13:30

Sebastian Lauk musterte nachdenklich die Tabletten, die vor ihm auf dem Esstisch lagen. Insgesamt dreiundneunzig Stück. Er hatte sie säuberlich in drei Reihen angeordnet, zwei rote und eine blaue, gleich lang und gewollt parallel. Die Exaktheit der Anordnung verlieh den bunten Pillen eine besondere Ästhetik. Sie wirkten wie kleine schöne Perlen, und es war kaum zu glauben, dass sie sich im Innern seines Körpers rasch zu einer breiigen Masse auflösen würden.

Performance des Todes, dachte er bitter.

Er hatte schon seit Wochen keine Galerie mehr betreten. Auch keine Kunstausstellung oder irgendein Museum. Anna und er hatten die Kunst geliebt. Früher. Bevor es geschah. Auch Carola, die zuweilen gemurrt hatte, weil man sie allzu oft genötigt hatte, an derartigen Exkursionen teilzunehmen, hatte sie mit der Zeit zu schätzen gewusst. Seit Carolas Verschwinden aber wirkte das alles auf ihn nur noch absurd. Der Gedanke, ein Museum zu besuchen und stundenlang an Bildern vorbeizuschlendern, erschien ihm jetzt, in Erinnerung der Toten, fast schon obszön. Eine Freude zu empfinden, an der Carola nicht teilhaben konnte, war für ihn unvorstellbar. Über allem, was er früher zu schätzen gewusst hatte, schien nunmehr eine dünne Schicht zu liegen, die ihn – unsichtbar, aber undurchdringlich – davon abhielt, zu der Schönheit der Dinge vorzustoßen. Wenn er heute etwas anschaute, was ihn früher beeindruckt hätte, wusste er zwar immer noch zu sagen, was diese Bewunderung einst hervorgerufen hätte, und natürlich auch, warum. Das Gefühl selbst aber blieb hartnäckig aus. Selbst seine Lieblingsspeisen schmeckten ihm nicht mehr. Nicht dass ihn der Geschmack abgestoßen hätte. Nein, es war viel schlimmer: Seit Wochen schmeckte alles gleich.

Er schaute sich um. Die Wohnung war aufgeräumt, er selbst frisch geduscht und gekämmt. Er trug eine leichte Stoffhose und ein weites Kurzarmhemd, das er im vergangenen Jahr von Kreta mitgebracht hatte. Sein Lieblingshemd. Vor drei Stunden hatte er zuletzt etwas getrunken und vor einer Viertelstunde noch einmal gründlich die Blase geleert. Auch das Abführmittel, welches er am Vorabend geschluckt hatte, hatte am Morgen prompt seine Wirkung getan. Es mochte lächerlich sein, aber der Gedanke, nach seinem Tod mit nassen und vollgekackten Hosen aufgefunden zu werden, war ihm peinlich.

Er füllte das große Glas bis zum Rand mit Wasser und zündete sich eine Zigarette an. Einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, war überflüssig. Jeder würde seine Motive verstehen. Warum also sollte er sie mühsam in Worte fassen? Eine Weile lang saß er nur so da. Rauchend. Als die Glut schon beinahe den Filter erreicht hatte, klingelte es an der Tür.

O nein, nicht jetzt, dachte er. Wütend drückte er den Rest der Zigarette in den Aschenbecher. Eine Sekunde lang überlegte er, ob er das Klingeln einfach ignorieren sollte. Dann entschied er sich anders und ging mit eiligen Schritten zum Flur. Im selben Moment, als er die Tür aufriss und Lena Böll erblickte, ging es ihm besser. Warum dies so war, konnte er sich selbst nicht erklären. Eigentlich hätte er eher erschrocken zusammenzucken müssen. Aber das Gegenteil war der Fall.

»Hallo«, sagte sie und schaute ihn prüfend an.

»Hallo«, gab er verhalten zurück.

»Wie geht es Ihnen?«, wollte sie wissen.

»Danke der Nachfrage. Um ehrlich zu sein: Es ging mir schon besser. Anna ist weg. Um über uns und alles andere nachzudenken. Was – wie Sie sich vorstellen können – im meiner gegenwärtigen Situation nicht unbedingt aufmunternd wirkt.«

»Das tut mir leid«, sagte sie, und er war versucht, ihr Glauben zu schenken. Ihr Blick ruhte ruhig auf seinem Gesicht, wie zufällig, aber ihm war klar, dass sie versuchte, seine Gemütslage einzuschätzen.

»Ja. Mir auch.« Er schaute sie misstrauisch an. »Was tun Sie überhaupt hier? Soviel ich weiß, beginnt in einer halben Stunde die Pressekonferenz.«

»Stimmt. Aber ich dachte, ich nehme mir dennoch die Zeit, um kurz bei Ihnen vorbeizuschauen. Darf ich reinkommen?«

Er dachte an die Tabletten auf dem Esstisch. »Nun … das … das ist im Moment eher ungünstig.«

Sie machte keine Anstalten zu gehen. »Wieso? Haben Sie die Wohnung verwüstet?«

»Nein … aber … ach was … kommen Sie rein! Aber bitte nach links. Gehen wir doch in die Küche.«

»Okay«, sagte sie und folgte brav seinen Anweisungen.

»Sie kommen doch bestimmt nicht nach Schwetzingen gefahren, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen?«, fragte er neugierig.

»Nein, das nicht. Aber schlechte Nachrichten habe ich auch nicht zu vermelden.«

Er spürte, wie sein Herz stolperte. Hatten sie Carola nun doch noch gefunden? Kam sie vorbei, um ihn in die Leichenhalle zu zitieren? Oder hatten sie endlich den Mörder festgenommen? Ab vierzehn Uhr wurde im Regionalfernsehen die Pressekonferenz übertragen. Zweifellos war sie vorbeigekommen, um ihn vorab zu informieren. Aber über was?

»Nummer Zwei hat geschrieben«, fuhr sie fort. »Ich habe den Brief heute Morgen in Ihrer Post gefunden. Und ich dachte, bevor Sie es nachher aus dem Fernsehen erfahren, erfahren Sie es besser von mir. Schließlich ist der Brief an Sie gerichtet.«

Sie zog ein Kuvert aus der Tasche und streckte es ihm entgegen. Er ließ sich geschockt auf einen der Stühle fallen und griff zitternd nach dem Brief.

»Könnte ich – während Sie lesen – vielleicht kurz Ihre Toilette benutzen?«

»Ja, natürlich«, antwortete er wie in Trance. »Die Tür gegenüber.«

»Danke«, sagte sie und verschwand aus der Küche.

Sebastian Lauk hatte Mühe, die Hände ruhig zu halten, also ergriff er das Schreiben mit beiden Händen gleichzeitig. Der Text klang wie ein Märchen. Wie eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Er las ihn mindestens drei Mal. Als Lena Böll zurückkehrte und sich ebenfalls setzte, fiel die Anspannung der letzten Tage wie ein schwerer Kokon von ihm ab. Carola lag in einer Tiefkühltruhe. Auf Decken und Kissen gebettet und mit einem Kuscheltier im Arm. Wie eine Prinzessin in einem uralten Märchen. Nur dass sie den vergifteten Apfel nicht mehr ausspucken und nie wieder aufwachen würde. Auch würde kein Prinz auftauchen, um sie auf sein Königsschloss zu holen und sie ihr Leid für immer vergessen zu lassen. Das hatte sie schon getan. Carola war tot. Und mit ihr auch ihre Erinnerungen an die Demütigungen und den Schmerz und ihre Trauer und ihre Angst. Für immer. Tot. In einer Tiefkühltruhe. Bei jemandem, der sie zu sich nach Hause geholt hatte und der ihm versicherte, sie respektvoll zu behandeln.

»Es ist seltsam«, sagte er schließlich mit zitternder Stimme. »Meine Tochter ist tot, und ich weiß immer noch nicht, wo sie ist. Aber gerade jetzt könnte ich weinen vor Glück.«

»Weil Sie nun endlich Gewissheit haben, dass sie davor sicher ist, weiterhin gequält und geschunden zu werden?«

»Ja«, antwortete er heiser. Dass sie seine Gründe nachvollziehen konnte, wunderte ihn längst nicht mehr. In mancher Hinsicht mochte sie ein herzloses Raubtier sein, aber was ihr Einfühlungsvermögen anbelangte, war sie ohne Zweifel brillant. »Glauben Sie, er wird sein Versprechen einlösen und uns Carola zurückgeben?«

»Ja. Schon bald. Und wenn sie gegenwärtig in einer Tiefkühltruhe liegt, wird sie noch immer aussehen wie früher, und Sie werden sie noch einmal sehen und in den Arm nehmen können.« Ihre Stimme klang so eindringlich, dass sich die Haut seiner Arme unversehens zu einer Gänsehaut kräuselte.

»Das wäre schön«, sagte er und dachte an die dreiundneunzig bunten Todesengel, die im Wohnzimmer auf ihn warteten.

»Es muss schlimm für Sie gewesen sein zu glauben, Ihre Tochter sei nach ihrem Tod nochmals einem Perversen in die Hände gefallen.«

»Ja, das war es wirklich. Es war unerträglich«, stieß er erschöpft hervor. »Dieser Mann, Nummer Zwei, warum – glauben Sie – tut er das?«

Sie schaute ihn forschend an. »Ich glaube, er wollte ihr einfach nur helfen. Ich glaube, er hat genau das Gleiche durchgemacht wie Sie.«

»Wie ich?« Was sie sagte, klang verrückt, aber er begriff fassungslos, dass es wahr sein musste. »Sie denken, er hat sein Kind verloren? Genau wie ich?«

»Ja.«

»Aber … wie?«

»Darüber kann ich bis jetzt nur spekulieren. Aber es war zweifellos ein gewaltsamer Tod.«

»Aber wie kommen Sie darauf? Davon steht nichts in dem Brief.«

»Profiling«, erwiderte sie lächelnd. »Schon vergessen? Das ist mein Job.«

In Sebastian Lauks Kopf wurde eine Lawine losgetreten, die ihn mitriss und unter sich zu begraben drohte. Gleichzeitig fühlte er sich plötzlich unglaublich ruhig.

»Genau wie Sie muss er Furchtbares durchgemacht haben«, setzte sie nach. »Und ich denke, indem er Ihr Kind zu sich nach Hause in Sicherheit brachte und sie anzog und kämmte und sie vor den Blicken der Öffentlichkeit bewahrte, beglich er eine alte Rechnung mit sich selbst. Ich glaube, wenn es notwendig wäre und wenn es wirklich dazu käme, würde er sich für Carola in Stücke reißen lassen.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Sebastian Lauk sichtbar gerührt. »Wird er sich bei mir melden?«

»Möglich. Vielleicht bei Ihnen. Vielleicht bei uns. Jedenfalls wird er Ihnen Ihre Tochter nicht dauerhaft vorenthalten. Es sei denn, ihm stößt etwas zu.«

»Ihm stößt etwas zu?«, sagte Lauk und kam sich allmählich blöd vor, ihre Sätze wie ein Papagei nachzuplappern.

»Ja. Wenn der Mörder ihn doch noch findet. Daher möchte ich Sie dringend bitten, das, was ich über Nummer Zwei gesagt habe, vorerst für sich zu behalten. Nur das mit dem Verlust seines eigenen Kindes und seiner persönlichen Schuld. Verstehen Sie? Nur für sich!«

Er nickte schwach. »Versprochen. Ich werde Anna nichts davon sagen. Werden Sie den Brief auf der Pressekonferenz verlesen?«

»Ja. Anna wird somit alles Wichtige erfahren.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Als er nach ihr griff, war sie weich und warm. Ich kann sie spüren, dachte er erstaunt, ich kann sie tatsächlich spüren.

»Auf Wiedersehen, Herr Lauk«, sagte sie und wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um.

»Da wäre noch etwas.«

»Ja?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Nummer Zwei sich vor Jahren in einer ganz ähnlichen Krise befunden hat wie jetzt Sie. Vermutlich dachte auch er, das alles nicht überstehen zu können. Vermutlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als zu sterben. Um seine vermeintliche Schuld keinen Tag länger ertragen zu müssen. Aber am Ende hat er sich wohl anders entschieden. Hätte er damals nicht durchgehalten, wäre niemand dem Mörder in die Quere gekommen, und man hätte Ihre Tochter wie die anderen Frauen schon kurz darauf gefunden. Nackt und allein. In irgendeinem Waldstück. Können Sie mir folgen?«

Aus seinem Mund schien schlagartig jegliche Feuchtigkeit gewichen zu sein. »Ich denke schon. Sie versuchen, mir klarzumachen, dass er nur deshalb für Carola da sein konnte, weil er sich damals in seiner Trauer nicht vorschnell aufgegeben hat.«

»Genau.«

Er lächelte. »Sie sind wirklich gut«, sagte er.

»Leider nicht gut genug«, sagte sie und wandte sich nach rechts. Als sie aus dem Türrahmen verschwunden war und ihm nichts blieb als der Blick auf die Tapete im Flur, erschien ihm ihr Treffen mit einem Mal wie ein merkwürdiger Traum.

Aber es war kein Traum! Carola war tot. Carola lag in einer Tiefkühltruhe. Und schon bald würde er sie wiedersehen. Er dachte an die Tabletten auf dem Esstisch. Und an den Rest seiner Abschiedszigarette im Aschenbecher. Beschwingt stand er auf, ging in den Flur und überwand mit großen Schritten die paar Meter bis zum Wohnzimmer.

Als sein Blick auf den Esstisch fiel, waren die Tabletten verschwunden. Dort, wo sie gelegen hatten, lag nun ein weißer Zettel. Als er vorsichtig näher trat, erkannte er ihre Schrift. Und die Ziffern einer Handynummer, die er bereits kannte. Und darunter in säuberlichen Buchstaben ein einziges Wort:

Jederzeit!