruhigen und kooperativen Eindruck zu vermitteln. Nicht dass er den Tod fürchtete, aber wenn sie ihn erschießen würden, ohne dass ihm die Möglichkeit einer Erklärung bliebe, würden sie zwangsläufig in ihm den Täter sehen und ihre Mutmaßung der Presse übermitteln, und er würde fortan als Frauenmörder gelten, und vielleicht würde der wahre Schuldige gar seine Chance nutzen und davonkommen und man würde stattdessen ihn beschuldigen und ihn als Scheusal in Erinnerung behalten – womöglich sogar für immer.
Carola Lauk lag auf dem Küchenboden und blickte zur Decke. Als er ihrem Blick folgte, entdeckte er mehrere staubige Spinnweben, was ihm fast ein wenig peinlich war. Auch ihre Nacktheit wurde ihm zunehmend unangenehm. Sie war sehr schön. Dass er nicht aufhören konnte, sie anzustarren, war angesichts der Situation verständlich. Schließlich war sie das Opfer einer grausamen Gewalttat geworden. Aber da war noch irgendetwas anderes, was ihn sich selbst gegenüber misstrauisch werden ließ. Sein Blick fiel auf den hölzernen Messerblock mit den scharfen japanischen Messern, die ihn vor Jahren ein Vermögen gekostet hatten. Er konnte Carola unmöglich hier liegen lassen, völlig nackt inmitten der Küche, umgeben von Messern und Küchengeräten, so dass die hereinstürmenden Polizisten zwangsläufig den Eindruck gewinnen mussten, sie hätten ihn im letzten Moment davon abgehalten, den Körper in kleine Portionen zu zerstückeln.
»Warte hier! Ich will nur kurz etwas holen«, rief er ihr zu.
Er stieg über die Treppe hinauf in das Obergeschoss und betrat das Schlafzimmer. In dem großen Schrank mit den Schiebetüren, den Marens Kleidung noch immer vollständig auszufüllen schien, fand er, was er suchte: Ein hellgrünes, knielanges Sommerkleid, mit großen Blumen bedruckt, und ein weißes Baumwollhöschen, das sie meist beim Sport getragen hatte.
Was hast du jetzt vor?
Auch Maren in seinem Kopf.
Erinnerungen, die einsam nach einem Zuhörer suchen, wie Carmen Mingus es auszudrücken pflegte. Nichts weiter als laute Gedanken. So als würden Sie sich ständig mit sich selbst unterhalten, aber nichts, über das Sie sich ernsthaft Sorgen machen müssten.
»Keine Ahnung«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Ich will ihr erst einmal etwas anziehen. Nur für den Fall, dass ich beobachtet wurde und gleich die Polizei aufkreuzt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?«
Und falls niemand kommt … was tust du dann?
Er erschrak. Diese Möglichkeit hatte er überhaupt noch nicht in Betracht gezogen. »Ich werde sie kühlen müssen. Es ist noch früh am Morgen und doch schon unglaublich warm. Wenn ich sie nicht kühle, dann wird sie …« Er hielt inne.
Verwesen? So wie ich?
»Ja«, antwortete er heiser. »So wie du.«
Wenn er über die verwelkte Pflanze hinweg aus dem Fenster schaute, konnte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite das Nachbarhaus erkennen. Zwei Quadratmeter der weißen Fassade wurden von einer Deutschlandfahne bedeckt. Die Stadt quoll über von solchen Fahnen. Sie schienen überall zu sein, so als müsse man sich etwas beweisen. Fremde Fans waren kaum im Land, insofern ging es nur um die Deutschen selbst, um die Demonstration von Stolz. Stolz, derjenige zu sein, der man ist. Ein Gefühl, das ihm fremd geworden war.
Marens Stimme war inzwischen verstummt. Sie konnte ihm eh nur in Situationen weiterhelfen, für die er selbst die Lösung kannte, und ihm nur jene Antworten liefern, die ihm wenig später ebenfalls eingefallen wären. Er lächelte. Selbst Halluzinationen stoßen zuweilen an ihre Grenzen.
Er musste sich beeilen.
Über die knarrenden Treppenstufen hetzte er hinab ins Erdgeschoss. Er ließ sich auf die Knie fallen, griff nach dem Höschen, streifte es über Carolas Füße und entlang der Beine bis zu den Oberschenkeln. Das Eigengewicht presste die Haut fest gegen den Küchenboden. Um den Stoff nicht zu zerreißen, musste er eine Handbreit über den Knien innehalten.
Verflucht!
Er griff nach Marens Kleid, stülpte es wie einen Reif über die kalten Füße und schob es bis dicht an das Höschen heran. Dann griff er über Carolas Brüste hinweg nach der rechten Schulter und kippte den Körper nach links. Slip und Kleid lagen jetzt so weit frei, dass sie sich bis zum Becken weiterbewegen ließen. Anschließend ließ er das Mädchen zurück auf den Rücken sinken, krabbelte auf allen vieren über sie hinweg, ergriff ihre linke Schulter und zog sie erneut zu sich heran, so dass sie auf der rechten Seite zu liegen kam. Ein dicker Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn, fiel senkrecht nach unten, zerplatzte auf Carolas Brust und zerfloss zu einer Pfütze. Auch seine Brille geriet bedrohlich ins Rutschen. Ihr Hintern und der Rücken waren mit blauen Flecken übersät. Unverkennbare Zeichen des Todes. Auf ihrem Hintern erkannte er mehrere kreisförmige Geschwüre, wie er sie zuletzt bei seinem Vater gesehen hatte, kurz vor seinem Tod, als er sich in einem Klinikbett wundgelegen hatte. Angewidert zog er an den Kleidungsstücken. Das Höschen war nun dort, wo es hingehörte, das grüne Kleid aber lag wie ein zerknitterter Wulst um Carolas Hüften geschlungen. Er ließ sie in die Rückenlage kippen, suchte hektisch nach den Spaghettiträgern, steckte die Hände hindurch, krabbelte bis dicht neben ihren Kopf und schob beide Hände flach unter ihre Schultern. Mit aller Kraft richtete er sie auf. Während er seine eigene Schulter gegen ihr Gewicht anstemmte und verhinderte, dass sie nach hinten fiel, glitten seine Hände an ihrem leblosen Rücken hinunter bis zu dem zusammengeknüllten Kleid. Der Schmerz in seiner Wirbelsäule wurde unerträglich, und Schweiß tropfte salzig in sein linkes Auge.
Komm schon!
Er griff keuchend nach vorn, hob das Kleid bis über ihre Brüste und positionierte beide Träger auf ihren Schultern. Dann legte er den Körper vorsichtig ab, drehte ihn zur Seite und schloss den Reißverschluss. Als er sie losließ, drehte sie sich ohne sein Zutun in die Rückenlage und fixierte die Spinnweben.
Er stand auf und blickte erschöpft aus dem Fenster. Mitten auf seinem rechten Brillenglas hing massig ein Schweißtropfen, was die Umgebung unscharf werden ließ. Draußen fuhr ein roter Fiat vorbei. An beiden Dachleisten flatterten schwarzrotgelbe Fahnen. Am Steuer erkannte er einen Mann mit kurzen Jogginghosen. Nichts Verdächtiges. Was nichts zu bedeuten haben musste, denn natürlich war ein Sondereinsatzkommando darin geübt, erst dann sichtbar zu werden, wenn es für das Zielobjekt zu spät war, um noch irgendwie reagieren zu können.
Er drehte sich um. Als er Carola so daliegen sah, in Marens schönstem Sommerkleid, durchflutete ihn ein Gefühl tiefer Genugtuung. Was er tat, war völlig verrückt, und vermutlich würde er schon bald dafür büßen müssen, aber er hatte es trotz allem getan, und er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte sie in Sicherheit gebracht. Nach Hause. Zu ihm.
Er ging hinüber zur Espressomaschine und legte ein Pad ein. Als die rote Lampe aufhörte zu blinken, drückte er den mittleren Knopf. Die kleine Tasse füllte sich gurgelnd mit Wasser.
Jetzt konnten sie kommen.
Er holte er sich eine Zigarette vom Küchentisch und gab sich Feuer. Dann griff er nach der Tasse, setzte sich auf den Barhocker nahe dem Fenster, lehnte sich zurück und wartete.